Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hans Werner Kettenbach: Zu Gast bei Dr. Buzzard. Teil 3

23.02.2006.
Luther Davenport saß bei einem Whiskey mit Eis und las in der Washington Post, die er zusammengefaltet neben sein Gedeck auf den Tisch gelegt hatte. Er stand auf, ein mittelgroßer, breitschultriger Mann mit rotem Gesicht und weißen Haaren, schüttelte dem Gast die Hand und entschuldigte sich dafür, daß er ihm erst so spät diese Einladung habe zukommen lassen. Aber er habe ihn unbedingt näher kennenlernen wollen, nachdem er gehört habe, daß sein Vortrag in der Academy so interessant gewesen sei.
     Lillys Vermutung war offenbar richtig gewesen. Das Gespräch entwickelte sich höchst angenehm, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. Er ließ sich von Davenport beraten und nahm einen Black Grouper, einen Fisch, gefüllt mit Krabben, und dazu einen kalifornischen Chardonnay. Der Kellner, ein schon älterer Schwarzer mit spiegelnder Glatze und in blendendweißer Jacke, beteiligte sich an der Beratung. Die Art, in der er mit Davenport und der mit dem Kellner umging, erinnerte ihn an Filme aus den alten Südstaaten, an Baumwollplantagen und Herrenhäuser hinter Säulen, in denen treue, alte Diener wirkten, die mehr oder weniger zur Familie gehörten und ihre Meinung ungeniert kundtaten.
     Nach den Präliminarien wollte Davenport offensichtlich eine Kurzfassung seines Referats hören, und die gab er ihm bereitwillig. Er verzichtete auch dieses Mal auf Geschwafel, sparte sich Klischees wie die Transparenz des Bauwerks und das Licht als Baumaterial, die Durchdringung des Raumes und dergleichen, konnte aber, als Davenport ihn fragte, welche Vorstellungen er denn von der Sammlung habe, die in dem neuen Museum ihren Platz Dnden sollte, ihm antworten, daß er einen repräsentativen Teil dieser Sammlung kenne. Er hatte schon am ersten Tag nach ihrer Ankun+, mit der Zeitverschiebung noch in den Knochen, die Ausstellung etlicher der Schätze Davenports besucht, die zur Zeit in einer der Galerien Savannahs stattfand.
     Es war nicht zu übersehen, daß er mit dieser Antwort Punkte gesammelt hatte. Und das setzte sich fort, als er gestand, daß er seine allererste Bekanntschaft mit der frühen amerikanischen Kunst - der Kunst, die Davenport sammelte - einer Ausgabe des Lederstrumpf verdankte, einem zerlesenen Buch, auf dessen Umschlag ein Bild von John Kensett abgebildet war, eine Ansicht des Lake George. Später habe er wissen wollen, was es mit diesem Bild und seiner atemberaubenden Stille auf sich habe, und so sei er auf die Hudson River School gekommen und auf Kensett und Bierstadt und natürlich Winslow Homer und von dem auf den Bürgerkrieg und den Süden.
     Irgendwann sagte Davenport wie beiläufig, die Konferenz mit ihren zahlreichen Veranstaltungen lasse ihm wahrscheinlich ja gar keine Zeit, sich in der Stadt umzusehen; oder ob er Savannah schon von früher kenne? Er sagte nein, er sei zum erstenmal hier, und dann lachte er unversehens. Davenport sah ihn erstaunt an.
     Er entschuldigte sich und sagte, es gebe da eine absonderliche Parallele zwischen ihm selbst und einem Bestsellerautor, den Davenport sicherlich kenne, und zwar habe er Clint Eastwoods Film über Savannah gesehen, und dann habe er das Buch gelesen, auf dem der Film beruhe, John Berendts Midnight in the Garden of Good and Evil, und genau wie der New Yorker Berendt habe er schon als kleiner Junge zum erstenmal von Savannah erfahren, nämlich auch er, als er die Schatzinsel verschlungen habe, die Abenteuergeschichte von Robert Louis Stevenson.
     Es war anzunehmen, daß Davenport nicht nur John Berendt, sondern auch Stevenson und die Schatzinsel kannte, aber seine Erinnerungen trieben Schumann weiter, und Davenport hörte sich tatsächlich geduldig an, wie Kapitän John Flint, der blutdürstige Pirat, durch allzuviel Rum ans Sterben kam und seinem Maat Billy Bones den Fetzen Papier übergab, auf dem die Insel und der Ort darauf skizziert waren, wo Flints zusammengeraubter Schatz vergra- 18 ben lag, und daß dies alles laut Stevenson am 20. Juli 1754 geschehen sei, und zwar, wie Davenport natürlich wisse, nirgendwo anders als in Savannah.
     Seither, fuhr er fort, habe das Wort für ihn jedenfalls eine ganze Reihe von Assoziationen transportiert, Seehafen, heiße Nächte und Sonne über Tag und natürlich Rum (dessen Geruch er durch die Backzutaten seiner Mutter gekannt habe) und Abenteuer und dunkles Geheimnis und wer weiß was sonst noch. Diese wunderbare Fracht von Impressionen und Gefühlen habe sein Begri von Savannah auch nicht verloren, als er während des Studiums den General James Oglethorpe und dessen geometrischen Plan für den Bau der Stadt kennengelernt habe. Und daß in dieser Gegend gleichwohl nicht alles nach geometrischen Plänen verlaufen sei, habe er dann noch einmal erfahren, als er versucht habe, sich auf die gegenwärtige Konferenz vorzubereiten. Er lachte wieder.
     Davenport fragte: "Wie meinen Sie das?"
     Er sagte, ihm sei ein Buch über die ganz eigene Kultur der Neger in die Hände gefallen, die hier an der Küste Georgias und weiter hinauf in South Carolina lebten, die Gullahs oder Geechee oder so ähnlich, der Titel laute jedenfalls Drums and Shadows, ein faszinierendes Buch.
     Davenport fragte: "Drums and Shadows? Das haben Sie gelesen?"
     Er sagte, er habe es nicht Wort für Wort gelesen, aber genug, um sehr beeindruckt zu sein und auch ein bißchen unsicher, o en gesagt, nämlich wegen dieser Voodoo- Künste, die die schwarzen Sklaven aus Afrika mitgebracht hätten. Allerdings sei die Studie, über die das Buch berichte, ja schon etwas angejahrt, und deshalb wisse er nicht, ob ihre Kultur tatsächlich noch immer unbeschadet existiere.
     Davenport nickte und lächelte. Plötzlich hob er die Hand, sah auf seine Uhr. Er sagte, er müsse abermals um Entschuldigung bitten, aber es sei Zeit für ihn, in sein Büro zurückzukehren.
     Der schwarze Kellner sagte beim Abschied: "Bye, Mister Luther" und wünschte ihnen einen schönen Tag. Als sie vor die Tür traten, stand ein Mercedes an der Bordsteinkante, der Fahrer stieg aus und öffnete die Tür zum Rücksitz. Schumann wollte sich schon bei Davenport bedanken und sich verabschieden, aber Davenport fragte, wohin er ihn bringen könne. Lieber wäre er zu Fuß gegangen, um aufzuräumen, was ihm durch den Kopf schwirrte, aber er stieg dann doch ein.
     Während der kurzen Fahrt zum 'Marriott' spürte er den Wein, er hätte gern die Beine von sich gestreckt und die Augen geschlossen. Aber sein Gastgeber wollte noch dieses und jenes und noch etwas mehr über das Museum wissen, das auch in den USA so glänzende Kritiken gefunden habe. Er war erleichtert, als sie vor dem Hotel anlangten. Der Fahrer öffnete ihm die Tür und ließ ihn aussteigen.
     Er war schon im Begri , an dem Portier, der zur Seite trat, mit einem Gruß vorbeizugehen, als er plötzlich einhielt. Er hob die Hand, sagte: "Excuse me!" und wandte sich zurück. Dann ging er ein paar Schritte über den Gehsteig, ging schließlich bis zur Ecke der Montgomery Street und blieb dort stehen. Er sah geistesabwesend die Straße hinab.
     Lilly wartete auf ihn, ganz gewiß. Womöglich saß sie in der Halle des Hotels, um ihn nicht zu verpassen. Womöglich hatte sie ihn schon gesehen, würde aus der Halle hinauslaufen auf die Straße, um festzustellen, wohin er verschwunden war, und zu ihm kommen. "Warum bist du denn umgekehrt?"
     Er trat hinter die Ecke der Montgomery Street. Was würde sie ihm zu berichten haben? Unversehens wurde ihm wieder heiß. Vielleicht waren Charlotte und Roland aus dem Nirgendwo zurückgekehrt. Das war es doch auch, was er hoffte.
     Roland hatte sich telefonisch bei Lilly gemeldet und ihr gesagt, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, und Hans auch nicht. Es habe ihn nur der Teufel geritten heute morgen, ja, und es tue ihm leid. Er habe bei dem schönen Wetter auf einmal keine Lust mehr gehabt, sich in einen verdunkelten Saal zu setzen, und das habe er Charlotte gesagt, und sie habe gesagt, das könne sie verstehen.
     Es sei nicht Charlottes Schuld gewesen, aber sie habe sich von ihm überreden lassen. Sie seien durch den Shop auf die Straße hinausgegangen, und als zufällig ein Taxi gekommen sei, habe er es angehalten, und sie seien eingestiegen, er und Charlotte auch. Ja, und dann seien sie nach Tybee Island hinübergefahren und hätten einen langen Spaziergang am Strand entlang gemacht, es sei wirklich wunderschön gewesen in der Spätsommersonne, und dann hätten sie zu Mittag gegessen, und jetzt wollten sie dann allmählich wieder aufbrechen und ins Hotel zurückkommen.
     Lilly solle das auch ihm, Hans, sagen und ihn beruhigen; es sei ja möglich, daß er die Sache in den falschen Hals bekommen habe. Charlotte wolle ihn jedenfalls im Augenblick lieber nicht anrufen; sie fürchte auch, daß er gekränkt sei, weil sie sein Referat geschwänzt habe. Aber sie sei wirklich nicht daran schuld gewesen. Und ob denn das Referat auch viel Beifall bekommen habe? Es sei doch sicher gut angekommen.
     Ja. Und alles wäre wieder in Ordnung. Oder etwa nicht?
     Nun ja - daß seine Frau die Gesellschaft eines Mannes wie Roland seinem öffentlichen Auftritt in dieser wichtigen, letzten Endes doch auch für sie selbst wichtigen Konferenz vorgezogen hatte, irritierte ihn, es kränkte ihn, ja doch. Aber das war zu verschmerzen, oder? Sie hatte nicht nachgedacht, und ehe sie sich's versah, saß sie schon in diesem Taxi. Roland hatte sie überrumpelt. Roland, dem er ja von Anfang an nicht abgenommen hatte, daß er sich für sein Referat interessierte.
     Er ging auf dem Bürgersteig fünf Schritte voran, blieb stehen und ging fünf Schritte zurück. Lilly würde von dieser Geschichte kein Wort glauben. "Diese beiden mußt du nicht entführen, damit sie von der Bildfläche verschwinden. Meinen Mann nicht, und deine Frau auch nicht."

Mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlages

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