Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Natasha Radojcic: Du musst hier nicht leben. Teil 3

23.01.2006.
Es ist Sonntag. Ich schwänze meine Ballettstunde. Meine Lehrerin, die neunzigjährige russische Ballerina Madame Voronec, ist blind. Alle schleichen sich hinaus, sobald die Sekretärin die Anwesenheit überprüft hat. Demi, Demi, Grand, Grand, kommandiert sie den leeren Raum. Der Begleiter, Herr Korischnik, bleibt und übt auf dem Klavier Jazz von herausragender Qualität. Er mag die Sekretärin. Ihre Beine sind lang und sie sitzt wie eine Dame.
     Ich renne zum Schwarzmarkt und wechsle meine D-Mark in Dollar. Das ist leicht. Niemand hier möchte Dollar. Nach den 30 heute habe ich insgesamt 965. Bisher weiß es noch niemand, aber ich werde nach Amerika gehen.
     Die Zigeunerin ganz hinten am Ende des Marktes und ich machen seit einiger Zeit Geschäfte. Sie schaut jedes Mal misstrauisch auf meine dunkle Haut und meine saubere Kleidung. Das passt nicht zusammen.
     Ihr Tuch mit roten und grünen Fransen bewegt sich in der Menge auf der anderen Seite des Marktes. IhreWaren sind auf der Motorhaube eines alten Volkswagen ausgebreitet. Ich frage mich, wer in aller Welt solch dummen Krimskrams kauft - lose zusammengeklebte Bonbons, verkrumpelte Rollen Tesafilm, merkwürdige Stifte - , aber ihre Fasane und Kaninchen sind jung und frisch.
     Sie verkauft auch eine Uhr.
     Eine wahre Schönheit. Sie preist ihr venezianisches Glas und das gute Mahagoni. Billig.
     Zwei trompetende Engel mit handgravierten Flügeln schaukeln im Rhythmus der vergehenden Zeit vor und zurück. Mutter würde sie lieben. Ihre Augen leuchten bei hübschen Dingen.
     Wie viel?, frage ich.
     Fünfzig.
     Heute Am-Leute-Ausrauben, was?
     Fünfzig, wiederholt sie.
     Niemals.
     Es ist ein Original. Gehörte einer Komtesse.Wir waren befreundet, damals in der ruhmreichen Zeit der Komtessen. Sie gab sie mir, bevor sie über den Fluss in die Ferne floh.
     Ich wollte nur die hier in Dollar tauschen.
     Bist du eine von uns?, fragt sie mich, als sie das Geld nimmt. Ich antworte nicht.
     Du bist dunkel, sagt sie.
     Und?
     Hast du die D-Mark geklaut?, fragt sie.
     Hast du die Uhr geklaut?
     Sie gehörte wirklich einer Komtesse.
     Da bin ich sicher, sage ich.
     So sicher, wie du keinen Tropfen Zigeunerblut in deinen Adern hast?

Vater ist teils Zigeuner, teils Österreicher, teils Serbe. Von ihm habe ich die schwarzen Augen, das schokoladenbraune Haar, Haut, die in der Sonne braun wird, und die Liebe zu Sprachen und harmonischen Formen. Die Tanten sagen, von ihm habe ich auch den Mund; ganz golden und voller Versprechen, ohne sie je einzulösen.
     Ich denke, Vater hätte einen guten Vater abgegeben, wenn er nicht mit den Krankheiten der schlechten Wahl und des schwachen Charakters infiziert gewesen wäre. Zu der Zeit, als er Mutter traf, war er schon einige Male verheiratet gewesen. Nachdem Mutter wegging, heiratete er noch einmal und zeugte noch ein Kind, richtete sich schließlich im Junggesellendasein ein, was am besten zu ihm passte.
     Vaters Vater war ein rothaariger Halbzigeuner. Er war auch ein berüchtigt brutaler Kerl, bekannt dafür, mit einem Dreispänner nach Mitternacht durch geschlossene Tore zu preschen. Gerüchten zufolge hat Großvater viele Menschen getötet und sie in einem Brunnen auf seinem Grundstück bestattet. Jahre später explodierte auf mysteriöse Weise ein Pulverfass in dem Brunnen und vernichtete alle Beweise.
     Großvater ging mit sieben von zu Hause weg, als seine Zigeunermutter einen sechzig Jahre alten Mann heiratete. Der neue Mann hielt Großvater am Tag nach der Hochzeit eine Klinge an den Hals und sagte, ich bin jetzt der Herr im Haus. Großvater packte ein Pfund Käse, ein Pfund Brot und ein getrocknetes Hammelbein in eine Satteltasche, die er seinem neuen Vater klaute, und wanderte zweihundert Meilen durch die gefrorene Steppe, bis er zu einem Kavallerielager kam, wo er anfing, als Stalljunge zu arbeiten.
     Vaters Mutter Marta war ein frommes Mädchen, Einzelkind eines reichen österreichischen Siedlers, geboren mitten in einer Dezembernacht direkt vor Weihnachten, geschlagen mit einem Klumpfuß. Sie zeigte nie Anzeichen von Leidenschaft oder Wahnsinn, bis sie eines Tages, als sie von der Kirche heimhumpelte und ihr schlimmes Bein durch den Schlamm hinter sich herzog, ein junges, mit merkwürdig roten Haaren bedecktes Ding sah, das eine Stute zuritt. Die Ergebenheit, mit der die Stute ihre junge Mähne zu dem rötlich behaarten Arm meines Großvaters hinunterbeugte, noch bevor sie aufgezäumt war, brachte Großmutter durcheinander und lockte sie an. Sie verliebte sich augenblicklich in den strengen Geruch seines männlichen Torsos, in die Demut der frisch zugerittenen Stute und wollte von keinem anderen Freier etwas wissen. Kurze Zeit später heirateten sie. Großvater endete als reicher Mann.

Die Ehe meiner Eltern war so merkwürdig, wie sie kurz war. Sie hatten wenig oder gar nichts gemeinsam außer der falschen Vorstellung voneinander. Als sie sich trafen, studierte mein geschmeidiger und unwiderstehlicher Vater nach einem kurzen Versuch in Medizin und Jura Alte Sprachen. Zudem hatte er eine kinderlose Affäre mit der pummeligen, kurzsichtigen Kommilitonin, die seine Arbeiten tippte. Gleichzeitig wurde meine Mutter wütend auf ihren bald schon Exverlobten, weil er einer windigen Folkloresängerin mit großen Brüsten und ohne Talent teuren Schmuck schenkte.
     Die Romanze meiner Eltern war eine typisch melodramatische osteuropäische Liaison, von ausreichend ungesunder Intensität, um eine Zeit lang alle Erinnerungen an ihre bescheidene bäuerliche Balkanherkunft und die damit verbundene Rauheit auszulöschen. Mutter war geblendet von Vaters Geschichten über verspielte Pariser Rokokoarchitektur, die er nie gesehen hatte, über die er aber als Autorität sprach, und über die komplizierten Beziehungen der fehlerhaften anthropomorphen Götter des Olymps.

Jahre später, Mutter war schon tot, lief ich mit Vater durch ein Rotlichtviertel in Istanbul. Vom Fenster eines herrlich offensichtlichen Bordells, eingerahmt von schweren purpurnen Vorhängen und stimmungsvollem Licht, erkannten ihn vier Prostituierte und riefen seinen Namen. Bora, Salaam. Sie waren ganz begeistert, ihn zu sehen. Er hielt an und winkte zurück. Alle vier rannten herunter auf die Straße zu uns. Eine von ihnen lächelte süffisant und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Vater nahm mich in den Arm und sagte stolz, Meine Tochter, Alexandra, Sascha. Hübsch, hübsch, sagte sie und küsste meine Wange.
     Es waren nicht die verführerischen Geschichten von Zeus und Poseidons Kampf um den Thron, davon, wie nett und schlau Apollon, wie zart und sanft der treue Orpheus war, was Mutters Herz gefangen nahm. Es war die Offenheit und Leidenschaft, die Vater anfänglich jedem gegenüber ausstrahlte, durch die sich Mutter wie eine Königin fühlte.

Mutters eisige, genau bemessene Schönheit fand in Vaters Lügen keine Entsprechung. Auf dem Sockel, auf den sie dank ihres Aussehens über uns andere erhoben war, blieb sie unerfahren und unschuldig. Sie glaubte, dass die Wohnung Vater gehörte, ein mickriges Fragment seines ansehnlichen Erbes; dass die verkrüppelte Frau, die still am Fenster saß, nur seine Tante war, die nächsten Monat zu ihrer Familie zurückkehren würde. Wirklich besser für sie, sagte er, denn die seien noch wohlhabender.
     Schwanger, vier Monate, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, und einen Monat nach ihrer Hochzeit glaubte Mutter Vaters Märchen sieben weitere Monate, bis ein Mann in einem grauen Mantel kam, ihr sagte, er sei der Vermieter, und dass der nicht zahlende Bastard, seine umnachtete Mutter und wer auch immer Sie sind, Fräuleinchen, sicher ein Dummchen, denn wer sonst lässt sich von einem Scharlatan ein Baby machen, jetzt rausgeworfen würden. Und dann schlug die Wahrheit ein: Alles nur schöne Worte und kein Heller. Mutter weinte in den schwiegermütterlichen Ruhig-ganz-ruhig-mein-hübsches- Mädchen-Schoß. Die zwei waren Freundinnen geworden. Als sie zu Ende geweint hatte, packte sie die fünf Stoffwindeln ein, die sie hatte und die meine Lieblingstücher wurden, ein paar Schmuckstücke, die sie zur Hochzeit bekommen hatte. Und ging weg. Zweiunddreißig Tage später wurde ich geboren. Und siebenundzwanzig Tage nach meinem ersten Geburtstag wurden Mutter und Vater offiziell geschieden.

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin-Verlages

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