Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Giwi Margwelaschwili: Officer Pembry. Teil 2

10.09.2007.
"Hm!" Pembry blickt etwas unschlüssig auf das Buch. Doch daß er es sich ansehen wird, ist schon beinahe sicher, denn er hat es in die Hand genommen und schielt auf die paar Seiten. "Ich werd?s schon lesen. Ja. Aber können Sie mir nicht kurz sagen, was hier mit ? mit meinem Doppelgänger passiert?"
"Natürlich kann ich das", rufe ich erfreut aus. (Es ist immer ein sehr gutes Zeichen, wenn der Bedrohte die PKP selbst um Aufschlüsse über die Gefahr bittet, die auf ihn zukommt, wenn wir ihm schon sagen können, von woher das Unglück sich ihm nahen wird, wann es geschieht und wer es über ihn bringt. Dann dürfen wir sicher sein, daß der Mann oder die Frau - jeder kann ja in jedem Buch das Opfer eines verbrecherischen Anschlags sein - den für ihn/sie so schicksalhaften Text ernst nimmt, daß er/sie ihn genau lesen und unsere Anweisungen beherzigen wird.) "Ihr Doppelgänger", sage ich langsam und mit Betonung, "also der Officer Pembry in diesem Roman, wird von einem Schwerverbrecher getötet, den er zu bewachen hat und dem es, übrigens auf eine sehr mörderische und abenteuerliche Weise, dann auch noch gelingt, aus dem Gefängnis zu entkommen."
"Von hier? Aus unserem Brushy Mountain State Prison?" Pembry grinst ungläubig. "Das sind Märchen, Mann! Hier ist uns noch nie ein Sträfling entwischt. Und ich glaube auch, daß sich das in Zukunft nicht ändern wird. Dafür wird viel zu genau aufgepaßt. Nnnnein! Was Sie da sagen, ist einfach absurd."
"Der Mann entkommt nicht von hier, Pembry", antworte ich ihm ruhig. "Er entkommt aus einem Gebäude der Stadtverwaltung von Memphis. So steht es in diesem Buch, und wir haben leider keinen Grund, zu bezweifeln, daß es sich in Wirklichkeit auch so zutragen wird, wenn man nichts dagegen tut. Dieser Krimi, Pembry, spricht mit höchster Exaktheit von realzukünftigen Vorgängen. Daran ist nicht zu rütteln. Leider!"
"Das ist ein vollkommener Unsinn, Sir!" Pembry schüttelt energisch den Kopf. "Was Sie da sagen, kann nie passieren. Schwerverbrecher werden bei uns nicht in Büros der Munizipalität gefangengehalten, sondern in Spezialzellen, hinter Betonwänden und vergitterten Fenstern. Die ganz Gefährlichen sind auch angekettet. Es ist einfach absurd, zu denken ?"
"Wozu streiten wir uns, Pembry?" unterbreche ich ihn sanft. "Wenn ich Ihnen jetzt sage, daß der Schwerverbrecher in dem Bürogebäude untergebracht sein wird, weil er aufgrund seiner exeptionellen Erfahrungen mit Seinesgleichen zur Lösung einer Reihe von Mordfällen beitragen kann und man ihm deshalb, so weit das möglich ist, jeden Wunsch erfüllt, werden Sie auch das gleich anzweifeln wollen. Ich kann nur wiederholen, daß, wenn Sie die Dinge so laufen lassen, wie sie in diesem Buch beschrieben sind, Ihr Tod von der Hand Lecters - so heißt der Schwerverbrecher - unvermeidlich sein wird. Er spaltet Ihnen mit Ihrem eigenen Gummiknüppel den Schädel und entsorgt, bevor er das Bürogebäude verläßt, Ihren Leichnam auf einer Fahrstuhlkabine."
"Klingt wie ein Gruselmärchen." Pembry schüttelt wieder achselzuckend den Kopf. "Ich kann mir nicht helfen, Mister Meinleser, aber das, was Sie mir hier auftischen, ist einfach nur Unsinn. Daß ein Schwerverbrecher, also jemand, der unter besonderer Bewachung steht, aus dem Gefängnis, in dem er sitzt, entweichen könnte, ist ganz ausgeschlossen. Dafür fehlen einfach die Bedingungen. Und wie sagten Sie? Er entkommt auf abenteuerliche Weise? Wie denn, wenn ich fragen darf?"
"Er richtet es so ein, daß er als ein Schwerverwundeter auf einer Tragbahre aus dem Bürogebäude gebracht und dann in einem Sanitätswagen weggefahren wird."
"Ja, aber wie kann der Mann, wenn er auf einer Bahre liegt und durch die Polizeisperre getragen wird, unerkannt bleiben?" wundert sich Pembry. "Was Sie da sagen, klingt immer unwahrscheinlicher."
"Weil man denken wird, Sie seien es, der da schwerverwundet abtransportiert wird", erkläre ich ihm geduldig. "So verstehen Sie doch endlich: Der Mann hat Sie totgeschlagen, Ihre Uniform angezogen und sich auch ein paar Verletzungen beigebracht. In diesem Aufzug wird er als vermeintlicher Pembry von allen Cops schnelle Hilfe erhalten. Sie wird ihm auch unverzüglich gewährt: Man trägt ihn auf die Straße, schiebt ihn in den Sanitätswagen, und so entkommt der Kerl, ohne daß man den Schwindel merkt."
Officer Pembry hat meine Worte mit einem leicht ungläubigen Grinsen begleitet. "Das hat sich ein phantasievoller Kopf ausgedacht", sagt er dann. "Aber real passieren kann so was bei uns nicht. Nein. Ich kann nur darüber lachen. Es tut mir leid. Aber so ist es."
"Also gut!" konstatiere ich trocken. "Dann können wir unser Gespräch jetzt abbrechen. Aber hier ist meine Visitenkarte. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Ihnen danach ist."
Überlegen lächelnd nimmt Pembry die Karte von mir entgegen. "Danke, Sir! Meinleser ist wohl Ihr Deckname, was? Denn so heißen Sie mit Sicherheit nicht. So kann niemand heißen."
"Ja, so heiße ich nicht", stimme ich sofort zu. "Natürlich nicht. Aber daß es ein Deckname ist, würde ich nicht sagen. Es ist ein Name, der gleich klar macht, wer ich bin und was ich von den Leuten will, mit denen ich beruflich zu tun habe."
Nach diesen Worten tritt ein sekundenlanges Schweigen zwischen uns ein.
"Danke, Sir!" sagt Pembry, der es jetzt sehr eilig hat, von mir fortzukommen, und streckt seine Pranke aus für den verabschiedenden Händedruck.
"Moment!" sage ich, auf den Roman weisend. "Dieses Buch nehmen Sie bitte mit! Sie müssen es lesen. Besonders alle Passagen, die Sie realpersönlich dort betreffen. Werden Sie das tun? Versprechen Sie mir das?"
"Okay!" Officer Pembry grinst mich trostvoll an. "Okay, okay! Das mach ich schon."
"Die erste Unruhe oder Besorgnis wird Sie - schätze ich - packen, wenn man Sie zur Bewachung eines Schwerstverbrechers in die Stadtverwaltung nach Memphis abkommandiert und Sie dann feststellen, daß dieser Verbrecher genau der Mann ist, der in diesem Buch beschrieben steht." Ich zeige wieder auf "Das Schweigen der Lämmer". "Bis dahin ist noch rund ein Monat Zeit. Ich würde Sie bitten, sich alle Passagen, die den Mord schildern, der da an Ihnen verübt wird, genau durchzulesen. Dann sind Sie schon auf das Schlimmste vorbereitet und wir sparen Zeit."
"Na schön! Da Ihnen so viel daran zu liegen scheint, werd ich?s tun." Pembry ist aufgestanden und empfiehlt sich mit einem kurzen, freundlichen Kopfnicken. Das Buch hat er immerhin eingesteckt.
Ich bleibe noch ein paar Minuten allein auf der Bank sitzen und lasse mir das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Wird er mich anrufen, wenn es so weit ist, oder gehört er in die Kategorie jener Realpersonen, die ihr schlimmes buchpersönliches Schicksal nicht ernst genug nehmen, zu sorglos und lässig damit umgehen, daß man sie nur mit Gewalt davor beschützen kann? Das wäre natürlich auch möglich. Ich bin ja nicht allein. Die ganze PKP steht zum Schutz solcher unbelehrbaren Realpersonen bereit und würde auf meinen Wink hin sofort zur Tat schreiten, den Arglosen - dann aber gewaltsam - in ihre Obhut zu nehmen. Doch das ist nicht ratsam.
Denn erstens kann das buchparallele Schicksal des Klienten der PKP - wenn wir zu resolut in seine Geschichte eingreifen, ihn zum Beispiel kurzerhand aus ihr herausreißen und isolieren - unberechenbar werden: Es kann dann auf irgendeine andere, unthematische Weise (also nicht so, wie es in der Textmatrize, dem Krimi, verlangt beziehungsweise vorgeschrieben ist) versuchen, sich thematisch an ihm zu erfüllen und uns dadurch völlig neue, und - weil sie dann unübersehbar sind - auch die denkbar ungünstigsten Arbeitsbedingungen mit unserem Klienten schaffen.
Zweitens weigert sich der von uns auf derart gewaltsame Weise gerettete Mann gewöhnlich, den guten, schützenden Sinn unserer radikalen Maßnahme anzuerkennen, und er kann uns - da wir in diesem Fall nicht mehr imstande sind, ihm den Sinn unseres Tuns vorzuführen - bei den Behörden verklagen. Weil die Parallelität zwischen Kriminalromanen, die im vorigen Jahrhundert geschrieben wurden, und realen Mordfällen, die in unserer Zeit geschehen können, selbst bei der frappantesten Übereinstimmung der Ereignisse niemanden so recht überzeugen kann (man hält sie immer bloß für einen kuriosen Zufall), hat die PKP, wenn es dann zu einem öffentlichen Prozeß kommt, vor Gericht wenig Chancen. Auch die jetzt schon ziemlich ansehnliche Liste der auf unserer krimibibliologisch-antizipatorischen Art glücklich gelösten, also verhinderten Mordfälle konnte der PKP bis jetzt noch keinen großen Respekt verschaffen. Obwohl wir alle unausweichlich-zukünftigen mörderischen Tatsachen immer schwarz auf weiß, also literarisch-dokumentarisch, belegen können, will man unseren Warnungen und Behauptungen meist nicht glauben. Wir werden belächelt und selbst für die Fälle mit der größten Parallelität zwischen Krimiliteratur und aktueller krimogener Wahrheit hat man gewöhnlich nur ein ungläubiges Kopfschütteln. Mit unserer PKP sähe es sehr schlecht aus, wenn - und da können wir noch von Glück reden, daß es so gekommen ist - sich das FBI nicht für unsere Ergebnisse interessiert und unsere Organisation unter seine Fittiche genommen hätte.
Warum man sich bis heute meist nur skeptisch gegenüber unseren Arbeitsergebnissen verhält, wird seine hauptsächliche Ursache wohl darin haben, daß die Kriminalromane, nach denen sich die PKP in ihren Untersuchungen richtet, überwiegend Bücher aus weit zurückliegenden Zeiten sind. Das läßt alles, was wir heute zum Schutz der Bedrohten unternehmen zu phantastisch aussehen und bedingt den Unglauben, mit dem unsere Warnungen und Rettungsvorschläge praktisch überall aufgenommen werden.
Doch Officer Pembry ist zu unserem Glück selbst ein Polizist, also ein Mensch mit genügend Spürsinn für die Gefahren, die sich für ihn ergeben können. So wenigstens stelle ich mir das als Beamter der PKP vor. Da müßte zu erwarten sein, daß er richtig - also noch zeitig genug - auf meine Hinweise reagiert.



Die Umwege der krimibibliologischen Parallelität

Nach zwei Wochen klingelt - für unsere Sache nicht zu spät, aber auch nicht mehr allzu früh - in meinem Büro das Telefon. "Ah!" rufe ich, meine Freude mühsam verbergend. "Sie sind es! Ausgezeichnet! Was wollen Sie mir sagen? Ich höre."
"Ich habe alles gelesen", versichert mir Pembry am anderen Ende der Strippe. "Ich meine, ich habe 'Das Schweigen der Lämmer' gelesen. Ganz."
"Gut!" lobe ich ihn zufrieden. "Ich hoffe, Sie haben das nicht getan, um sich zu zerstreuen, sondern um Ihre Zukunft besser kennenzulernen."
"Ja, natürlich!" versichert er auf der anderen Seite der Leitung. "Ich habe das Buch ganz durchgelesen, um erstmal zu sehen, ob das im Roman Beschriebene auch wirklich mit meinem Leben und meiner Arbeit im Gefängnis übereinstimmt."
"Und?" frage ich ungeduldig zurück, denn Pembry hat eine Pause eintreten lassen. "Was denken Sie, spiegelt der Text nicht verblüffend genau Ihr reales Leben ab?"
"Das ist gerade der Punkt, über den ich mich mit Ihnen jetzt unterhalten möchte", erklärt mir Pembry in einem ganz gewöhnlichen, gar nicht besorgt klingenden Tonfall. "Einige Sachen stimmen so haargenau, daß man sich nur wundern kann. Das ist wahr. Aber es gibt da auch viele Dinge, die in der Wirklichkeit keine Entsprechungen haben. Im Buch werde ich zum Beispiel zusammen mit einem anderen Polizisten namens Boyle erschlagen. Unter meinen Arbeitskollegen ist niemand, der diesen Namen trägt. Ich habe Erkundigungen eingezogen, ob es in unserem Gefängnisapparat jemanden gibt, der so heißt. Die Antwort, die ich darauf bekam, war ein klares Nein. Und außerdem ?"
"Außerdem?" frage ich gespannt durch den Draht. "Was haben Sie mir noch zu sagen?"
"Außerdem stimmen auch die Namen der Polizisten nicht, die an dem Tag, an dem ich von Lecter umgebracht werden soll, gegen ihn eingesetzt werden. Ich habe mich erkundigt. Es gibt in Memphis keinen Sergeanten, der Tate heißt, kein Streifenpolizist dort nennt sich Sweeney, keiner Berry und Howard. Es gibt auch keinen Jakobs und keinen Murray unter den Beamten."
"Und?" frage ich noch einmal, denn Pembry hat wieder aufgehört zu sprechen. "Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?"
"Nein", sagt er. "Da ist noch was. Den Schwerverbrecher Lecter gibt es tatsächlich und er ist zur Zeit auch wahrhaftig in dem ehemaligen Gerichtsgebäude von Memphis untergebracht, wo erwartet wird, daß er über einen anderen Gangster wichtige Aussagen macht. Das alles deckt sich genau mit dem, was in dem Krimi steht. Da haben Sie zweifellos recht."
"Sehen Sie!" rufe ich erfreut, denn für Pembry muß die Tatsache, daß die Buchfigur Lecter auch als Realperson existiert, schon das entscheidende Warnzeichen sein. "Sehen Sie jetzt, wie stichhaltig alles ist, was ich Ihnen prophezeit habe? Verstehen Sie nun, wie gerade Sie sich in Acht nehmen und auf mich und auf die PKP hören müssen?"
"Hören Sie mir mal lieber zu!" sagt Pembry am anderen Ende der Leitung. "Ich habe das Polizeipräsidium in Memphis gebeten, mich von der Bewachung des Mister Lecter, wenn man mich dort für diesen Dienst anfordern sollte, zu befreien. Ich habe das - für einen verdienten Polizisten wie mich ungewöhnlich genug - mit meinem Angstgefühl begründet, das dieser Verbrecher mir einflößt, und in meinem Schreiben an das Amt der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß man Verständnis dafür zeigt und mir den Bewachungsdienst in Memphis erspart."
"Und weiter?" knurre ich ungeduldig in den Hörer, denn Pembry hat wieder aufgehört zu sprechen.
"Ich wollte Ihnen nur noch sagen", fährt Pembry langsam fort (seine Stimme klingt dabei triumphierend), "daß die Vorgesetzten mir meinen Wunsch erfüllt haben. Gerade heute kam ihr Brief, in dem mir mitgeteilt wird, daß man bei der Bewachung von Lecter zwar an mich gedacht habe, man aber meine Entscheidung selbstverständlich berücksichtigen und jemand anderen für den Dienst aussuchen werde. Sie sehen also, Sir, daß wir beide uns um mich keine Sorgen mehr zu machen brauchen: Die, wie ich schon sagen muß, wirklich seltsame und sehr beunruhigende Parallelität zwischen meinem Beamtenleben und den Vorgängen in einem Krimi aus dem vorigen Jahrhundert ist, wenn man diese Dinge genauer untersucht, durchaus nicht absolut. Außerdem scheide ich, eine der zwei realen Hauptpersonen dieses tödlichen Dramas, mit der freundlichen Erlaubnis meiner Vorgesetzten aus der Geschichte aus. Damit höre ich, wie ich hoffen möchte, auf, Gegenstand des Interesses Ihrer PKP zu sein. Auf Wiedersehen!"
Das Abschiedswort und das Knacken in der Leitung sind eins. Er hat aufgelegt.
"Na warte, Bürschchen!" denke ich, nicht ohne einen leisen Anflug von Schadenfreude. "Du meldest dich wieder."
Und wirklich, eine Woche ist kaum vorüber, da klingelt das Telefon erneut. Pembry ist am Apparat.

Teil 3

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