Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Teil 2

24.09.2007.
Zwei Beispiele, eines für eine unmoralische Lehre, das andere für einen unmoralischen Brauch, seien noch angefügt. Die unmorali­sche Lehre betrifft die Abtreibung. Als Materialist halte ich es für bewiesen, dass ein Embryo ein eigener Körper und ein eigenständiges Wesen ist und nicht, wie es früher bisweilen hieß, ein Auswuchs des weiblichen Körpers. Einige Feministinnen betrachteten den Embryo ja als einen Anhang oder sogar - auch das wurde ernsthaft behauptet - einen Tumor. Solchen Unsinn hört man heute nicht mehr. Das liegt zum einen an den faszinierenden und bewegenden Ultraschallbildern und zum anderen daran, dass schon federleichte "Früh­chen" außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig sind. Auch in diesem Bereich kann die Wissenschaft mit dem Humanismus an einem Strang ziehen. Lässt der Anblick einer Frau, der in den Bauch ge­treten wird, keinen Menschen mit durchschnittlichem moralischem Empfinden kalt, so wächst die Empörung, wenn die betreffende Frau schwanger ist. Die Embryoforschung untermauert die Moral. Die Bezeichnung "ungeborenes Kind" beschreibt sogar im politi­schen Kontext eine materielle Realität.

Damit aber wird der Streit um die Abtreibung nicht entschieden, im Gegenteil. Es gibt sicher viele Umstände, unter denen es nicht er­strebenswert ist, einen Fötus auszutragen. Auch die Natur oder Gott erkennen dies wohl, denn eine sehr große Zahl von Schwangerschaften wird aufgrund von Missbildungen sozusagen "abgetrieben"; man umschreibt das mit dem freundlicheren Wort Fehlgeburt. Eine solche Fehlgeburt ist zwar traurig, wahrscheinlich aber bes­ser als die große Zahl missgebildeter oder geistig behinderter Kinder, die andernfalls auf die Welt kämen - die einen tot, andere mit einem nur kurzen Leben, das für sie selbst und andere eine Qual wäre. In utero können wir einen Mikrokosmos der Natur und der Evolution beobachten. Wir beginnen unser Leben als winzige amphibische Körper, ehe sich nach und nach Lunge und Gehirn entwickeln, uns das mittlerweile nutzlose Fellkleid wächst und wieder ausfällt und wir nach einem alles andere als einfachen Übergang den Weg nach draußen finden und Luft atmen. Das System ist entsprechend unbarmherzig, indem es diejenigen, die keine gute Überlebenschance haben, in einem frühen Stadium eliminiert. Unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne hätten auch nicht überlebt, wenn sie eine Viel­zahl kränklicher Kinder gegen Raubtiere hätten verteidigen ­müssen. Die Analogie, die sich hier aufdrängt, ist nicht etwa Adam Smiths "unsichtbare Hand" - diesem Begriff misstraue ich schon seit jeher -, sondern Joseph Schumpeters Modell der "Schöpferischen Zerstörung", nach der wir uns an ein gewisses Maß an natürlichen Fehlschlägen gewöhnen, die sich aus der Erbarmungslosigkeit der Na­tur ergeben und bis zu den entfernten Prototypen unserer Spezies zurückreichen.(3)

Nicht jede Empfängnis führt also zu einer Geburt. Und seit wir nicht mehr nur ums bloße Überleben kämpfen, trachtet unsere intelligente Spezies danach, die Reproduktionsrate unter Kontrolle zu be­kommen. Familien, die der Natur und deren Streben nach einer reichen Nachkommenschaft ausgeliefert sind, sind in einen Kreislauf gebunden, der dem der Tiere entspricht. Am besten gelingt diese Kontrolle durch Prophylaxe, nach der seit jeher fieberhaft geforscht wurde, wie schon frühste Aufzeichnungen dokumentieren. Heute ist sie relativ narrensicher und schmerzlos anzuwenden. Die zweitbeste Lösung, die manchmal aus anderen Gründen zur Anwendung kommt, ist der Schwangerschaftsabbruch, den sogar viele Frauen, die ihn aus schierer Not durchführen, hinterher bereuen. Jedem den­kenden Menschen leuchtet ein, wie schwer in dieser Sache die Abwägung von Rechten und Interessen ist. Das Einzige, was hier überhaupt nicht weiterhilft, sei es moralisch oder praktisch, ist die an den Haaren herbeigezogene Behauptung, Spermien und Eizellen seien potenzielle Lebewesen, deren Verschmelzung nicht verhin­dert werden dürfe, da sie schon kurz nach der Vereinigung eine Seele hätten und eines gesetzlichen Schutzes bedürften. Dieser Argumentation zufolge handelte es sich beim Intrauterinpessar, das die Einnistung eines Eis in der Gebärmutter verhindert, um ein Mordinstrument, und das Ei, das sich im ungünstigen Falle einer Eileiterschwangerschaft im Eileiter entwickelt, wäre nicht etwa eine dem Untergang geweihte Anomalie, die auch das Leben der Mutter akut gefährdet, sondern menschliches Leben.

Jeder Schritt zur Klärung dieser Sachfrage wurde von der Geistlichkeit in Bausch und Bogen verworfen. Schon der Versuch, die Men­schen über die Möglichkeit der "Familienplanung" aufzuklären, wurde von Anfang an scharf verurteilt, und die ersten Befürwor­ter (etwa John Stuart Mill) wurden verhaftet, ins Gefängnis geworfen oder um ihre Anstellung gebracht. Noch vor wenigen Jahren verunglimpfte Mutter Teresa die Verhütung als moralisches Äquivalent zur Abtreibung, was - da sie die Abtreibung als Mord betrach­tet - dieser "Logik" nach das Kondom oder die Pille zu Mordwaffen macht. Damit war Mutter Teresa noch fanatischer als ihre Kirche, was einmal mehr belegt, dass dogmatischer Eifer der moralische Geg­ner des Guten ist, denn er fordert von uns, das Unmögliche zu glauben und das nicht Machbare zu tun. So wurde das Engagement für den Schutz des ungeborenen Lebens und für das Leben schlechthin von Fanatikern, die ungeborene und geborene Kinder zu bloßen Manipulationsobjekten ihrer Doktrin degradieren, an die Wand gefahren.


Im Bereich der unmoralischen Bräuche gibt es wohl kaum etwas so Bizarres wie die Genitalverstümmelung bei Kindern. Sie lässt sich zudem besonders schwer mit dem teleologischen Gottebeweis vereinbaren. Es ist doch anzunehmen, dass ein gestaltender Gott den Fort­pflanzungsorganen seiner Geschöpfe besondere Aufmerksamkeit schenken würde, sind sie doch wesentlich für den Fortbestand der Spezies. Doch seit Beginn der Zeit wurden im Zuge religiöser Rituale Kinder aus der Wiege gezerrt und im Schambereich mit scharfen Steinen oder Messern traktiert. In einigen animistischen und muslimischen Gesellschaften ist das Leid der kleinen Mädchen am größten, denn ihnen werden die Schamlippen und die Klitoris beschnitten. Manchmal wird dieser Brauch bis in die Pubertät aufgeschoben und, wie bereits erwähnt, gleich eine Infibulation durchgeführt, oder die Vagina wird ganz zugenäht, wobei nur eine kleine Öffnung für Blut und Urin bleibt. Das Ziel ist klar: Der Sexualinstinkt soll ab­getötet oder betäubt, die Versuchung, mit einem anderen Mann zu experimentieren als dem erwählten, geschmälert werden; dem Ehemann kommt dann das Privileg zu, die Nähte in der gefürchteten Hochzeitsnacht zu durchstoßen. Bis dahin wird dem Mädchen bei­ge­bracht, dass die monatliche Heimsuchung durch die Blutung ein Fluch und ihr Körper unrein ist. (Irgendwann hat noch jede Reli­gion ihre Abscheu vor der Menstruation zum Ausdruck gebracht, und viele Religionen verbieten bis heute Frauen in dieser Zeit den Besuch des Gottesdienstes.)

Andere Kulturen, besonders die jüdisch-christlichen, betreiben be­harrlich die Verstümmelung kleiner Jungen - kleine Mädchen können, aus welchem Grund auch immer, ohne Veränderung ihrer Genitalien Jüdinnen sein: Nach einer durchgängigen Linie sucht man vergebens in den Bündnissen, die die Menschen mit Gott geschlossen haben wollen. Für die Beschneidung von Jungen gab es ursprüng­lich wohl zwei Motive. Das Blut, das bei der Beschneidungszere­monie vergossen wird, ist sehr wahrscheinlich ein symbolisches Überbleibsel aus der Zeit der Tier- und Menschenopfer, die in der blutgetränkten Landschaft des Alten Testaments noch so eine große Rolle spielten. Indem sie an diesem Brauch festhielten, konnten die Eltern einen Teil ihres Säuglings stellvertretend für das ganze Kind opfern. Dem Einwand, dass Gott den menschlichen Penis doch sicher mit großer Sorgfalt geschaffen haben muss, stand das erfun­dene Dogma gegenüber, nach dem Adam beschnitten und nach Gottes Bilde zur Welt kam. Einigen Rabbinern zufolge war auch Mose bei der Geburt bereits beschnitten, eine Behauptung, die sie allein aus dem Umstand herleiten, dass seine Beschneidung im Pentateuch nirgends erwähnt wird.

Das zweite Motiv entsprach dem für die Beschneidung von ­Mädchen: den Betroffenen möglichst weitgehend die Freude am Geschlechtsverkehr zu nehmen. Maimonides formuliert das in seinem Führer der Unschlüssigen recht eindeutig. Er weist darauf hin, dass die Beschneidung nicht etwas physisch Unzureichendes perfektioniere, sondern diese Aufgabe im moralischen Bereich übernehme, indem sie die Erregbarkeit und die Lust am Geschlechtsakt herabsetze.

Das Versprechen Gottes an Abraham im 1. Buch Mose, Kapitel 17, die Be­schneidung werde dazu führen, dass er auch im Alter von neunundneunzig Jahren noch eine große Nachkommenschaft zeugen werde, machte auf Maimonides offenbar keinen großen Eindruck. Abrahams Entscheidung, neben allen männlichen Haushaltsmitgliedern auch die Sklaven zu beschneiden, war ein Rand­­phänomen, viel­leicht auch dem Enthusiasmus geschuldet, denn diese Nichtjuden waren nicht Bestandteil des Bundes mit Gott. Jedenfalls beschnitt er seinen damals dreizehnjährigen Sohn Ismael. Doch während sich Ismael nur von seiner Vorhaut trennen musste, wurde sein jüngerer Bruder Isaak, der in Genesis 22 seltsamerweise als Abrahams einzi­ger Sohn bezeichnet wird, zwar im Alter von acht Tagen beschnitten, sollte später Gott aber trotzdem vom Scheitel bis zur Sohle als Opfer dargeboten werden.

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(3) Joseph Schumpeter entwickelte das Modell von der "schöpferischen Zerstörung" in seinem Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, erstmals erschienen 1942, dt. Bern 1946

Teil 3

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