Vorgeblättert

Leseprobe zu Vladimir Zarev: Familienbrand. Teil 3

02.03.2009.
"Nur mittelgroß?" Herr Alexiev reckte sich. Über seine Stirne floss der
Schweiß des Unwillens. "Schlecht, mein Lieber, seeehr schlecht! Ich habe Sie eingestellt als arbeitslosen, aber intelligenten jungen Mann. Scheinbar waren Sie nur arbeitslos. Ihr Vorgänger, das war einer! Ein gealterter Clown." Er zog sein mehrfach benutztes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich geräuschvoll hinein. "Der hatte Gesichter drauf, mit denen er die Leute immer zu den stattlichsten Steinen bewegen konnte. Und Sie kommen mir hier dauernd mit Ihrem 'mittelgroß'. Das hört sich ja schon unanständig an! Es wird Zeit, dass Sie begreifen, dass die Leute mir nicht einfach so billig wegsterben können, sondern anständig für ihren Tod zahlen müssen! Sollten Sie das nicht begreifen, dann werden Sie wohl bald wieder arbeitslos sein und haben dann genügend Zeit, ebenfalls an Ihrer Intelligenz zu zweifeln!"

"Aber ich habe den Leuten erklärt ?"

"Kein 'aber'!" Herr Alexiev senkte den Kopf. Seine Stirnglatze glänzte.
"Peter Karagjulev ist der reichste Tabakhändler des Landes. Die diesjährige Ernte war ausgezeichnet. Und die gesamte deutsche Armee im Lande ist verrückt danach, zu rauchen. Verstehen Sie jetzt?"

"Verstehe."

In Alexievs Büro roch es immer nach Herbst. Assen fühlte, wie ihn ein
Schwindel überkam. Alexiev hatte zwei wohlbeleibte Töchter, die er eilends unter die Haube bringen wollte, doch wie sollte er ihnen eine anständige Aussteuer mitgeben, wenn die Sterblichkeit neuerdings zu wünschen übrigließ, und viele Industrielle und Diplomaten im Ausland starben? (Was zumindest bei Ersteren auch der Regierung zu verdanken war, die als Hitlers williger Verbündeter zuerst die jüdischen und dann auch andere Vermögen konfiszierte.) In den Stadtrandvierteln Konjoviza und Banischora sah es zahlenmäßig besser aus; aber diese Leute starben an Krankheiten oder Hunger und brachten kaum Umsatz. Assen bemühte sich, sein Angestelltenlächeln dennoch zu halten. Dabei wurde er von dem kleinen Amor unterstützt, der den dümmlichen Blick eines vorzeitig gealterten Babys hatte. Aus dem "Atelier" im Erdgeschoss war das vibrierende Quietschen einer Bandsäge zu hören.

"Wiederholen Sie laut zwanzigmal", fuhr Alexiev wütend fort und fand endlich Zuflucht hinter seinem Schreibtisch: "Reiche Leute sterben seltener, weil es weniger davon gibt! Und wie jedes knappe Gut ist der Tod eines Reichen von unschätzbarem Wert!"

Assen war am Vortag bei den Karagjulevs gewesen. Er hatte zuvor eigens seine Anzughosen gebügelt, und vielleicht war er nur deshalb überhaupt in den Hausflur vorgelassen worden. Dort wurde er dann erst einmal eine halbe Stunde inmitten der Eichenholztäfelung vergessen. Eine reinrassige Dogge beobachtete mal ihn, mal sein Spiegelbild mit triefendem Blick, in der Hoffnung, er möge doch eine falsche Bewegung machen. Schließlich erschien, gleichsam aus den Tiefen der Zeit, eine alte Frau. Es waren keine Spuren von Trauer oder Übernächtigung an ihr festzustellen. Doch sie sah und hörte offenbar nicht mehr gut. Das silberne Hörrohr, dessen Trichter sie gegen den Spiegel hielt, als befände sich darin nicht nur Assens Abbild, sondern auch sein Abklang, sah so teuer aus, dass sich jede Stimme für sie wie eine Orgel anhören musste. Doch dem war nicht ganz so.

"Sie sind Begattungsdozent?" Sie tätschelte ihrem Rasseköter liebevoll das Nackenfell.

"Nein, Bestattungsagent, gnädige Frau. Das Institut 'Alexiev & Sohn'
überbringt Ihnen sein aufrichtiges Beileid."

"Aha, Tabakagent ? Nein, heute empfangen wir leider nicht."

Doch die Preise verstand sie, als Assen sein Sprüchlein aufsagte, sehr wohl - wie ein erfahrenes Regimentspferd, das vielleicht ansonsten taub sein mochte, aber die Trompete nie überhörte. Sie wankte unbeholfen, wog im Kopf ab zwischen der Wertschätzung für ihren Bruder und dem Bestreben, dem Verstorbenen gefällig zu sein, der sie stets ermahnt hatte, nie verschwenderisch mit Geld umzugehen, dann sagte sie mit unerwartet jugendlicher Stimme:

"Mittelgroßer Grabstein mit Engel. Der Engel bitte mit sehr weit geöffneten Flügeln. Ja, das wär?s!"

Assen war verpflichtet, nachmittags noch einmal vorbeizugehen, um das Nötige zu besprechen; doch um achtzehn Uhr desselben Tages musste er auch sauber am vereinbarten Bestimmungsort im Justizpalast sein, um von jenem zu hören: "Richter Ankov hat hier kein Zimmer!"

"Sie brauchen mich nicht hinauszugeleiten, verehrte gnädige Frau", sagte Assen, als er sich zum Gehen wandte, hatte aber eher den Riesenhund im Sinn, der schon die Ohren anlegte und danach zu dürsten schien, seine überschüssige Energie zu verausgaben.

"Sie haben eine gute Stimme", meldete sich Herr Alexiev. Der Stuhl unter seinem massigen Leib stöhnte knarrend auf. "Will sagen, eine durchdringende Stimme. Überhaupt scheinen Sie ein bis zur Aufdringlichkeit hartnäckiger Mensch zu sein."

"Danke sehr für das Kompliment."

Alexiev heftete seinen finsteren Blick auf das Fenster, durch das er die Brandmauer der Lagerhalle sah, kaute an seinen Nägeln, biss ab und spuckte das Erbeutete in den Papierkorb. Dann massierte er sich die Schläfen, seufzte - vom Leben schwer geprüft - tief auf wie ein ehrbarer Witwer. Dann huschte ein freudiges Lächeln über seine Gesichtszüge, als er sagte:

"Toromanov ist verstorben, der Besitzer des Konditorei-Cafes 'Bulgaria'. Toromanov gehört, finanziell gesehen, zum Mittelstand; aber er hat einen unbestrittenen Beitrag zum Leben der hauptstädtischen Hautevolee geleistet. Sehen Sie, und darum muss hier ein prunkvolles Begräbnis für uns herausspringen, hören Sie? Prägen Sie sich das Wort prunkvoll bitte ein, das ist ein sehr nützliches Wort für Polsterer und Bestattungsagenten. Die Adresse lassen Sie sich bitte von Fräulein Pastuchova geben."

Assen verbeugte sich so tief, dass sein Hemd beinahe aus allen Nähten platzte. Auf der ausgetretenen Treppe wehte ihn der erfrischende Duft eines öffentlichen Pissoirs an. Auf dem Weg nach unten ins Atelier, wo die Handwerker entweder pfiffen oder sich über das Kupon-System für die Zuteilung von Nahrungsmitteln beklagten, musste er grundlos lachen. Die Werkstatt hatte riesige Fenster, so dass dort selbst die Fichtenholzsärge wirkten wie Buntstiftkästen für Schulkinder.

5

Mit ihrer Spitzenschürze und ihrem weißen Häubchen glich die Hausangestellte fast einer Krankenschwester. Sie geleitete ihn durch den Hausflur, der mit Hirschgeweihen und den Hauern erlegter Keiler dekoriert war, die Toromanov sein Lebtag gesammelt hatte, neben Rezepten für duftende Tinkturen, exotische Cremen-Kreationen und Schokoladenfüllungen, aus denen er seine in ganz Europa berühmt gewordene Spezialität, die Garasch-Torte, entwickelt hatte. Das Hausmädchen ließ ihn allein im Salon zurück. Vergoldete Engelchen und bronzene Jäger standen herum. Kaminuhren verdichteten die Luft. Ihr Ticken wirkte wie der Herzschlag der Statuette einer enthüllten Venus und eines sterbenden Zentauren. Assen wartete darauf, dass die alte Dame hereinkam, und repetierte schon einmal seine vorgefertigte kleine Rede, unpersönliche Worte, mit denen "Alexiev & Sohn" sein Beileid auszudrücken pflegte.

Die Tür öffnete sich geräuschlos, und eine unterirdische Kühle strömte herein. Doch vor ihm stand nicht etwa die schwerhörige alte Frau, sondern - sein Vetter Goscho Pantov Weltschev. Er glättete sein Haar gerade unter einem weißlichen Seidenstrumpf und trug ein schwarzes Trauerbändchen am Revers. Sein Blick gemahnte an den eines großen Strategen. Hinter ihm betrat eine junge Frau in Trauer den Raum. Assen hatte keine Zeit, sich seiner Überraschung hinzugeben, denn er musste sich der unerwarteten Situation stellen. Doch er erinnerte sich spontan, wie Georgi - es musste jetzt zehn Jahre her sein - versucht hatte, ihn zu hypnotisieren. Damals hatte Assen sich Stunde um Stunde im Plüschsessel festhalten lassen, nur um länger den Duft der fetten Suppe einatmen zu können, der aus der Küche kam. Währenddessen hatte Goscho ihn mit feuchten Augen, aus denen weniger stählerne Bannkraft als vielmehr Willenlosigkeit und Gemüt sprachen, angeschaut und mit der langsamen Stimme eines Schamanen wiederholt: "Du bist weggetreten, ganz weg, jetzt gehst du nach draußen, du steigst durch das Fenster hinaus ? Jetzt bist du auf dem Hof ? Kannst du sehen, was Frau Hadschipentscheva macht?" Und Assen hatte sich immer hypnotisiert gestellt und mit seiner Kinderstimme gesagt: "Sie wäscht die langen Unterhosen ihres Mannes."

In diesem langen Augenblick hatte die Verblüffung bereits alle Anwesenden erfasst, so dass jeder der leisesten Andeutung zutraute, Zeichen von etwas Außerordentlichem zu sein. Schließlich machte die junge Frau eine Bewegung, bei der die Falten ihres Kleides in Schwingungen gerieten, schaltete die Kristallleuchter an, und das geschliffene Glas nahm die Farbe weicher Meerestiere an.

"O, mon dieu!", sagte Goscho gedehnt und mit der unvergesslichen Aussprache seiner Mutter. Assen fühlte sich wie ein neu erworbenes teures Dekorationsstück, geeignet, den nachmittäglichen Kopfschmerz des Französischkönners für eine Weile zu zerstreuen. "Du warst also der Bestattungsagent heute Morgen! Wie ich mich freue ?"

Sie nahmen Platz um ein Tischchen, das im Stil der Wiener Secession
gearbeitet war. Goscho begann zu rauchen und vertiefte sich mit Genuss in seine selbstproduzierten Rauchwolken. Dazu ließ er die Gelenkknochen seiner Finger knacken.

Mit freundlicher Genehmigung des Deuticke Verlages

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