Vorgeblättert

Leseprobe zu Yu Hua: Brüder. Teil 3

30.07.2009.
Peinlich berührt und mit roten Ohren reckte Dichter Zhao den Hals und erklärte trotzig: "Das war ja bloß ein Vergleich."
     "Genau!", ergänzte Schriftsteller Liu. "Jedenfalls wirst du von einem Dichter und einem Schriftsteller abgeführt. Sagen wir eben: von Guo Moruo und Lu Xun."
     Mit diesem Vergleich waren die Zuschauer einverstanden - immerhin hatten ja diese Literaten beide ihre Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Auch Glatzkopf-Li nickte. "Das kommt schon eher hin", sagte er.
     Seine beiden Bewacher aber vermieden jetzt weitere literarische Vergleiche und gingen dazu über, mit dick aufgetragener moralischer Entrüstung Glatzkopf-Lis Unsittlichkeit anzuprangern. Die vielen Gaffer, die Li am Straßenrand sah - manche kannte er, manche nicht -, reagierten je nach Temperament mit Gekicher, Gejohle oder Gelächter auf die Darlegung der Zusammenhänge, die die zwei nicht müde wurden, immerfort zu wiederholen, in ihrem Berufsethos mindestens so untadelig wie heutzutage die Moderatoren im Fernsehen. Ihre "Stargäste", die zwei verbliebenen Frauen, die Glatzkopf-Li ausgespäht hatte, sekundierten ihm dabei, indem sie das passende Mienenspiel beisteuerten, das mal Wut, mal Kränkung, mal beides zusammen erkennen ließ.
     Eine der beiden Frauen - die mit dem ausladenden Hintern - stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus, denn sie hatte unter den Schaulustigen ihren Mann entdeckt. Sie schluchzte wie auf Kommando los und rief ihm zu: "Er hat meinen Po gesehen! Und wer weiß, was sonst noch! Hau ihm ein paar hinter die Löffel!"
     Alle Gaffer schauten höchst amüsiert zu dem bedauernswerten Gatten hin, der mit rotem Kopf und gerunzelter Stirn dastand, aber nichts dergleichen tat, sodass Dichter Zhao und Schriftsteller Liu sich bemüßigt sahen einzugreifen. Als würfen sie einem Hund einen Fleischknochen vor, zerrten sie ihren Gefangenen vor den Mann, begleitet von dem Gezeter der schluchzenden Ehefrau mit dem mächtigen Hintern, die ständig ihre lautstarke Aufforderung wiederholte, Glatzkopf-Li zu verprügeln.
     "Meinen Hintern hat noch nie jemand anders gesehen als du!", schrie sie. "Außer diesem Wüstling hier! Nur zwei Menschen auf der ganzen Welt haben meinen Hintern gesehen. Was soll ich bloß machen? Du musst ihn verprügeln! Steh hier nicht rum, gib ihm Saures! Wegen ihm hast du dein Gesicht verloren!"
     Die Umstehenden johlten los, und sogar Glatzkopf-Li kicherte ein bisschen. Nicht wegen mir verliert er sein Gesicht, dachte er, sondern wegen seiner fettärschigen Frau.
     Der war seine Heiterkeit nicht entgangen. "Guck mal! Guck bloß mal!", kreischte sie. "Der Kerl grinst auch noch! Freut sich über seinen gelungenen Coup! Verprügele ihn, mach schon! Oder willst du das etwa auf dir sitzen lassen?"
     Bei dem Mann handelte es sich um den in Liuzhen stadtbekannten Schmied Tong, in dessen Werkstatt Glatzkopf-Li als kleiner Junge oft zugesehen hatte, wie beim Schmieden des Eisens die Funken stoben. In diesem Moment jedoch war Schmied Tong vor Wut noch grauer im Gesicht als das Eisen, das er täglich bearbeitete. Er holte mit seiner gewaltigen Pranke aus, als hätte er ein Schmiedestück vor sich, und versetzte Glatzkopf-Li eine schallende Ohrfeige. Der ging sofort zu Boden. Diese Strafe ging ihm denn doch nahe. Nicht nur, dass er Sterne sah und sein Gesicht im Nu anschwoll - er verlor auch zwei Zähne und sollte noch ein halbes Jahr lang unter Ohrensausen leiden. Wenn mir noch einmal der Arsch einer Schmiedegattin unterkommt, schwor er sich, können sie mir sonst was bieten - ich mach die Augen ganz fest zu und gucke weg!
     Nachdem Glatzkopf-Li seine Prügel bezogen hatte, setzten Dichter und Schriftsteller ihre Prozession mit dem völlig verschwollenen, aus der Nase blutenden Delinquenten fort. Sie zogen im Kreis durch die Straßen der Stadt und waren schon dreimal an jenem Polizeirevier vorbeigekommen, ohne Glatzkopf-Li den Gesetzeshütern zu überantworten, obwohl diese jedes Mal neugierig vors Tor getreten waren, um zu schauen, was es da draußen Aufregendes zu sehen gäbe. Doch Dichter Zhao, Schriftsteller Liu und die beiden Ärsche - einer fett, einer mager - drehten weiter unermüdlich ihre Runden mit Glatzkopf-Li, bis am Ende der an frisches Fleisch erinnernde Fettarsch die Lust verlor und auch der magere Pökelarsch nicht mehr laufen mochte. Nachdem die beiden Arschgeschädigten heimgegangen waren und Dichter und Schriftsteller mit ihrem Gefangenen noch eine letzte Runde gemacht hatten, waren auch sie so kreuzlahm und hatten sich zudem so heiser geschrien, dass sie Glatzkopf-Li endlich doch auf dem Polizeirevier ablieferten.
     Alle fünf Volkspolizisten des Reviers liefen zusammen und begannen, Glatzkopf-Li zu verhören. Nachdem sie zunächst die Namen der fünf betroffenen Frauen ermittelt hatten, befragten sie ihn zu jedem einzelnen Namen beziehungsweise Hintern einzeln, ausgenommen blieb lediglich der Kinderpopo. Das Ganze wirkte weniger wie ein Verhör als vielmehr wie ein Gespräch unter Männern. Als Li in seinem Geständnis auf den Hintern von Lin Hong zu sprechen kam (so hieß die Besitzerin jenes weder zu dicken noch zu dünnen Knackarsches), hingen die fünf Vopos förmlich an seinen Lippen, als ob er eine spannende Geistergeschichte erzählte.
     Jenes knackärschige Mädchen war nämlich eine stadtbekannte Schönheit, und jeder von den fünf Polizisten hatte ihren hübschen Hintern durch die Hose hindurch schon einmal abtaxiert, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dasselbe hatten im Übrigen auch zahlreiche andere Männer der Stadt getan. Der Einzige jedoch, der ihren Hintern leibhaftig, ohne Hosen!, zu Gesicht bekommen hatte, war Glatzkopf- Li. Natürlich packten daher die fünf Vopos die Gelegenheit beim Schopfe und befragten ihren Arrestanten besonders penibel. Als Glatzkopf-Li auf Lin Hongs straffe Haut und das sich darunter abzeichnende Steißbein zu sprechen kam, leuchteten ihre Augen plötzlich auf wie Lampen, die gerade jemand angeknipst hat, nur um sogleich wieder zu verlöschen, als er hinzufügte, weiter habe er nichts gesehen. In ihrer offensichtlichen Frustration schlugen sie auf den Tisch und brüllten ihn an: "Das war doch noch nicht alles! Nur wer gesteht, kann mit Milde rechnen! Verstockte trifft die ganze Härte des Gesetzes! Also - was hast du noch gesehen?"
     Angstschlotternd gestand Glatzkopf-Li, er habe sich noch ein Stückchen weiter hinabgelassen, um zu ergründen, wie Lin Hongs Schamhaare aussehen - und die Stelle, wo sie wachsen. Die Vopos lauschten mit angehaltenem Atem, denn vor lauter Angst sprach er nur ganz leise. Freilich war die Geistergeschichte schon wieder zu Ende, ehe der Geist endlich seinen Auftritt hatte. Denn Glatzkopf-Li sagte aus, er habe Lin Hongs Schamhaar letztlich doch nicht zu sehen bekommen, weil Dichter Zhao ihn im entscheidenden Moment am Schlafittchen kriegte. "Es fehlte nur ein ganz kleines Stückchen ...", schloss er bedauernd.
     Als er seinen Bericht beendet hatte, kam von den fünf Polizisten zunächst keine Reaktion. Nach wie vor hingen sie wie gebannt an seinen Lippen. Erst als die sich nicht mehr bewegten, ging ihnen auf, dass auch dieser Geschichte die Pointe fehlte. Die Gesichter der fünf verrieten ihre Enttäuschung: Sie erinnerten an hungrige Esser, die mit ansehen müssen, wie die gebratene Ente ihnen vom Teller fliegt. Einer der Vopos machte seinem Ärger Luft: "Konnte dieser Zhao nicht hübsch zu Hause bleiben und Gedichte schreiben? Wieso muss der Kerl immerzu aufs Klo rennen?"
     Als die Polizisten das Gefühl hatten, sie würden Glatzkopf-Li keine weiteren Details entlocken, beschlossen sie, ihn von seiner Mutter abholen zu lassen. Der Junge hatte ihnen gesagt, sie heiße Li Lan und arbeite in der Seidenfabrik. Einer der Vopos ging auf die Straße hinaus und rief, ob jemand von den Passanten eine gewisse Li Lan kenne, die Li Lan aus der Seidenfabrik. Nachdem er seine Frage fünf oder sechs Minuten lang wiederholt hatte, geriet er endlich an jemanden, der auf dem Weg zur Seidenfabrik war. Li Lan möge zum Revier kommen und ihren ungeratenen Sohn abholen, ließ ihn der Polizist ausrichten.
     Den ganzen Nachmittag musste Glatzkopf-Li auf dem Revier ausharren wie eine Fundsache, die darauf wartet, dass sie vom Besitzer abgeholt wird. Während er auf der Besucherbank saß, beobachtete er das durch das Portal einfallende Sonnenlicht. Zuerst war die Lichtfläche auf dem Zementestrich so groß wie das Türblatt, aber dann wurde sie immer schmaler, bis sie nur noch so breit wie ein Bambusrohr war und schließlich ganz verschwand.
     Er ahnte nicht, dass er inzwischen eine Berühmtheit war. Jeder, der am Polizeirevier vorbeikam, ging schnell mal hinein, um einen Blick auf diesen Kerl zu werfen, der da in der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspionierte. Wenn gerade kein Neugieriger anwesend war, kam der eine oder andere Vopo, der die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte, zu Glatzkopf-Li hinüber, schlug auf den Tisch und schrie ihn an: "Hast du wirklich nichts mehr zu gestehen? Überleg's dir gut!"
     Glatzkopf-Lis Mutter erschien erst nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Revier. Sie hatte extra so lange gewartet, weil sie Angst hatte, die Leute auf der Straße würden mit Fingern auf sie zeigen. Fünfzehn Jahre zuvor hatte schon Glatzkopf-Lis Vater auf dieselbe unsägliche Art Schande über sie gebracht, und jetzt goss auch noch der Sohn Öl ins Feuer!
     Als sie am Abend, mit Kopftuch und Mundschutz maskiert, so unauffällig wie möglich das Polizeirevier betrat und ihren Sohn dort sitzen sah, wandte sie die Augen vor Schreck gleich wieder ab. Dann stand sie völlig verschüchtert vor dem Vopo, der eigentlich schon längst Dienstschluss hatte, und sagte ihm mit zitternder Stimme, wer sie sei. Der Polizist schnauzte sie wutentbrannt an, was sie sich eigentlich dabei gedacht habe, so spät zu erscheinen. "Es ist acht Uhr, verdammt noch mal! Ich hab noch keinen einzigen Bissen im Bauch! Und ich wollte ins Kino gehen! Da stürz ich mich ins Getümmel an der Kasse, schiebe, stoße, trete, schimpfe, bloß um dieses Scheißticket zu ergattern - und jetzt? Jetzt könnte ich ein Flugzeug chartern und würde es trotzdem nur noch zum Abspann schaffen. Auf Wiedersehen in Ihrem Filmtheater! - Scheiße auch!"
     Glatzkopf-Lis bedauernswerte Mutter ließ diese Schimpfkanonade geduldig über sich ergehen und nickte zu jedem einzelnen Vorwurf des tobenden Vopos, bis der am Ende schrie: "Verdammt noch mal, hören Sie endlich auf zu nicken! Machen Sie, dass Sie fortkommen! Ich will hier zusperren."
     Als Glatzkopf-Li mit seiner Mutter auf die Straße trat, huschte sie mit gesenktem Kopf an den Rand des Fußweges, wo das Licht der Straßenlaternen nicht hinkam, während er selbst großspurig die Arme schwenkend hinterherging, als wäre überhaupt nichts passiert. Man hätte meinen können, nicht er habe in der Toilette gespannt, sondern seine Mutter. Zu Hause angelangt, verschwand sie ohne ein Wort in ihrem Zimmer. Auch nachdem sie die Tür geschlossen hatte, kam von drinnen kein Laut. Mitten in der Nacht hatte Glatzkopf-Li im Schlaf das unbestimmte Gefühl, sie stehe vor seinem Bett und zöge seine heruntergerutschte Decke zurecht, wie sie es für gewöhnlich tat.
     Mehrere Tage lang sprach Li Lan kein Wort mit ihrem Sohn. An einem regnerischen Abend brach sie endlich ihr Schweigen. "Wie der Vater, so der Sohn!", sagte sie unter Tränen. Im Dunkel hinter der funzeligen Lampe sitzend, erzählte sie Glatzkopf-Li mit zu der düsteren Beleuchtung passender Grabesstimme, wie sein Vater bei dem Versuch, Frauenhintern auszuspionieren, ertrunken war. Wie sie zuerst gedacht habe, sie müsse sich aufhängen, weil sie den Leuten nie wieder ins Gesicht sehen könne, und wie sie es dann wegen ihres weinenden Wickelkindes doch nicht getan habe. Hätte sie damals gewusst, sagte sie, dass er auch so ein Ferkel sein würde, wäre der Tod wirklich besser gewesen.


Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

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