Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alexander Stille: Citizen Berlusconi. Teil 2

16.01.2006.
Wer jedoch Berlusconi einfach als einen größenwahnsinnigen Narziss charakterisiert, verfehlt das, was das eigentlich Interessante und Bedeutsame an ihm ist. Bei den meisten anderen Menschen würden solche Persönlichkeitsmerkmale eine schwerwiegende, ja ­fatale Schwäche darstellen, da sie sie zu einer gravierenden Fehleinschätzung ihrer eigenen Stärke und zur Unterschätzung ihrer Gegner verleiten und ein katastrophales Scheitern heraufbeschwören würden. Das Außerordentliche an Berlusconi ist hingegen, dass er seine Fähigkeit, die Realität umzudeuten, wenn nicht in eine Tugend, dann doch in eine außerordentliche Stärke transformiert hat: Er weigert sich schlichtweg, sich von Grenzen oder Hindernissen bremsen zu lassen, und hat eine unglaubliche Fähigkeit entwickelt, andere zu seinen eigenen "Wahnvorstellungen" zu bekehren. Berlusconi glaubt, die Welt drehe sich um ihn - die narzisstische Fantasie par excellence -, aber er hat es geschafft, die Realität gemäß dieser Fantasie zu gestalten, mit dem Ergebnis, dass sich zumindest die italienische Welt weitgehend um ihn dreht. Macht ihn dies zu einem größenwahnsinnigen Traumtänzer oder zum Super-Realisten?
     Auch wenn Berlusconi keineswegs zur Selbstreflektion neigt - und nie zugeben würde, dass er eine verzerrte Realitätswahrnehmung hat -, ist ihm dieser Aspekt seiner eigenen Psyche durchaus bewusst. Er bezeichnet sich selbst oft als einen "Visionär" und wird nicht müde, darauf hinzuweisen, das für ihn wichtigste Buch aller Zeiten sei Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit. Er ließ einmal sogar auf eigene Kosten eine Ausgabe dieses Buches, einschließlich einer von ihm selbst verfassten Einleitung, drucken und überreicht guten Kunden gerne ein Exemplar als Geschenk.

Was mich an Erasmus fasziniert hat, war insbesondere die zentrale These über Torheit als lebenswichtige, schöpferische Kraft. Der Erneuerer ist schöpferischer, insofern als seine Inspiration aus der Tiefe der Irrationalität kommt. Die revolutionäre Intuition wird fast immer als Mangel an gesundem Menschenverstand, ja sogar als absurd wahrgenommen. . . . Wahre Weisheit liegt nicht in ­einem rationalen Herangehen, das zwangsläufig auf die bekannten Rezepte beschränkt bleibt und daher steril ist, sondern in einer klarsichtigen, visionären Verrücktheit.

Nur allzu gern bezeichnet Berlusconi die diversen Durchbrüche, die er in seinem Leben erzielt hat, als "Wunder"; sein größtes Talent bestehe darin, das unmöglich Scheinende möglich zu machen. "Niemand ist ein größerer Träumer als ich, aber ich bin ein praktischer Träumer, denn anders als die meisten Menschen erfülle ich mir meine Träume", sagte er einmal. Sein Leben war und ist denn auch aus seiner Sicht eine Serie von Wundern, die er mittels einer Kombination aus Willenskraft, Mut, außerordentlicher Einfühlungsgabe und der Fähigkeit, in großen Dimensionen zu denken, selbst möglich gemacht hat.
     Es ist gewiss überzogen, die Leistungen und Erfolge Berlusconis als "Wunder" zu bezeichnen, aber seine erstaunlichen Erfolge haben mindestens teilweise mit seiner Fähigkeit zu tun, konträre Gesichtspunkte und negative Aspekte der Wirklichkeit auszublenden. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit, verleiht ihm aber offensichtlich auch Flügel.
     Beim Nachdenken über Berlusconis seltsames Verhältnis zur ­Faktenwahrheit dämmerte mir, dass die Begegnung mit ihm mir eine tief reichende anthropologische Diskrepanz vor Augen geführt hatte. Dass für mich Dinge wie Genauigkeit im Umgang mit ­Fakten, das Dokumentieren von Aussagen, die Orientierung an objektiven Wahrheiten so wichtig sind, gehört zu meinem Rüstzeug als Journalist, als Mann des gedruckten Wortes, zum verschrobenen, naiven und altmodischen Credo eines durch Gutenberg und die Aufklärung geprägten Zeitalters; Berlusconi dagegen ist das Geschöpf einer anderen Ära, der Ära des Fernsehens und der Massenmedien, in der es im Wesentlichen nur noch auf Image und Wahrnehmung ankommt. Berlusconi ist nicht nur ein Geschöpf, sondern zugleich auch ein Mitschöpfer der postmodernen Welt, in der es nicht mehr entscheidend ist, was tatsächlich passiert ist, sondern an welche Version dessen, was passiert ist, die Leute glauben. "Verstehst du nicht", machte er einmal einem seiner engsten Berater klar, "dass etwas, das nicht im Fernsehen läuft, nicht existiert? Kein Produkt, kein Politiker, keine Idee." Und weil über die Dinge, auf die ich ihn ansprach - seine Interessenskonflikte, die Gesetzesverstöße, die ihm und seinen Partnern vorgeworfen wurden und werden (und die in vielen Fällen zu Verurteilungen geführt haben) -, im italienischen Fernsehen nicht berichtet worden ist, kann er sie als nicht existent abtun.

Schöpfer von Mythen

     Eine an den Tatsachen orientierte Biografie Berlusconis zusammenzustellen, ist schon wegen der Vorliebe des Protagonisten für die Schaffung von Mythen in eigener Sache schwierig. Vieles von dem, was wir über seine frühen Jahre wissen (oder zu wissen glauben), stammt von ihm selbst oder aus einer eigenartigen hagiographischen Literatur, die sich zum Teil wie eine für die Gegenwart eingerichtete Version des Lebens der Heiligen liest. Das berühmteste Buch dieser Gattung ist Una Storia Italiana, die reich bebilderte 125-seitige Wahlkampfbiografie, die Berlusconi an praktisch alle 21 Millionen italienische Haushalte schicken ließ, was ihn nach Schätzungen zwischen einigen Dutzend Millionen und 80 Millionen Euro gekostet haben dürfte.
     Silvio Berlusconi kam 1936 zur Welt. Er selbst schildert seine frühe Kindheit am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Kriegsjahren als eine Zeit der Not und Entbehrung. Tatsächlich war sein Vater Luigi kein armer Schlucker, sondern ein Bankangestellter, der es bis zum Direktor einer Mailänder Bank brachte. Dass der Krieg für die Familie Berlusconi Entbehrungen mit sich brachte, wie für fast alle italienischen Familien, ist nicht zu bezweifeln. Während der eineinhalb Jahre dauernden deutschen Besatzungsherrschaft in Italien setzte sich Berlusconis Vater in die Schweiz ab, um sich dem Dienst in der faschistischen italienischen Armee zu entziehen, die an der Seite Hitlers kämpfte.
     Was Berlusconi über seine jungen Jahre im Italien der Nachkriegszeit schreibt, erinnert in vieler Beziehung an die sentimentaleren Filme des italienischen Neorealismus, wie Vittorio de Sicas Das Wunder von Mailand oder Fahrraddiebe, nur dass seine Geschichte ein Happyend hatte. Diesem Selbstporträt zufolge standen Berlusconis frühere Jahre im Zeichen von Familie, Kirche und Fußball. Sonntagmorgens gingen Vater und Sohn Hand in Hand zur Messe, und auf dem Heimweg besorgten sie einen Nachtisch für das wunderbare Sonntagsmahl, das Mamma Rosa gekocht hatte. "Mamma erwartete uns zuhause in der Küche, wo sie das Sonntagsessen zubereitete, das einzige, das wir im Esszimmer einnahmen, mit dem spitzenverzierten Tischtuch und einem Blumenstrauß in der Mitte." Am Nachmittag gingen Vater und Sohn ins Fußballstadion, wo sich der junge Silvio an der Kasse "ganz klein" machte, um freien Eintritt zu bekommen und der Familie etwas von ihrem schwer verdienten Geld einzusparen. Sowohl der alte als auch der junge Berlusconi waren treue Fans des AC Milan. "Nachdem wir über mein Lernpensum und die Schule gesprochen hatten, begannen wir sofort über Milan zu diskutieren, als sei es die Inkarnation unserer Träume, unserer Utopien. 'Wir werden gewinnen, Papa, du wirst es sehen. Wir müssen gewinnen', als wären wir beide kurz davor, selbst auf das Spielfeld zu laufen." Vielleicht sollte man die spätere Übernahme des AC Milan durch Berlusconi nicht als einen Akt persönlicher Eitelkeit deuten, sondern als eine nachträgliche Liebeserklärung an den Vater, dem er auf diese Weise die Siege hoffte schenken zu können, von denen die beiden in jenen schweren, mageren Jahren nach dem Krieg nur hatten träumen können.
     "Mamma Rosella" wird in der illustrierten Biografie als eine Art wiedergeborene Madonna porträtiert (wie jede gute italienische Mutter). Wir erfahren, dass Silvio ihr an ihrem
     Berlusconis Schilderung seiner Schulzeit in einem Internat der Salesianer erinnert an die Klassiker der italienischen Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts: Strenge, aber wohlmeinende Lehrer treten darin auf und fleißig lernende Schüler mit einem allzu menschlichen Hang zu Schelmenstreichen.

Dies waren keine einfachen Jahre. Wir büffelten viel, am Nachmittag, am Abend nach dem Essen, frühmorgens . . . Der liebe Pater Olmi begann den Tag damit, uns lateinische und griechische Grammatik in die Köpfe zu hämmern. Wir wurden jeden Tag abgefragt, und so gab es keinen Ausweg, und am Ende konnten wir diese Konjugationen und Deklinationen wirklich auswendig. . . . Mit unseren Klassenkameraden verband uns ein perfektes Verständnis und eine große Menschlichkeit, die durch unsere Herkunft bedingt war. Untere Mittelschicht, würden die Soziologen heute wohl sagen.

Una Storia Italiana war ein strategisches Produkt mit zweifacher Zielsetzung. Auf der einen Seite sollte das Buch Silvio Berlusconi, den reichsten Mann Italiens, als einen Mann aus dem Volk erscheinen lassen, zumindest als einen idealisierten Archetyp des Italieners von nebenan - aus bescheidenem Arbeitermilieu kommend, bereit, Opfer zu bringen, Sprössling einer strengen, aber liebevollen Familie, einer, der tut, was er sagt, der seinen Eltern treu ergeben und zugleich tatkräftig und unternehmenslustig ist und der zwar gelegentlich über die Stränge schlägt, aber sich letzten Endes brav der Obrigkeit (Eltern, Lehrer, Kirche) unterordnet. Auf der anderen Seite bemüht sich der Text, Berlusconi als ein außerordentliches Talent zu porträtieren, als einen, der von Anfang an zum Supermann bestimmt war. "Er ist tatkräftig, manchmal hartnäckig, aber charismatisch: In der Klasse ist er der Führer", verrät uns Una Storia Italiana. "Und er zeigt einen entschiedenen Hang zum Praktischen: Er wird mit seinen Hausaufgaben vor allen anderen fertig und hilft dann seinen Klassenkameraden, die langsamer oder nicht so fleißig sind. Zur Belohnung ein bisschen Geld. Aber wenn der Klassen­kamerad nicht mindestens ein ' ausreichend' bekommt, geht das Geld zurück. Schon lange vor der Maxime: 'Der Kunde bekommt sein Geld zurück, wenn er nicht voll und ganz zufrieden ist.'"

Die ersten Wunder

     In seinen Erzählungen aus seiner Jugendzeit und seinen frühen Jünglingsjahren betont Berlusconi gern seine ans Wunderbare grenzende Fähigkeit, jeden Rückschlag zu überwinden, vor allem mit Hilfe seines persönlichen Charmes, der oft auch mit erotischem Erfolg einhergeht. Er berichtet, dass er in der Zeit, als er in der von Confalonieri organisierten Nachtclub-Combo Bass spielte und sang, oft von der Bühne heruntersprang und mit den schönsten Mädchen im Saal tanzte. Confalonieri, der ihm seinen Charme neidete und sich darüber ärgerte, dass Berlusconi mitten im Stück den Bass weglegte, warf ihn aus der Combo, musste ihn aber zurückholen, als der Besitzer des Nachtclubs ihm eröffnete, ohne Berlusconi komme die Band nicht mehr so gut an.
     Fakt und Fiktion auseinander zu halten, erweist sich auch weiterhin als schwierig. Berlusconi erzählt uns, er habe zwei Jahre lang in Paris "an der Sorbonne studiert". Tatsache ist, dass er nie an der Sorbonne eingeschrieben war. Er will mit Confalonieri eine Konzerttour durch den Libanon absolviert haben; Tatsache ist, dass Confalonieri und seine Kapelle im Libanon tourten, aber ohne Berlusconi. Für Berlusconi, der den Angestellten seiner Werbefirma beständig einbläut, dass machtvolle Bilder wichtiger sind als Tatsachen, sind Bilder wie das von einem bettelarmen jungen Italiener, der an der Sorbonne studiert, oder einem italienischen Nachtclubsänger im exotischen Libanon einfach zu gut, um weggeworfen zu werden. Wie die Italiener so gerne sagen: "Se non e vero, e ben trovato." Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden.
     Zusätzlich zu seinem Job in Confalonieris Band verdiente er sich ein Zubrot mit dem Verkauf von Staubsaugern und mit Teilzeit­arbeit für eine Immobilienagentur. Etwas spät, mit 25, schloss er sein Studium ab, und offenbar wusste er zu diesem Zeitpunkt genau, was er machen wollte: ins Immobiliengeschäft einsteigen und Häuser bauen.
     Die frühen 1960er waren eine Zeit, in der in der Mailänder Baubranche Goldgräberstimmung herrschte. Rund 600 000 Menschen, also fast die Einwohnerschaft einer Großstadt, siedelten sich im Verlauf der 60er Jahre neu in Mailand an, und um die Innenstadt herum schossen mehrstöckige Wohnblocks wie Pilze aus dem ­Boden. Nach einem kurzen Zwischenspiel im Sold eines anderen beschloss Berlusconi schnell, sich selbstständig zu machen; er suchte sich ein Grundstück für ein eigenes Projekt, fertigte die Pläne für den Bau an und überredete offenbar seinen Ex-Arbeit­geber, mit ihm als Partner in das Vorhaben einzusteigen. Es scheint, dass Berlusconis Vater Luigi unter Einsatz seiner gesamten Pensionsansprüche eine Bürgschaft für seinen Sohn unterschrieb und dass das Projekt zumindest kein Verlustgeschäft wurde. Nicht lange nach diesem vielversprechenden, wenn auch noch bescheidenen Einstieg in die Branche setzte Berlusconi unvermittelt und unerwartet zum Sprung ins ganz große Geschäft an: Er plante - an einem eher unattraktiven Standort in Brugherio außerhalb Mailands, wo bis dato nur Indus­triewerke und Chemieanlagen standen, weit entfernt von Einkaufsmöglichkeiten oder anderen Wohngebieten - ­einen gigantischen Wohnkomplex für 4000 Menschen. Dass er eine Investorengruppe fand, die dem 27-jährigen ein Projekt dieser Größenordnung zutraute und übertrug, zeugt von dem überbordenden Konjunkturklima im Mailand der frühen 60er Jahre, genauso aber auch von der persönlichen Überzeugungskraft des Silvio Berlusconi.
     In vielerlei Hinsicht setzte dieses erste große Geschäft, das Berlusconi machte, die Maßstäbe für seine spätere Karriere, und das sieht und sagt er auch selbst so. Als die Bauarbeiten an dem Komplex 1964 begannen, hatte sich die Wohnbaukonjunktur abgekühlt, und als 1965 die ersten 140 Wohnungen fertig waren, war sie ganz zum Erliegen gekommen. Berlusconi tat sein Bestes, um seine bewährte Überzeugungskunst zur Anwendung zu bringen. Eine der Werbebotschaften für sein Projekt lautete: "Wenn es in Mailand regnet, scheint in Brugherio die Sonne!" (Natürlich hatte und hat Brugherio dasselbe Wetter wie Mailand - neblig, grau und feucht -, nur dass dort noch Rauch und Abgase aus den nahe gelegenen Fabriken und Chemiewerken hinzukamen.) Aber alle Anstrengungen waren vergeblich. "Es war nicht so, dass wir nur wenig verkauften - wir verkauften gar nichts", erzählte Berlusconi später. "Können Sie sich vorstellen, dass Sie mit dem Bau einer Stadt für 4000 Menschen angefangen haben und es Ihnen nicht gelingt, auch nur eine einzige Wohnung zu verkaufen? Ich meine nicht zehn, ich meine eine."

Teil 3