Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Patricia Bosworth: Schwarz & Weiß. Das Leben der Diane Arbus. Teil 1

31.08.2006.
Erster Teil
Russeks Fifth Avenue

Kapitel 1

Als Kind stand Diane Arbus oft auf dem Fenstersims im Apartment ihrer Eltern im San-Remo-Gebäude, elf Stockwerke über dem westlichen Teil des Central Park. Sie stand dort meist so lange, wie sie es aushalten konnte, und blickte auf die Bäume und die weit entfernten Wolkenkratzer, bis ihre Mutter sie wieder ins Zimmer zurückholte. Diane erzählte einige Jahre später: "Ich wollte sehen, ob ich es schaffte." Und dann fügte sie hinzu: "Mein Königreich erbte ich erst nach langer Zeit."
Sie entdeckte ihr Königreich schließlich mit der Kamera. Ihr Traum war es, jeden einzelnen Menschen auf der Welt zu photographieren. Das bedeutete: zäh werden, Risiken eingehen, und tatsächlich ist Diane immer sehr, sehr mutig gewesen; manche Leute bezeichneten sie sogar als verwegen. Doch für sie war dies ganz selbstverständlich, da sie ihrer Meinung nach aus "einer Familie jüdischer Aristokraten" stammte - wobei entsprechend ihrer Definiton Aristokraten eine Art existentiellen Mut besaßen. Was sie betraf, so hatte Adel nichts mit Geld oder gesellschaftlichem Rang zu tun. Aristokratie - das bedeutete für sie vornehme geistige Gesinnung, eine lautere Geisteshaltung sowie schier grenzenlosen Mut. Diese Eigenschaften hielt Diane Arbus für grundlegend.
In Wirklichkeit war Frank Russek, ihr Großvater mütterlicherseits, ein kleiner, gutmütiger Mann, 1880 aus Boleslawiec, Polen, in die Vereinigten Staaten gekommen; als Jugendlicher hatte er sich mit dem Verkauf von Erdnüssen in den zwischen St. Louis und Kansas City verkehrenden Zügen über Wasser gehalten. Dann zog er mit seinen Brüdern Simon und I. H. nach New York, wo sie erfolgreiche Buchmacher wurden. Sie erzählten Diane, der einzige Grund für sie, mit Pelzen zu handeln, sei gewesen, daß sie auf diese Weise auch im Winter, wenn die Pferderennbahnen geschlossen waren, eine Beschäftigung hatten. 1897 hatten Frank und I. H. in einem kleinen Ladenraum auf der 14. Straße, Ecke University Place in Manhattan, das Pelzgeschäft Russeks eröffnet. Nerze aus Michigan, Chinchillas aus den Anden, Eichhörnchen-, Biber- und Fuchspelze - all das wurde in ihrem kleinen Laden zum Verkauf angeboten.
Im Jahre 1900 heiratete Frank Rose Anhalt, eine robuste junge Frau mit heiserer Stimme. Auch Rose arbeitete im Pelzgeschäft, bevor 1901 ihre Tochter Gertrude und 1902 ihr Sohn Harold geboren wurden. Auch Harold wurde später Pelzhändler.
Die Familie Russek hatte so großen Erfolg mit der Herstellung modischer und doch preiswerter Pelzbekleidung, daß sie 1913 ihr Geschäft in die Fifth Avenue verlegen konnte, obwohl der Laden dort mit seinen 22 Quadratmetern kaum größer war. Es hieß sogar, daß gerade die Überschaubarkeit des Ladens den Umsatz steigerte; vor dem Geschäft standen die Käufer Schlange, um eingelassen zu werden.
Showgirls und Ehefrauen von Präsidenten kauften bei Russeks. Der Architekt Stanford White beispielsweise ließ sich einen Karakulfellmantel mit Nerzfutter und einem Kragen aus Otternfell anfertigen. Gelegentlich kam es auch vor, daß Frank Russek einen weniger prominenten Kunden in der Umkleidekabine einsperrte, so lange, bis sich dieser zum Kauf eines Mantels entschlossen hatte; das förderte den Umsatz.
1915 trat der Sohn eines kleinen Lebensmittelhändlers aus Crown Heights, David Nemerov, für einen Wochenlohn von 25 Dollar eine Stelle als Dekorateur bei Russeks an. Mit seinem guten Aussehen, seinem Ehrgeiz und seinem guten Geschmack machte er großen Eindruck auf die sechzehnjährige Gertrude Russek. Er war ein hervorragender Schneider, und so schneiderte er für sie, während er ihr zwei Jahre lang den Hof machte, ein Abendkleid, das ihrer Meinung nach "einfach überwältigend" war.
Zu dieser Zeit waren die Russeks bereits wohlhabend und lebten in einem Haus an der Park Avenue. Die Familie mißbilligte die Romanze zwischen der hübschen Tochter Gertrude und dem mittellosen David. David ließ sich jedoch nicht irritieren und warb weiterhin um Gertrude. Er stellte sie sogar seinem Vater vor, Meyer Nemerov, einem gebrechlichen, aber tyrannischen Mann, der die meiste Zeit mit Beten in einer Synagoge in Brooklyn verbrachte.
Viele Jahre zuvor war Meyer in Kiew durchgebrannt und hatte gegen den Willen der Eltern seine große heimliche Liebe, Fanny, geheiratet, obwohl er schon einer anderen versprochen war. Dann brüskierte er seine Eltern noch mehr, als er sich entschloß, nach Amerika auszuwandern. "Das wird ein Abenteuer!" begeisterte er sich; er ahnte nicht, welches Elend ihn in New York erwartete. Er verließ Rußland 1891, und Fanny folgte ihm ein Jahr später; in ihren Armen trug sie ihr erstes Baby, Joe, und zwei Leuchter, eine Decke und einen Samowar, der in allen ihren Wohnungen immer einen Ehrenplatz einnahm.
In dem engen jüdischen Getto von Manhattans Lower East Side gebar Fanny sechs weitere Kinder, darunter Zwillinge (von denen einer starb), während Meyer sich mühsam durchschlug und sich mit miesen, schlecht bezahlten Jobs unter ausbeuterischen Bedingungen und mit Grundstücksverkäufen über Wasser hielt. Doch schließlich konnte er in einem Keller seinen eigenen Laden eröffnen, der allerdings kein großer Erfolg wurde. Von Heimweh nach Kiew gequält, seiner Sprache und Kultur entfremdet, fühlte er sich zum Untergang verdammt. Dennoch klammerte er sich an diese alte Kultur. Für ihn umfaßte das orthodoxe Judentum Politik, Religion, Ernährung, einen bestimmten Wertkodex, kurz, die ganze Lebensweise. Nach der Arbeit begab er sich regelmäßig zum Studium des Talmud in die Synagoge, auch wenn er erschöpft war. Schließlich zog er mit seiner Familie nach Brooklyn, wo er in Crown Heights eine jüdische Schule, eine Yeshiwa, gründete, die den jüdischen Glauben festigen sollte.
Mittlerweile setzte er all seine Hoffnung in die Zukunft seiner vier Söhne, die er zu harter Arbeit antrieb und zu Sauberkeit und gutem Benehmen erzog. "Ich kann es nicht mehr schaffen, aber ihr. Ihr sprecht englisch. Ihr habt das amerikanische Tempo im Blut."
Als die Söhne noch Kinder waren, verkauften sie auf der Straße Bleistifte und putzten Schuhe, damit Meyer die Miete zahlen konnte. Und sie saßen alle bis spät in die Nacht über ihren Büchern. Aus den jüngsten Söhnen Willy und Meyer, wurden dann doch nur, sehr zum Verdruß ihres Vaters, Allerweltsschneider. Immerhin wurde Joe, der Älteste, ein bedeutender Broadway-Anwalt, und als David Nemerov Gertrude Russek heiratete, hatte er es geschafft; er war jetzt der "Prinzgemahl".
Beim Passahfest drehte sich alles um David. "Onkel David war Meyers Liebling, weil er alles richtig gemacht hatte, das Einheiraten in eine reiche Familie inbegriffen, was keinem der älteren Brüder gelungen war", meinte die Cousine Dorothy Evslin.
Schon die schlanke, elegante Erscheinung Davids stand in krassem Gegensatz zu der seiner Brüder und seiner Schwester Bessie, die untersetzt und rundlich wie Kürbisse waren - wie ihre Mutter, eine freundliche, gutherzige Frau, die sehr hübsche Aquarelle malte und eine erstklassige Näherin war. "Sie brachte David das Nähen bei", kommentierte seine Schwester Bessie.
Ihrem Vater zuliebe bemühten sich die Nemerov-Brüder beim Passahfest, ihre Differenzen zu kaschieren und sich ihre gegenseitige Abneigung und Rivalität nicht anmerken zu lassen. Trotzdem brachten David und Joe füreinander nur ein Minimum an Höflichkeit auf. Das lag daran, daß der Junggeselle Joe ganz offen mit seiner Freundin, einer Revuetänzerin, zusammenlebte. David drückte mehrmals seine Mißbilligung darüber aus. Später äußerten seine Cousins, daß gerade David am wenigsten das Recht gehabt hätte, Kritik zu äußern, da doch seine eigene Hochzeit hinreichend kompromittierend gewesen war - Gertrude Russek-Nemerov brachte ihren Sohn Howard, der später einer der bedeutendsten Dichter Amerikas werden sollte, drei Monate nach der Hochzeit zur Welt.

Gertrude und David waren in ihren ersten Ehejahren sehr glücklich. Sie wohnten in einem großen Apartment an der 73. Straße West, hatten zahlreiche Diener und sogar ein strenges deutsches Kindermädchen für das Baby. David, der entschlossen war, so reich wie möglich zu werden, machte Überstunden im Pelzgeschäft, was ihm den Respekt des Russek-Clans einbrachte. David hatte Geschick im Einzelhandel und in der Werbung und außerdem Gespür für bestimmte Modetrends. Als er 1920 die Pariser Modenschau besuchte, war er von der Pracht der Modelle, von den vielen Borten, Knöpfen und Stickereien so überwältigt, daß er zu der Meinung kam, der Pelzhandel allein würde ihn in Zukunft nicht mehr ausfüllen.
Er träumte von einem eigenen Fachgeschäft. Da die Firma "Russeks Pelze" finanziell sehr erfolgreich war - die Russeks waren mittlerweile Millionäre -, sah David nicht ein, weshalb der Laden nicht expandieren und auch Kleider, Anzüge, Unterwäsche und Hüte ins Sortiment aufnehmen sollte. Aber dazu brauchte man mehr Platz; Russeks würde umziehen müssen.
Frank und I. H. hatten allerdings zu solch einem Umzug keine große Lust; sie waren mit ihren Geschäften zufrieden. Was sie im Grunde wirklich faszinierte, waren Pferderennen. David ließ jedoch nicht locker und setzte seine Versuche fort, sie davon zu überzeugen, daß man aus Russeks eine Art Kaufhaus machen könnte, das alle anderen Fachgeschäfte erübrigen würde. Er versprach ihnen ein Schmuckstück, ein funkelndes Spektakel mit den schönsten Waren aus der ganzen Welt. Die Schaufenster würden die reinsten Bühnendekorationen sein und die einzelnen Abteilungen ein Schlaraffenland ...
Nach einiger Zeit besprachen sich die Brüder Russek mit Max Weinstein, einem ehemaligen Mantelfabrikanten, der nun eine Bank im alten Waldorf-Astoria-Hotel an der 34. Straße besaß, über das Projekt. Er fand die Idee, ein großes Fachgeschäft aufzumachen, großartig und investierte eine halbe Million Dollar, die Gebrüder Russek ebenfalls eine halbe Million (und David eine weitere halbe Million). Weinstein sollte Vorstandsvorsitzender von Russeks werden, Frank und I. H. sich weiterhin um die Pelzabteilung kümmern und David das Management übernehmen.

1923 eröffnete das neue Geschäft. Das prachtvolle Kaufhaus Russeks lag an der Ecke Fifth Avenue und 36. Straße. Die Fassade des siebenstöckigen Gebäudes (in dem sich vormals Gorham Silbersmiths’ Geschäftsräume, entworfen von Stanford White, befunden hatten) war beeindruckend und sah mit ihren Balkons und Marmorsäulen fast einem venezianischen Palazzo ähnlich.
Wie es den Vorstellungen Davids entsprach, bedeckten purpurfarbene Samtteppiche die Böden, und das Verkaufspersonal verhielt sich entsprechend beflissen und distinguiert. Pelze blieben auch weiterhin die Grundlage für den finanziellen Erfolg des Unternehmens (Pelze wurden im Erdgeschoß und im ersten Stock angeboten, wohl auch deswegen, weil Nemerov fest daran glaubte, daß Pelze auf irgendeine geheimnisvolle Art ein primitives Symbol für Stärke darstellten: "Ein Pelz verleiht Ihnen das Image eines Beschützers", erklärte er einem seiner Kunden einmal); es gab aber auch Abteilungen für Damenkleider mit preiswerten und teuren Modellen, eine Abteilung für Hüte und eine Boutique für Damenunterwäsche, außerdem einen Schönheitssalon und einen Salon für Hochzeitskleider.
Von Anfang an zeigte sich, daß David ein Pionier in Sachen Mode war (bis heute ist er Leuten wie dem Kleiderfabrikanten Ben Zuckerman als einer der kreativsten Geschäftsmänner in Erinnerung geblieben). In den zwanziger Jahren stellte er für Filmstars wie Mae Murray und Norma Talmadge eine Russeks-Garderobe zusammen. Er war der erste, der einen Silberfuchsmantel kreierte, der erste, der Pelzwesten einführte. Zehn Jahre lang gab er eine Russeks-Pelzmoden-Broschüre heraus, die über zweihundert renommierte Pelzhändler aus allen Teilen der USA abonniert hatten, denen sie als Vorbild diente. Es war seine Idee, Pariser Originalmodelle zu kopieren, was bald Schule machte. Bei Russeks verkaufte man preisgünstige Kopien von Chanel-Kostümen und Paquin-Mänteln. 1928 konnte man bei Russeks die Imitation eines plissierten Vionnet-Kleides für den Nachmittag für 23.50 Dollar kaufen - "nicht exklusiv, aber geschmackvoll".
Außerdem gab Nemerov ein Vermögen für Zeitungsanzeigen aus, in denen der Russeks-Chic angepriesen wurde. Jeden Tag erschienen Anzeigen, wobei Photographien und Illustrationen wechselten (eine weitere Neuerung - niemand benutzte damals Photos für Zeitungsanzeigen). Seine Vorlagen waren "die ansprechendsten in der gesamten Branche", bestätigt Andrew Goodman, Direktor von Bergdorf-Goodman.
Doch Frank Russek sah manchmal auch eine Anzeige, die ihn in Wut versetzte. Er war der Überzeugung, daß Russeks’ Identifizierung mit allzu eleganten Artikeln den Durchschnittskäufer letztlich abschrecken würde. Er und Nemerov stritten sich ständig über die ambivalente Verkaufsstrategie von Russeks. Einerseits war es ein extravagantes Fachgeschäft für modische Pelze, hinsichtlich der Qualität dem von Henri Bendel auf der 57. Straße West vergleichbar. Andererseits lag Russeks mitten im Bezirk um die 34. Straße und war darum bemüht, den Normalverbraucher zu erreichen. Doch im Gegensatz zu Lord & Taylor oder B. Altman - beides geräumige, sorgfältig entworfene Kaufhäuser - litt Russeks unter seinen baulichen Nachteilen. Schon bald nachdem die Russeks in das Gorham-Gebäude umgezogen waren, merkten sie - zu spät -, daß die sieben Stockwerke zu eng und die Verkaufsmöglichkeiten aufgrund der Gestaltung der Räume beeinträchtigt waren: Die altmodischen Säulen und Nischen sahen zwar sehr hübsch aus, behinderten jedoch den Durchgang und reduzierten die Ausstellungsfläche. Aber: Die Enge im Erdgeschoß erhöhe das Umsatzpotential dieser Abteilung - das war Frank Russeks Meinung nach der Hauptfaktor für eine gesunde Rendite.
Ben Lichtenstein, der dreißig Jahre lang Werbemanager bei Russeks war, behauptet: "Russeks konnte nur deshalb so lange überleben, weil David so begeistert und engagiert war. Er selbst war die beste Reklame - ein ›Showman‹ wie Bernie Gimbel und John Wanamaker. Er provozierte nie einen Konkurrenzkampf mit seinem Erzrivalen I. J. Fox direkt gegenüber in derselben Straße oder einen ›Krieg‹, wie ihn Gimbel mit Macy’s austrug. Nein, David führte geschmackvolle Anzeigenkampagnen, die den Eindruck erweckten, Russeks sei überaus erfolgreich, auch wenn die Zeiten schwierig waren. Er wußte, daß Mode eine Art Theater war, daß Mode kurzlebig war - sie wechselte dauernd. Die Mode hielt David in einem Zustand permanenter Anspannung, und das wirkte ansteckend."
Und er schien über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Er wußte einfach, daß in einer Saison Baguette-Schmuck und Spitzenfächer, kombiniert mit pelzbesetzten Mänteln, die Renner sein würden. Er hatte ein Gespür dafür, was Frauen gefiel, er beriet Ehemänner, was sie ihren Geliebten zu Weihnachten schenken sollten - französisches Parfüm, Unterwäsche aus Satin, einen Strauß künstlicher Veilchen - und er traf immer das Richtige. Mit der Zeit erwarb sich Russeks den Ruf, das Kaufhaus für "ausgehaltene Frauen" und Revuegirls zu sein. "Russeks hat schon immer ein wenig übertrieben", meint die Modejournalistin Eleanor Lambert, "und es war immer auch ein bißchen vulgär."
1935 eröffnete Nemerov zusammen mit Ruth Waltz, einer Volkswirtschaftlerin und Modeexpertin, ein Büro, das dem Pariser "Modelabor" zur Untersuchung von Modetrends glich. Er fand heraus, daß Kostüme in bestimmten Zeitabständen zum Verkaufsschlager wurden, daß unweigerlich auf eine gute Saison für dezente Kostüme eine gute Saison für schreiende Farben folgte. Besonders als Schöpfer der Russeks-Pelze, dem Markenzeichen von Russeks, "war David Nemerov ein absolutes Genie", erklärt Ben Lichtenstein: "Wir waren die größten Abnehmer von unverarbeiteten Fellen in der westlichen Welt." Er wußte, daß Frauen sich immer für Pelze interessieren würden, weil sie so weich und luxuriös waren. Also entwarf er zusammen mit den Modeschöpfern im Russeks-Studio den ersten Abendmantel aus Hermelin, den ersten langen Mantel aus Dachsfell, Schals aus Nerz und Fuchs. Er war der erste, der versuchte, Nerzpelze zu bleichen.
Er spürte, daß die Struktur des Pelzes und die Figur der Frau sorgfältig aufeinander abgestimmt werden müssen, wenn man den Pelz zuschneidet, denn sonst würden beide lächerlich wirken. Und er war auf der Seventh Avenue bekannt dafür, daß er mit den Textilproduzenten stundenlang über die Vor- und Nachteile eines bestimmten Materials, etwa für einen Seidenpullover, diskutierte. Gelegentlich trug er im Büro ein scharlachfarbenes Jacket, um zu demonstrieren, daß Männer nicht immer nur braun, grau oder blau gekleidet sein mußten.
Lichtensteins Ansicht nach hatte Nemerov nur einen, allerdings großen Fehler: "Von Geld verstand er absolut nichts." Zahlen langweilten ihn. Er hatte keine Ahnung, wieviel Gewinn oder Verlust Russeks machte - oder ob er selbst Geld besaß. "Ich glaube nicht, daß er jemals in eine Bank ging oder einen Scheck ausstellte", vermutet Lichtenstein. "Er veranlaßte, daß der Buchhalter von Russeks alle Rechnungen bezahlte, die im Haushalt von Gertrude anfielen, und kleinere Beträge borgte er sich oft von mir. Wenn er unvorhergesehen Bargeld brauchte, kritzelte er einfach ›50 Dollar‹ auf ein Stück Papier und gab es dem Russeks-Kassierer."
Max Weinstein - ein Mann, der mit Zahlen bestens vertraut war (er war nicht nur Manager von Russeks, sondern inzwischen auch von der First National Country Bank, die er selbst an der Stelle erbauen ließ, wo er als armer Immigrantenjunge Süßigkeiten verkauft hatte: an der Kreuzung 38. Straße/Seventh Avenue; die Bank hatte Fußböden aus Marmor und Kassierer-Boxen aus Gold) - Max Weinstein war also irritiert von Nemerovs lässiger Einstellung zum Geld. Max’ Sohn erinnert sich: "Mein Vater und David Nemerov kamen nicht besonders gut miteinander aus; sie waren in fast allen Fragen unterschiedlicher Meinung, aber sie trugen ihre Differenzen nie offen aus. Mein Vater war David gegenüber immer sehr höflich und umgekehrt." Dennoch waren die Gebrüder Russek und die Weinsteins eng befreundet. Die beiden Familien machten oft gemeinsam Ferien in Colorado Springs, und besonders Frank Russek freute sich immer, wenn die Frau von Max, Bertha Arbus, Klavier spielte.

Teil 2

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