Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Janos Sekely: Der arme Swoboda. Teil 3

20.02.2006.
3. Kapitel

Der fünfzehnte März

Am vierzehnten März herrschte unbeschreibliches Wetter. Der Frühling ließ äußerst auf sich warten. Üblicherweise sonnte man sich zu dieser Jahreszeit auf der Terrasse; dieses Jahr jedoch zeigte sich der Winter besonders hartnäckig. Die halbe Stadt lag erkältet im Bett, eingehüllt in den aromatischen Duft von Kräutertee, den man von morgens bis abends schlürfte. Es hatte fünf Tage lang ununterbrochen geschneit, und turmhohe Verwehungen deckten die Felder zu. In der Nacht des vierzehnten tobte ein böiger Sturmwind von den Hügeln. Am Morgen waren viele Ladenschilder weggerissen, und in den umliegenden Wäldern lagen Dutzende von entwurzelten Bäumen herum.
     Niemand erschien an jenem Tag im Kaffeehaus. Selbst der einarmige Oberst war nicht heruntergekommen, es hatte nämlich auch ihn erwischt, und der Arzt hatte ihm befohlen, das Bett zu hüten. Auch sonst hatte niemand Lust, bei diesem Weltuntergangswetter die Nase aus dem Haus zu strecken. Sogar der Morgenzug war ausgeblieben. Entweder war er unterwegs eingeschneit oder annulliert worden, sagten sich die Leute. Wegen des Schneesturms waren die Telefonleitungen unterbrochen, Zeitungen trafen keine ein, und das Radio blieb stumm. Die Stadt war vom Rest der Welt abgeschnitten.
     Fünf Kontinente sahen mit angehaltenem Atem dem sich zusammenbrauenden irrwitzigen Melodrama entgegen, das innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Welt in ihren Grundfesten erschüttern würde, derweil die alten Leutchen ahnungslos hinter ihren großen Porzellanöfen saßen. Für sie war der Tag bloß fad und unerträglich lang. Sie vermißten den täglichen Klatsch im "Biedermeier" und den kurzen Spaziergang zum Masaryk-Platz. Wie an ihren Trott gewöhnte Karrengäule verabscheuten sie jegliche Unterbrechung ihrer Alltagsroutine. Und so brummelten und zankten sie den ganzen Tag im Haus herum. Um punkt sechs Uhr hießen die Männer ihre Frauen das Abendessen auftragen, und um halb acht schickten sie das Hausmädchen die heißen Bettflaschen bereitstellen.
     An jenem Abend lag die ganze Stadt bereits um neun Uhr in tiefem Schlaf. Die verdunkelten Häuser duckten sich zwischen den Schneeverwehungen wie geduldige Dromedare in der Wüste. Bei Einbruch der Nacht hatte der Schneesturm nachgelassen, aber der Wind trieb immer noch Schneeschwaden durch die ausgestorbenen Gassen. Im Wald ächzten die Riesenfichten wie Schloßgespenster aus alten Zeiten.
     Da rumpelte um zwei Uhr früh ein schwerer Armeelastwagen durch die schlafende Stadt. Als er den Masaryk-Platz erreichte, sprang ein bis zu den Zähnen bewaffneter Trupp SA-Männer heraus, stürmte die Gendarmeriehauptwache und "entwaffnete" die drei wunderbaren weißhaarigen Gendarmen, die den Schlaf der Gerechten schliefen, während ihre Wärmeflaschen unter dem Saum ihrer langen Nachthemden langsam kalt wurde.
     Dies ereignete sich vier Stunden vor dem "offiziellen" deutschen Einmarsch. Die kleine Provinzstadt verdankte den frühmorgendlichen Besuch ihrer stategischen Lage an der Eisenbahnstrecke Berlin-Prag, die zu bewachen der SA-Trupp abkommandiert worden war.
     Nach der Gendarmeriehauptwache war das Postamt dran, denn die Männer hatten Befehl, als erstes sämtliche öffentlichen Gebäude einzunehmen. Leider war das Postamt unbesetzt; es hatte vorschriftsgemäß seit achtzehn Uhr geschlossen. Da sich dort auch das lokale Fernsprechamt befand, konnte nach dieser Uhrzeit auch kein Anruf mehr getätigt werden. Aber Befehle - vor allem deutsche - sind Befehle. Also rammten die unzimperlichen Sturmleute die Tür und "besetzten" die Diensträume. Einer der jugendlichen Krieger richtete sich gleich im Büro des Postamtvorstehers häuslich ein. Nachdem er eine Dose Ersatzfleisch verspeist hatte, streckte er sich gemütlich auf der Liege des Postamtvorstehers aus und schlief auf der Stelle ein, wobei er sein Maschinengewehr umarmte wie eine treue Soldatenbraut.
     Drei der SA-Leute waren im Lastwagen geblieben. Einer war der Obertruppführer, ein baumlanges Elend, siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte strohblondes Haar, völlig ausdruckslose Gesichtszüge und einen winzigen, kugelrunden Schädel, so daß Lästerzungen ihn "Backerbs-Pruski" tauften. Bei ihm waren zwei rangniedere Sturmmänner, auch sie blond, blauäugig und schafsgesichtig.
     Während ihre Kameraden die öffentlichen Gebäude "besetzten", widmeten sich die drei Spezis profitableren Dingen. Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, fielen sie über die betuchteren Bürger her und raubten den vor ungläubigem Entsetzen starren Opfern Bargeld, Schmuck und sämtliche greifbaren wertvollen Gegenstände. Wenn der Führer sich die ganze Tschechoslowakei aneignete, nur weil keiner da war, im Einhalt zu gebieten, dann konnten sich wohl seine gehorsamen Gefolgsleute genausogut die mühselig erworbenen Sparsocken ihrer ebenso wehrlosen Bürger aneignen. Sie konnten ja nicht ahnen, mit welch andächtigem Fleiß diese friedliche Provinzbevölkerung ihre paar Schätze angehäuft hatte; was einer silberhaarigen alten Dame ein Porzellandöschen bedeuten mochte, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, oder wie sehr ein alter Herr an der schweren, altmodischen Golduhr hing, die ihm sein Schwiegervater zur Hochzeit geschenkt hatte.
     Die Männer und Frauen, die am Abend vorher im Glauben eingeschlafen waren, auf der Welt gehe alles seinen mehr oder weniger geordneten Lauf, fragten sich entsetzt, ob das, was ihnen geschah, Wirklichkeit war oder ein Alptraum. Lange nachdem die Sturmleute in ihrem Laster davongebraust waren, flackerte immer noch Licht hinter den zugezogenen Vorhängen der kleinen Landhäuser. Verweinte Hausmädchen wrangen kalte Kompressen für die gefährlich klopfenden Herzen ihrer Herrschaften. Alle paar Minuten klingelte es beim Bezirksarzt, der kaum mehr wußte, wie mit den vielen Notfällen fertig werden.
     Am nächsten Morgen fühlte sich die Stadt wie ein Patient, der benommen aus einer Narkose aufwacht. Die SA hatten das Hakenkreuz am Rathaus gehißt, und die Straßenschilder am Masaryk-Platz waren mit weißen Pappschildern überklebt, auf denen mit ungelenken Buchstaben Adolf-Hitler-Platz geschrieben stand. Die Vorbeigehenden tauschten stumme Blicke, viele schluchzten wie Babys.
     Klar, sie verstanden nichts von Politik. Die Entfernung vom Hexenkessel, in dem das Schicksal von Nationen gebraut wurde, und die Nähe zum Friedhof auf dem Hügel dämpften Worte und Gedanken. Seit Jahrhunderten hatte dieser friedliche Mittelstand beruhigt von einem Land geträumt, das von jenem Mann verkörpert wurde, dessen Name jetzt überklebt war: Masaryk. Ein Name, der Freiheit und ein Leben in Würde bedeutete. Und als sie nun diesen anderen Namen darüber geschmiert sahen, war es für sie, als sei das Grab ihrer Väter geschändet worden.
     Sie verstanden nicht recht, was geschehen war; die Plötzlichkeit der Ereignisse hatte sie überrollt. Nichts schien mehr unmöglich zu sein. Den kühlsten Köpfen entsprangen die wildesten Geschichten. Gestandene Männer erzählten mit Grabesstimme Schauermärchen weiter, für die sie noch vor ein paar Tagen von ihren Enkeln ausgelacht worden wären. Die ganze Stadt war außer Rand und Band.
     Die alte Herren im Kaffeehaus steckten die Köpfe zusammen wie Verschwörer angesichts des Galgens. Sie flüsterten aufgeregt und blickten nach jedem Satz ängstlich um sich. Alle paar Minuten tauchte der verstörte Wirt in der Tür auf, den Finger auf die Lippen gelegt: Psst, Schweigen ist Gold, meine Herren!
     Gegen halb neun betrat Justizrat Novotny das Kaffeehaus, ein jähzorniger Zwerg, der an Bluthochdruck litt; man hätte ihn bloß mit der Fingerspitze antippen brauchen, und er wäre geplatzt. Vor Aufregung vergaß er sogar zu grüßen. Er ging stracks auf den Herrn Bürgermeister zu, der sich zu den alten Herren gesetzt hatte, weil die SA-Leute den Weg zu seinen Amtsräumen verbarrikadiert hatten. Justizrat Novotny wischte sich über die Stirn und blickte nervös um sich, ob nichts Deutsches in Sichtweite war. Dann überreichte er dem Herrn Bürgermeister ein paar eng maschinenbeschriebene Blätter: Es war die von ihm verfaßte Beschwerde gegen die nächtlichen Plünderer. Sie war an das Generalhauptquartier der Wehrmacht adressiert und sollte von all denen, die geschädigt worden waren, unterzeichnet werden.
     Das Vorgehen fand allgemeine Zustimmung. Es hatte nämlich den Anschein, als seien die drei Sturmmänner eigenmächtig auf Beutezug gegangen.
     "Wenn dem so ist", erklärte der Herr Bürgermeister erleichtert, "vertraue ich darauf, daß die Behörden für die Rückgabe des Raubguts Sorge tragen werden."
     Die Zeit drängte! Die drei Bösewichter hätten ja verschwinden oder ihre Beute loswerden können, bevor die Beschwerde beim Generalhauptquartier eintraf. Es wurde also beschlossen, die Kosten für ein Ferngespräch nach Prag untereinander zu teilen, und Justizrat Novotny eilte zum Fernmeldeamt.
     Eines hatte er sich allerdings nicht überlegt: nämlich, daß er nun in einem autoritären Staat lebte, in dem private Mitteilungen jedwelcher Art ungehörig waren. Der Sturmmann vom Dienst feuerte eine Salve Fragen auf ihn ab: "Wen wollen Sie anrufen?" "Wozu?" "In welcher Angelegenheit?"
     Dem Herrn Justizrat blieb nichts anders übrig, als sich seinen Weg in die Freiheit zu erlügen. Schließlich war er heilfroh, wieder auf der Straße zu stehen, wenn auch ohne seine Mission erfüllt zu haben.
     Unseligerweise für die Stadt hatte er nun weitere Idee. Er erinnerte sich daran, daß es vom Bahnhof eine direkte Telefonverbindung zur nächstgelegenen Industriestadt gab; er war ganz sich ganz sicher, daß dort irgendwelche deutschen Heeresführungskommandos stationiert waren. Also weihte er den tschechischen Bahnhofsvorsteher in die Geschichte ein, und dieser erlaubte ihm, anzurufen. Die zur Bewachung des Bahnhofs abkommandierten Sturmleute waren die Bahnstrecke inspizieren gegangen, da der Sonderzug des Führers fahrplanmäßig in ein paar Stunden vorbeifahren würde. Herr Novotny tätigte also seinen Anruf ohne Vermittlung und gab dem Bahnhofsvorsteher am anderen Ende der Leitung die notwendigen Anweisungen, die Beschwerde weiterzuleiten.
     Das unbesonnene Gespräch fand ungefähr um neun Uhr vormittags statt. Drei Stunden später entdeckten die Sturmleute an der Eisenbahnbrücke unweit des Bahnhofs einen Sprengsatz. Vom Täter - oder den Tätern - fehlte jede Spur.

Mit freundlicher Genehmigung des SchirmerGraf Verlages

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