Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Benjamin Kunkel: Unentschlossen. Teil 3

21.08.2006.
"Er ist, na ja, so eine Art Revolutionär."
"Hört sich ganz so an", sagte ich.
Manchmal fand man Dan in seinem Zimmer, wo er über einem Lehrbuch brütete und dabei über Kopfhörer fürchterliche Musik von österreichisch-ungarischen Komponisten hörte. Aber es war unberechenbar, wo er sich gerade aufhielt, oder ich konnte den Algorithmus nicht erkennen, und er blieb sowieso nur wegen der niedrigen Miete bei uns. Sie wäre nicht so niedrig gewesen, wenn die Wände unserer Zimmer bis zur Decke gereicht hätten. Stattdessen lebten wir in Pappkabinen und eigenartiger Schlafsaalvertrautheit, was auf gewisse Weise eine ominöse Verbindung zwischen meinem Privatleben und meinem Arbeitsalltag bei Pfizer herstellte, denn auch dort gab es eine Aufteilung in Kabinen.
Ford, Sanch, Dan und ich - das war jedenfalls die Chambers Street, und das würde sie noch fünf Wochen lang sein, bis unser Mietvertrag auslief. Unsere Freunde lebten allein oder zu zweit überall in der Stadt verteilt, und so hatten wir vier in der behaglichen Verkommenheit unseres Wohnzimmers eine Art Gemeindezentrum der Schulzeit-Diaspora einrichten können. Wir spielten Poker, luden Kumpel ein, hingen vorm Fernseher und gaben Vierfarbkommentare ab. Wir wussten, dass unsere Unreife von allen die besterhaltene war, wir waren am schlechtesten angezogen und beruflich die größten Versager - und gelegentlich beschlich mich das Gefühl, das Betreten des narbigen Linoleums in unserer Küche müsse für die Leute aus der alten Clique in etwa so sein, als würden sie in der sonst nur in eine Richtung fließenden Zeit von einem langsam kreisenden Strudel erfasst. Draußen strömte der Verkehr, draußen drehte sich alles nur ums Geld und der karrieristisch schnelle Wind wirbelte den Müll durch die Luft. Und hier drinnen in der Chambers Street hockte dieses heimelige Häufchen von verkrachten Existenzen. Wir hatten sogar einen Kamin, auch wenn er nicht funktionierte und stattdessen die Stereoanlage beherbergte. Manchmal schnappte ich mir die Fernbedienung, und die posthumane, ersoffen klingende E-Orgel, unsere übliche Klangtapete, die mir das Gefühl gab, dass man unseren Zustand mit Worten nicht beschreiben könne, und die mich zum Ausrasten brachte, wenn ich high war, wich den fröhlichen, zarten Tänen der Grateful Dead - als wäre Jerry nie gestorben.
Aber Jerry war gestorben. Und unser Mietvertrag lief aus! Und dann war auch ich am Ende und musste sterben! Ich versuchte, mich von Ground Zero weiter unten an der Straße nicht an die ewige Endlichkeit aller Dinge erinnern zu lassen. Diesen Wink sollte mir viel lieber, und viel sanfter, mein deutscher Philosoph Otto Knittel geben. Der Gebrauch der Freiheit beschäftigte mich sehr in den Monaten vor Ecuador. Spätabends betrachtete ich die Worte dieses sehr todozentrischen Buches, und in jener Samstagnacht mit Vaneetha (die bislang versagt hatte, sich von den vielen vorangegangenen Samstagnächten zu unterscheiden) betrachtete ich wieder einmal die Wärter - mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge, da ich meine Kontaktlinsen schon herausgenommen hatte und die Schrift anders nicht erkennen konnte. "Das Hinauszögern ist unser Ersatz für die Unsterblichkeit", lautete die erste Hälfte des Satzes, den ich zum zweiten Mal las; "wir verhalten uns, als mangele es uns nicht an Zeit." Ich schaffte pro Stunde vielleicht zwei Seiten.
Und trotzdem kam ich mir eher langsam als dumm vor und hatte den Verdacht, dass es mit mir schon immer so gewesen war. Vielleicht war mein langsamer Zeitstoffwechsel für die effiziente Verdauung des modernen - oder seit einiger Zeit wohl schon postmodernen - Lebens einfach nicht ausgerüstet. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich könne noch nicht einmal die wenigen Dinge aufarbeiten, die mir bisher passiert waren. Es waren schon zu viele Menschen und Orte gewesen, und die geruhsame Postkutschenreise oder die gemächliche Kanufahrt von anno dazumal, bei denen ein Ort zusehen konnte, wie er sich in den nächsten verwandelte (und ein Dwight in den nächsten, unheimlich gleichartigen Dwight), hatten U-Bahnen und Flugzeugen weichen müssen, diesen Taschenspielern, die einen immer an unerwarteten Orten ausspuckten.
Wenigstens klingelte nachts das Telefon nicht. Ich hatte den Eindruck, dass die Seele von Telefonen aufgeschreckt wird und in ihrer Gegenwart nie ganz zur Ruhe kommt. Oft klingelte in Midtown irgendein Handy auf der Straße, woraufhin ein halbes Dutzend Leute ihre Taschen durchwühlten, und im Blick des einen oder anderen erhaschte ich dann einen Anflug von Panik. Ich selbst hatte irgendwie das Bedürfnis, Nachrichten von Hand übermittelt zu bekommen - vom Fenster aus einen Boten zu sehen, der am Horizont auftaucht und von weit her auf mich zukommt, damit meine Gefühle genügend Zeit haben, sich selbst zu entdecken. Aber stattdessen riefen die Leute immer an und schlugen mir dieses oder jenes vor, und da ich mir nur in den seltensten Fällen ganz sicher war, ob ich das wollte, hatte ich das System des Münzwurfs entwickelt. "Wart mal, ich muss kurz meinen ... Ja, das klingt gut, aber bleib mal eben dran ...", sagte ich dann in der Küche der Chambers Street oder auf der Arbeit, wenn jemand dort anrief. Dabei hatte ich gar keinen Terminkalender und befragte in Wirklichkeit eine meiner Spezialmünzen. Kopf, und ich sagte zu, Zahl, und ich tat so, als hätte ich schon was vor. Ich war stolz auf dieses System. Es war statistisch fair und bewahrte zudem mein leichtfertiges Naturell davor, sich den Willen anderer aufzwingen zu lassen; es sorgte für eine gewisse Verknappung von Dwightigkeit auf dem Markt; es fügte meinem sonst so durchsichtigen Charakter das Prestige des Unergründlichen hinzu; und vor allem gab es mir die Möglichkeit, in aller Ruhe herauszufinden, ob ich die fragliche Sache nun eigentlich gern getan hätte. Dann war es zwar regelmäßig zu spät - aber Wissen ist Selbstzweck, das sieht jeder vernünftige Mensch ein, und ich bin da keine Ausnahme.
Ein Abend allein bedeutete, dass ich mit dem Gebrauch der Freiheit vorankam. Wenn ich so weitermachte, hatte ich gute Chancen, das Buch noch in diesem Jahr zu schaffen. "Warum schreibst du das Ding nicht einfach selbst?", fragte Dan. "Dann wärst du wahrscheinlich schneller."
"Aber wie soll ich denn je von selbst auf den Unternehmungsgrund des Individuums kommen?"
Als ich zum ersten Mal von diesem Beweggrund für das Handeln des Einzelnen las, hatte ich endlich einen sperrigen und fremden Begriff für das gefunden, was mir in meinem Leben fehlte, seit die Pubertät ungefähr zu Beginn der Prep School zugeschlagen hatte und ich mich unsicher von einem Tag zum anderen hangelte wie auf einer im Wind schwankenden Brücke, während beide Seiten der Felsschlucht - ich meine Vergangenheit und Zukunft - in dichtem Nebel verschwunden waren. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl dafür verloren, ob mein Leben einen Ursprung oder ein Ende hatte, ob es eine ursprüngliche Geburt oder einen endgültigen Tod gab, und deshalb erstaunte es mich, dass mich anscheinend alle für einen soliden, zuverlässigen jungen Mann hielten. Otto Knittel, so erfuhr ich als viel älterer junger Mann, stand total auf Wälder, und so stellte ich mir beim Lesen vor, wie ich mich aus der Stadt davonmachte und nach Vermont in den Wald zog. Mit einem Hund. Oder mehreren. Ich wollte in einer Hütte wohnen, Brot backen und fast gar nicht mehr fernsehen, mit dem Hund oder den Hunden reden, ihn oder sie streicheln und Tee trinken statt kannenweise Kaffee. Sonnenlicht, breite Dielen, Telefon mit Caller ID ... Und alte Freunde aus der Stadt könnten mich besuchen kommen, um meine weise und gütig-ruhige Aura zu bewundern, die ich in meiner Egolosigkeit nicht einmal bemerken würde. Ich spürte, dass der Beweggrund meines Handelns unter diesen Umständen ganz langsam und schmelzflüssig in mir aufsteigen könnte, und schließlich würde in meinem Geist eine gebetsgleiche Bewusstseinsklarheit auftauchen. Dann würde ich wissen, was zu tun war. Und dann kännte ich nach New York zurückgehen und es tun.
Aber wenn es auf die frühen Morgenstunden zuging, hatte ich manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht einmal näher damit beschäftigt hatte, "es" zu tun. Und wenn Vaneetha neben mir unter meiner halbsauberen Bettdecke schlief und atmete und ihren warmen Körper an mich schmiegte, dann machte das die Sache nur noch schlimmer. Mittlerweile gab es Anzeichen für das Entstehen ernsthafter Zuneigung zu mir - bei ihr -, so dass ich mich nicht mehr nur aus der Stadt davonstehlen musste, um meinem tieferen Verständnis die Möglichkeit zu geben, sich mir zu eröffnen - nein, ich würde mich auch aus dem Leben eines anderen befreien müssen.
Wenigstens brauchte ich nicht viele Möbel mitzunehmen. Allerdings musste ich in Vermont erst eine Stadt finden und dann einen Job. Trotzdem hegte ich große Hoffnungen, dass die neue Informationswirtschaft tatsächlich bald das Ende der Geografie einläutete und ich dann auch von meiner Hütte im Wald aus Technical Support leisten konnte. Andererseits gehörte diese Hoffnung ins Jahr 1999, und jetzt war Mai 2002, Ende Mai sogar. In jedem Fall hatte ich eine lange To-Do-Liste (oder vielmehr eine Liste guter Absichten), und vor dem Einschlafen stand ich noch mal auf, um - hinter EINKAUFEN! oder MOM ANTW.: KIRCHE!! oder VANEETHA? oder PAPIERHANDTÜCHER oder TARIFE VON THERAPEUTEN? - OPTIONEN IN VERMONT RAUSKRIEGEN zu schreiben.
Es war also immer tiefe Nacht, wenn ich endlich einschlief. Keine Sorge: Ich bekam viel Schlaf. Abgesehen davon, dass ich ein guter Schläfer war, besaß ich auch keinen funktionierenden Wecker, der meine kimmerischen Rhythmen hätte unterbrechen können. Als der entscheidende Knopf abgebrochen war, hatte ich natürlich auf meine Liste geschrieben, dass ich einen neuen Wecker brauchte. Aber dann gab man - oder genauer gesagt Rick, der Chef - auf der Arbeit bekannt, dass wir im Problem Resolution Center bei Pfizer zwar nur für einen Subunternehmer arbeiteten, trotzdem aber als Abteilung des Hauses betrachtet wurden - aus dem ziemlich fadenscheinigen Grund, dass unsere Büros im Hauptgebäude lagen. Bald würden irgendwelche Leute in Mumbai in Indien unsere Arbeit für einen niedrigeren Lohn machen. "Soll das heißen, wir werden outgesourct?", fragte meine Kollegin Wanda. Rick sagte Ja und schob dieses kleine, makabre Lächeln hinterher, das niemand so gut konnte wie er.
Auf die Arbeitsmoral wirkte sich diese Nachricht äußerst negativ aus. Ich für meinen Teil sah ein, dass die Globalisierung Realität geworden war, und weigerte mich, einen neuen Wecker zu kaufen. Wozu sollte ich aufstehen, wenn meine Tage bei Pfizer sowieso gezählt waren? Ich wachte jetzt normalerweise gegen zehn auf, streckte mich, gähnte herzhaft und war wieder randvoll mit Ahnungslosigkeit. Offiziell fing um diese Zeit die Arbeit an, aber ich ging erst mal raus und holte mir einen Everything-Bagel - sonst konnte ich mich nie entscheiden -, kam zurück, toastete die Bagelhälften und beschmierte die eine dick mit Pesto und die andere mit Nutella. Lecker.
Bisher beschränkte sich meine Anpassung an unser Vaneetha-Dwight-Leben darauf, dass ich je ein Glas meiner beiden Bagelaufstriche bei ihr in Carroll Gardens deponiert hatte. "Ich kann immer noch nicht glauben, was du dir da in den Mund steckst. Aber ich finde es sehr rührend, dass du auf deine Art bei mir einziehst." Wenn sie morgens gut drauf war, machte sie mir die Freude und fütterte mich mit einem Überraschungsbagel, während ich die Augen zukniff. "Damit ich nicht weiß, was kommt", sagte ich dann. "Schließlich sind beide Möglichkeiten gleich gut!"

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Bloomsbury Berlin

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