Vorgeblättert

Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, Teil 3

14.03.2002.
Auszug aus dem fünften Kapitel "DER TAGESPROPHET"


Das Muster des Phönix


John Ronald Reuel Tolkien, vaterlos aufgewachsen, verlor seine Mutter, als er dreizehn Jahre alt war. Sein Werk, von dem er sagte, es speise sich ganz aus frühen Erfahrungen, entziffert sich unterm schwarzen Licht dieser Katastrophe als lebenslanger Liebesdienst an der toten Mutter. Es ist ein archaischer Dienst, ein Dienst unter Zwang, der kaum einmal vom Licht des Bewußtseins gestreift wird. Tolkien hatte nie die Chance, sich von seiner Mutter zu lösen. Das Trauma ihres Verlusts brach in einem Alter ein, in dem es nicht zu bearbeiten, nur einzukapseln war. Der Muttertod, der ihn allein auf der Welt zurückließ, hatte die Zeit für immer angehalten und etwas in der Seele arretiert; Tolkien blieb sein Leben lang ein dreizehnjähriger Junge.

Man vergleicht sie etwas zu oft, aber doch nicht ohne Grund. Joanne Rowling verlor ihre Mutter, als sie fünfundzwanzig Jahre alt war. Anne Rowling war erst fünfundvierzig, als sie an Multipler Sklerose starb. Das Buch ihrer Tochter wäre nicht nur anders ohne diesen Tod. Wenn es mit den Werken wie mit den artesischen Brunnen ist, daß sie sich nämlich umso höher erheben, "je tiefer die Grube ist, die das Leiden in unserem Herzen ausgehoben hat", wie es bei Proust heißt, dann wäre Harry Potter ohne diesen Tod nie so hoch über sich hinausgewachsen.
Sechs Monate nachdem ich das Buch angefangen hatte, starb meine Mutter, was mich tief getroffen und damit auch das Buch geprägt hat. Ich hätte nach dem Prinzip von Roald Dahl vorgehen können, der das in James und der Riesenpfirsich höchst elegant gelöst hat: James' Eltern werden von einem Nashorn gefressen. Das ist sehr lustig, und ich mag diesen Zugang: "Gut, die haben wir aus dem Weg geschafft, machen wir vorwärts mit der Geschichte." Ich zog es vor, in die Gegenrichtung zu gehen und zu ergründen, was so ein Verlust für Gefühle auslöst.

Ergründen - das ist es, was ihr erlaubt war, nicht aber dem zu jung getroffenen Schöpfer des Auenlandes, der sich an den zu schlimmen Schmerz nie bewußt herantasten konnte.

Eine der ältesten Metaphern des Bewußtseins ist der Spiegel, und vor einem Spiegel spielt auch eine der berühmtesten Szenen Harry Potters; seine Herzszene, wie die Autorin bekennt. Der durch die Flure streunende Harry entdeckt den Spiegel Nerhegeb, den Mirror of Erised, der dem Betrachter dessen tiefste Wünsche, Desire, vor Augen führt. Auch Tolkien erfindet einen solchen Zauberspiegel, den Mirror of Galadriel, aber er verwendet ihn nicht dazu, den Hobbit Bilbo davor auftreten zu lassen, dem darin die geliebte Mutter erschiene. Rowling spiegelt ihren eigenen Wunsch auf die Hauptfigur. Harry sieht, mit einem zerreißenden Gefühl, seine Eltern, die ihm zulächeln und winken. Bald wird er erfahren, daß es die Magie der Mutterliebe war, die ihn überleben ließ. Auch bei der Autorin würde der Spiegel Nerhegeb die Mutter zeigen; sie träume davon, ihr fünf Minuten lang alle Neuigkeiten erzählen zu können:
Ich würde darauflos plappern und nach fünf Minuten merken, daß ich gar nicht danach gefragt habe, wie es ist, tot zu sein. Der typische Egoismus des Kindes, nicht wahr?

Das große Thema Harry Potters erscheint im ersten Band schon im Titel, und auch im Titel des fünften Bandes ist es präsent. Der Stein der Weisen verhilft zu der Unsterblichkeit, die auch der ägyptische Phönix besitzt, der gleich bei Harrys erstem Besuch in Flammen aufgeht. Harry erschrak damals umsonst, der Tod hat für einen Phönix die Wirkung eines Jungbrunnens. Aus der Asche ersteht er neu; die Sanduhr wird umgedreht, wie bei Hermiones Zeitreise, und das nächste Leben beginnt.

Das Muster des Phönix schillert durch alle Seiten der Harry Potter-Saga. Leben und Tod sind in diesen Büchern nicht kategorial geschieden. Sie sind entgegengesetzte Enden auf einem Farbspektrum, mit gleitenden Übergängen: Echos, Wiedergänger, Patroni, Schatten, Geister - tröstliche Gedanken für jeden, der den Wechsel der Kategorie ins Auge fassen muß.

Diese gleitende Skala ist es, die Rowlings Lieblingsautor wohl am stärksten berührt hätte. Vladimir Nabokov war dreiundzwanzig, als sein Vater erschossen wurde; Opfer eines Attentats, das ihm gar nicht gegolten hatte. Der blinde, stupide Tod war das dunkle Zentralgestirn in Nabokovs Leben, das alles Spätere überstrahlte. Von jetzt an verschwand aus seiner Lyrik das Wort Gott. Und es begann die Scharade der Geister.

In manchen seiner Bücher übernehmen sie offen die Macht. Ein Jahr nach der Ermordung des Vaters entstand das Theaterstück Der Tod, in dem eine Figur stirbt und insgeheim dennoch weiterlebt. In dem Roman Der Späher ist der Ich-Erzähler ein schwebendes Auge; das Geistorgan eines Mannes, der Selbstmord begangen hat. In den Durchsichtigen Dingen, einem späten Roman, ist der Erzähler ein verstorbener Schriftsteller, der im Schlußsatz die Hauptfigur nach deren Hinscheiden im Geisterreich willkommen heißt.

Es gibt auch weniger offensichtliche Belege für das, was Vera Nabokov das Wasserzeichen nannte, das alles präge, was ihr Gatte geschrieben habe, die Beschäftigung mit potustoronnost, der "otherworld". Selbst Nabokovs berühmtester Erzähler Humbert Humbert trägt die Geschichte seiner Leidenschaft für Lolita an einem Ort vor, der nicht hienieden zu liegen scheint. Er redet die "himmlischen Geschworenen" an, und wenn er von seinem Zuhause als von seiner "gutgeheizten Abgeschiedenheit" spricht, könnte man auf den Gedanken kommen, er schreibe von der Hölle aus. In seinem späten Meisterwerk Fahles Feuer versteckt Nabokov das Muster in einer Datumsangabe: der Tag, an dem die Hauptfigur einem fehlgeleiteten Attentat zum Opfer fällt, ist der Geburtstag von Nabokovs Vater. Die Spiegelung des Datums ist mehr als nur Finte oder Verschlüsselungskniff. Tod und Geburt fallen in diesem Datum zusammen; was tot schien, wird in Wahrheit leben.

Aber es gibt auch immer das Gegenteil. In dem Roman Die Gabe kehrt der lange verschollene Vater des Helden Fjodor überraschend zurück. Wir werden hoch getragen von den Fluten der Emotion bei diesem unverhofften Wiedersehen und stürzen um so tiefer, wenn der Autor uns und Fjodor unsanft weckt: das Wiedersehen mit dem Vater war nur allzu verhofft, so drängend erhofft, daß sich, da die Wirklichkeit nicht mit Erfüllung dienen konnte, kein anderer Gehilfe bot als der Traum.

Auch Harry sieht seinen toten Vater wieder, in einer Sphäre zwischen Wirklichkeit und Traum, und von Band zu Band rücken die Eltern näher. Andere Tode konnten rückgängig gemacht werden, auch wenn es bislang nur scheinbare waren. Vom Tod zum Leben kehrt auch Voldemort zurück, ein Parasit zuerst, der sich nur auf Wirtskörpern in seiner Zwischenexistenz halten kann, aber dank Harrys Blut wieder vollblühende Gestalt annimmt. Das sterbliche Leben ist ihm freilich nur Etappe auf einem ehrgeizigeren Weg.

4. Teil