Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Teil 1

03.09.2007.
Neuntes Kapitel


Gegenkosmopoliten

Gläubige ohne Grenzen


Sie glauben an die Würde des Menschen über alle Staatsgrenzen hinweg, und sie leben nach diesem Glauben. Sie teilen ihre Ideale mit Menschen in vielen Ländern, die zahlreiche Sprachen sprechen. Als überzeugte Globalisten nutzen sie ausgiebig das World Wide Web. Die Schar der Brüder und Schwestern widersteht dem krassen Konsumdenken der modernen westlichen Gesellschaft und deren wachsendem Einfluss in der übrigen Welt. Doch diese Menschen widerstehen auch den Versuchungen des engstirnigen Nationalismus jener Länder, in denen sie geboren wurden. Sie zögen niemals für ein Land in den Krieg. Aber sie schließen sich jedem Feldzug gegen Staaten an, die gegen universelle Gerechtigkeit sind. Ja, sie widerstehen dem Ruf jeglicher lokalen Treupflicht, aller traditionellen Loyalitäten und selbst der Familie. Sie wenden sich dagegen, weil dies dem einzigen, was zählt, schaden könnte: dem Aufbau einer Gemeinschaft erleuchteter Männer und Frauen in der ganzen Welt. Das ist auch der Grund, weshalb sie überkommene religiöse Autoritäten ablehnen (allerdings missbilligen sie auch deren Obskurantismus und Opportunismus). Nicht dass sie sich selbst für antireligiös hielten. Weit entfernt. Doch ihr Glaube ist einfach und klar und direkt. Gelegentlich ergehen sie sich in endlosen Debatten über die Frage, ob man die Übel der Welt abstellen kann oder ob ihr Kampf vergeblich ist. Doch meistens schreiten sie voran in ihrem Kampf für eine bessere Welt.

Sie sind nicht die heimlichen Erben der kosmopolitischen Kyniker, die gleichfalls für eine globale Sache stritten, weil auch sie keine Zeit hatten, sich um Lokales und Überkommenes zu kümmern. Die Gemeinschaft, die diese Genossen aufbauen, ist keine polis. Sie nennen sie Ummah, die Gemeinschaft der Gläubigen, und die steht allen offen, die ihren Glauben teilen. Sie sind junge, globale, muslimische Fundamentalisten. Und sie bilden das Rekrutierungsreservoir für al-Qaida.

Auch wenn einige von ihnen Amerikaner sind, würde ihre Aufteilung in Gläubige und Ungläubige von den meisten Amerikanern nicht akzeptiert. Viele Menschen, die man gemeinhin als Muslime bezeichnen würde, weil sie sich selbst so nennen, weil sie sagen, es gebe nur -einen Gott und Mohammed sei sein Prophet, weil sie täglich gen Mekka beten, Almosen geben und sogar die Hadsch unternehmen - viele dieser Menschen stehen in den Augen der Gemeinschaft außerhalb und bedürfen dringend der Rückbesinnung auf den wahren Glauben. Die neuen Globalisten der Ummah glauben, zu den Grundlagen des Islam zurückgekehrt zu sein. Viel von dem, was in der Welt als Islam gilt, und viel von dem, was über Jahrhunderte als Islam galt, halten sie für einen Irrtum. Der französische Wissenschaftler Olivier Roy schreibt darüber in seiner ausgezeichneten Darstellung des Phänomens, Der islamische Weg nach Westen:

     Natürlich ist der Islam definitionsgemäß universell, aber seit der Zeit des Propheten und seiner Gefährten (der Salaf) war er immer in bestimmten Kulturen verwurzelt. Diese Kulturen erscheinen nun als bloßes Produkt der Geschichte und Ergebnis vielfältiger Einflüsse und Idiosynkrasien. Für Fundamentalisten, und auch für manche Liberale, bieten diese Kulturen nichts, worauf man stolz sein könnte, weil sie die ursprüngliche Botschaft des Islam entstellt hätten. Die Globalisierung ist daher eine gute Gelegenheit, den Islam von jeder bestimmten Kultur abzulösen und ein Modell zu entwerfen, das jenseits der Kultur funktioniert.(1)

In ihrer Ablehnung traditioneller religiöser Autoritäten und ihrem Vertrauen auf die eigenen Interpretationen des Koran wie auch der Tradi-tionen ihres Glaubens gleichen sie in vielem den christlichen Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten. Auch sie glauben, dass Kirche und Theologen oft ein Hindernis zwischen den Gläubigen und der -Bibel darstellen und dass die Heilige Schrift für sich zu sprechen vermag. Die neuen muslimischen Fundamentalisten - Roy nennt sie Neofundamentalisten - verständigen sich untereinander meist in Englisch, weil viele von ihnen in einem Teil der Welt, auch in Europa und Nordamerika, aufgewachsen sind, in denen kein Arabisch gesprochen wird, und diese Weltsprache, die auch von vielen gebildeten Muslimen in Ägypten, Pakistan oder Malaysia verstanden wird, die einzige Sprache darstellt, die ihnen gemeinsam ist. (So teilen sie denn auch mit den christlichen Fundamentalisten die Unkenntnis der Originalsprachen der von ihnen -interpretierten Heiligen Schriften.) Die islamische Theorie über den Umgang zwischen Muslimen und Nichtmuslimen wurde in den muslimischen Ländern über die Jahrhunderte zum größten Teil für den Umgang mit nichtmuslimischen Minderheiten entwickelt. Heute jedoch lebt ein Drittel der Muslime in Ländern mit einer nichtmuslimischen Mehrheit. Tatsächlich ist der globalisierte Islam, wie Roy überzeugend darlegt, zum Teil eine Reaktion auf die Erfahrung der Muslime als Minderheiten.

Sie sind Kinder algerischer Einwanderer in Frankreich oder bengalischer oder pakistanischer Einwanderer in England; sie kommen aus der Türkei oder Saudi-Arabien, aus dem Sudan, aus Sansibar oder aus Malaysia. Für sie ist der Islam in allererster Linie ein Glaube, ein Satz praktischer Verhaltensweisen (Beten und Fasten, Almosen, die Hadsch, aber auch die Befolgung des Gebots, unreines Fleisch und Alkohol zu meiden), und eine Verpflichtung auf bestimmte Werte wie Sauberkeit und Bescheidenheit im alltäglichen Leben. Die Neofundamentalisten mögen von einer muslimischen Kultur sprechen. Aber sie lehnen weitgehend die Kultur ab, in die ihre Religion in jener Region eingebettet war, aus der ihre muslimischen Vorfahren ursprünglich kamen. Diese Kultur betrachten sie skeptisch als "bloßes Produkt der Geschichte", wie Roy schreibt. Sie haben eine Religion angenommen, die mit einer Lebensweise verbunden war, und dann weite Teile der Lebensweise abgelegt. Sie haben kein Bedürfnis nach nationalen Loyalitäten oder kulturellen Traditionen.

Die große Mehrzahl dieser meist jungen Neofundamentalisten wird allerdings niemanden in die Luft sprengen. Deshalb sollte man sie nicht mit jenen anderen Muslimen - Roy nennt sie "radikale Neofundamentalisten" - in einen Topf werfen, die den Dschihad buchstäblich als Krieg gegen den Westen interpretieren und zur sechsten Säule des Islam machen wollen. Es gibt aber auch Fundamentalisten, die Terrorismus und Gewalt ebenso entschieden ablehnen, wie bin Laden sie favorisiert. Ob man den Einsatz von Gewalt billigt, ist eine politische Entscheidung, selbst wenn man sie mit religiösen Begriffen rechtfertigt. Und gerade das Scheitern des Dschihad - Osama bin Ladens Scheitern - dürfte viele Fundamentalisten, so glaubt Roy, zurück zur dawa - Predigt und Unterweisung, Ermahnung und Vorbild - geführt haben als dem rechten Weg, Außenstehende und Abtrünnige für den Glauben zu gewinnen.

Innerhalb des Islam, vor allem außerhalb der muslimischen Länder, geschehen hier ganz ähnliche Dinge wie bei den Christen nebenan. Wir finden bei ihnen, wie Roy schreibt, dasselbe "Streben nach einer universellen Gemeinschaft jenseits von Kulturen und Nationen" und in beiden Fällen den Drang nach einer "Individualisierung der Religion".(2) Und dieser gerade erst individualisierte Islam ist ebenso wie katholische oder protestantische Formen des Fundamentalismus vollkommen vereinbar mit einer politischen und sozialen Integration als Minderheit in den Rahmen einer demokratischen Republik, die Religionsfreiheit garantiert.

Die eigentliche Besonderheit der Fundamentalisten, ob gewalttätig oder nicht, liegt darin, dass sie die Möglichkeit einer universellen Ethik aufzeigen, die das von mir gezeichnete Bild des Weltbürgertums in sein Gegenteil verkehrt. Ein Universalismus ohne Toleranz, das liegt auf der Hand, wird leicht mörderisch. Das ist eine der Lehren, die wir aus der traurigen Geschichte der europäischen Religionskriege ziehen können. Das universalistische Prinzip un roi, une foi, une loi (ein König, ein Glaube, ein Gesetz) lag den französischen Religionskriegen zugrunde, die das Land vier Jahrzehnte lang ausbluten ließen, bis Heinrich IV. 1598 im Edikt von Nantes den Protestanten in seinem Reich das Recht zur Ausübung ihres Glaubens einräumte. Im Dreißigjährigen Krieg, der bis zum Westfälischen Frieden 1648 in Mitteleuropa wütete, kämpften protestantische und katholische Fürsten, von Österreich bis Schweden, gegeneinander, und Hunderttausende von Deutschen fielen in den zahlreichen Schlachten. Millionen weitere verhungerten oder starben an Seuchen, während marodierende Armeen das Land ausplünderten. Im Englischen Bürgerkrieg von 1639 bis 1651, in dem protestantische Armeen gegen die Truppen des katholischen Königs kämpften, fielen wahrscheinlich zehn Prozent der Bevölkerung von England, Schottland, Wales und Irland den Kämpfen oder den Seuchen und Hungersnöten zum Opfer, die im Gefolge des Krieges auftraten. In all diesen Kriegen ging es neben Glaubensfragen ohne Zweifel auch um andere Dinge. Doch viele Liberale der Aufklärung zogen daraus den Schluss, dass die Welt nur wieder in Blut versinken werde, wenn man auf der einen universellen Wahrheit bestehe. Diese Lehre hatten im Westen auch viele angezogen, die sich gegen die Inquisition wandten. Auch dort wurde wie so oft Grausamkeit im Namen moralischer Reinigung, Mord im Namen universeller Wahrheit begangen.

Intoleranz gegenüber Andersgläubigen ist jedoch in der christlichen Welt keineswegs nur eine Sache der Vergangenheit. Viele amerikanische Christen glauben, Atheisten, Juden, Muslime, Buddhisten und alle übrigen seien zur Hölle verdammt, wenn sie Jesus Christus nicht annähmen. Manche Protestanten glauben dies auch von anderen Protestanten und von den Katholiken, und erst recht gilt das in umgekehrter Richtung. Diese Auffassung lässt sich vielleicht durch ein Mitgefühl begründen, das dazu drängt, jene Menschen zu bekehren, deren ewiges Seelenheil so gefährlich in der Schwebe hängt. Aber solch eine Auffassung führt nicht notwendig auch zu Respekt gegenüber jenen Menschen, die im Irrtum leben. Unter unseren christlichen Mitbürgern gibt es einige, wenn auch wohl nicht viele, die unseren Staat und unsere Gesellschaft stärker christlich ausrichten wollen: die Zehn Gebote in jedem Gerichtssaal, Abtreibung und Homosexualität verboten, die Evolutionslehre aus dem Biologieunterricht verbannt. Aber das ist es dann meist auch schon. Die Jahrhunderte der Blutbäder durch christliche Fürsten und das Heilige Offizium sind lange vorbei.

Dennoch sollten wir uns erinnern, dass es in den Vereinigten Staaten auch christliche Terroristen gegeben hat und dass einer von ihnen, Eric Rudolph, während der Olympischen Spiele 1996 in einem Park in Atlanta eine große Rohrbombe deponierte, die eine Frau namens Alice Hawthorne tötete, mehr als einhundert Menschen verletzte und ohne die rasche Reaktion eines Wachmanns noch weit mehr Opfer gefordert hätte. Wer solch einen Anschlag auf die Olympischen Spiele verübt, macht damit zugleich auch deutlich, dass er ein Feind des kosmopolitischen Gesprächs über Ländergrenzen hinweg ist. Rudolph wurde außerdem wegen der Ermordung eines Polizisten in einer Klinik in Birmingham verurteilt, in der gelegentlich Abtreibungen vorgenommen wurden, und wegen eines Bombenanschlags auf eine Bar für Lesbierinnen in Atlanta. Wir haben allen Anlass zu der Vermutung, dass er die Ziele, wenn auch (unnötig zu sagen) nicht die üblichen Methoden der christlichen Rechten teilte. Besonders besorgniserregend ist allerdings das Ausmaß an Unterstützung, das Rudolph nach Medienberichten in Orten wie Murphy, North Carolina, genoss, wo er schließlich auch gefasst wurde. Viele Einwohner der Stadt identifizierten sich offen mit Rudolph. Während der polizeilichen Fahndung wurden Sticker und T-Shirts mit der Aufschrift "Lauf, Rudolph, lauf!" gedruckt und in Geschäften des Ortes verkauft. "Rudolph ist ein Christ, und ich bin eine Christin, und er widmet sein Leben dem Kampf gegen die Abtreibung", erklärte eine junge Frau aus Murphy, Mutter von vier Kindern, gegenüber einem Reporter der New York Times. "Das sind unsere Werte. Das sind unsere Worte. Ich halte das, was er getan hat, nicht für Terrorismus."(3)

Timothy McVeigh tötete bei seinem Bombenanschlag auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City 168 Männer, Frauen und Kinder. Und obwohl seine Motive offenbar nichts mit Religion zu tun hatten, gilt er doch manchen Mitgliedern der Christian-Identity-Bewegung, die ihren Hass auf Schwarze, Juden und die amerikanische Bundesregierung mit Vorstellungen begründen, welche sie selbst offenbar für eine Form von Christentum halten, als Held. Ich setze diese Verbrechen nicht mit der multinationalen Mordorgie gleich, deren spiritus rector Osama bin Laden ist. Es kann kein Zweifel bestehen, dass er und diverse, mehr oder weniger eng mit ihm verbundene oder von ihm inspirierte Gruppen die größte terroristische Gefahr für die Vereinigten Staaten bilden und dass Osama angesichts seiner Popularität bei den Gegenkosmopoliten durchaus keine marginale Figur darstellt. Aber wir vermögen leichter zu erkennen, dass Osama bin Laden nicht der typische Muslim ist, wenn wir uns klar machen, dass Eric Rudolph nicht der typische Christ ist.

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(1) Olivier Roy, Globalized Islam: The Search for a New Unmath, New York 2004; dt.: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelun und Radikalisierung, München 2006, S. 42
(2) Ibid.; S. 154
(3) Jeffrey Gettleman und David M. Halbfinger, "Suspect in '96 Olympic Bombing and 3 Other Attacks Is Caught", New York Times, 1. Juni 2005, S. 1

Teil 2

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