Vorgeblättert

Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte

14.03.2002. Ab sofort wird einmal im Monat "Vorgeblättert". Den Auftakt macht der Publizist Michael Maar, der sich in seinem am 22. März erscheinenden Buch Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte mit Joanne K. Rowlings Zauberlehrling philologisch auseinandersetzt. Der Perlentaucher bringt daraus einen Auszug sowie Infos zu Autor und Buch.
Künftig präsentiert der Perlentaucher unter der Rubrik Vorgeblättert einmal im Monat einen Auszug aus einer interessanten Neuerscheinung. Den Auftakt macht - mit freundlicher Unterstützung des Berlin Verlag - Michael Maar, der sich in seinem am 22. März erscheinenden Buch Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte mit Joanne K. Rowlings Zauberlehrling philologisch auseinandersetzt. Außerdem finden Sie hier Informationen zum Autor, hier zum Buch.


Gekürzter Auszug aus dem vierten Kapitel "DER FEUERKELCH"



Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte


Der große Autor war auch ein großer Leser, und seine Urteile waren geharnischt. Die Liste seiner Opfer ist prominent: Thomas Mann oder Dostojewski, Sartre, T.S. Eliot oder Stendhal - sie alle galten ihm als drittklassige Schriftsteller. Franz Kafka schätzte er, aber das hielt ihn nicht von dem Nachweis ab, daß der verwandelte Käfer Gregor mühelos aus dem Fenster hätte davonfliegen können. Nicht aus dem Fenster davonfliegen, sondern sich verzweifelt aus ihm stürzen - das hätten noch viele andere Autoren tun müssen, wäre ihnen Nabokovs Urteil über sie zu Ohren gekommen. Und dieser Zuchtherr mit diesen drakonischen Maßstäben sollte sich ausgerechnet von einem populären Werk der Kinderliteratur einlullen lassen? Von der er generell ja wenig hielt; denn wenn er Hemingway, Pasternak, Conrad und Lampedusa zu den Jugendbuchautoren rechnete, war es durchaus nicht als Kompliment gemeint.

Und trotzdem könnte Nabokov vieles an Harry Potter gefallen haben. Niemand muß uns daran erinnern, geschweige denn ihn, daß sein eigenes Werk sich in einer anderen Sphäre bewegt, die der Zauberlehrling nie auch nur angestrebt hat. Aber die Strähne echten Talents fand der nicht nur drakonische, sondern auch zu tiefer Begeisterung fähige Leser immer wieder in Büchern, die man nicht sofort der Hochliteratur zugeschlagen hat. Wenn ihn große Namen nicht beeindrucken konnten, so noch weniger die Genre-Grenzen innerhalb der Literatur. Und bei Rowling findet sich mehr als eine Strähne Talent.

Unverkennbar teilen die zwei ein paar Vorlieben. Schon was Rowling mit der Sprache macht, ist ihm gar nicht so fern. Nabokov ließ keine Gelegenheit zu einem pun ungenutzt, und wenn ein Stabreim auch nur am Horizont zu erblicken war, lockte er ihn in den Dschungel seiner Tropen. Rowlings Metaphorik ist zwar unerheblich, aber ihr Wortwitz sprüht, und einer Alliteration kann sie nicht widerstehen. "In september of that year, a subcommittee of Sardinian Sorcerers" - wer solche Sätze liebt und Bücherlisten zusammenträgt wie diejenige Gilderoys (Break with a Banshee, Holidays with Hags, Travels with Trolls - Charm your Own Cheese ist nicht von Lockhart, sondern ein Titel aus dem Kochbuch-Sortiment), der rührt bei Nabokov eine vertraute Saite an. [...]

Aber nicht die Sprache oder die Namen sind der Grund, warum Nabokov Harry Potter hätte mögen können, sondern die exakte Phantasie und die Kunst der Komposition. Nabokov, der raffinierteste Handlungskonstrukteur des zwanzigsten Jahrhunderts, schätzte den schachspielartigen Aufbau einer Intrige nicht weniger als die Liebe zum Detail, die bei Rowling wie Goldlack aus allen Ritzen des Hogwarts?schen Gemäuers sprießen. Auch ihr Humor hätte ihn entzückt: die Weihnachtsgeschenke aus dem Ligusterweg, die immer noch schrumpfen können, obwohl sie schon auf Zahnstochergröße zusammengeschnurrt sind, der Witz der Weasley-Zwillinge, das Haarnetz, das eines der lebensgroßen Portraits Gilderoy Lockharts abzunehmen versäumte, die ruinöse Lieferung des Invisible book of Invisibility. Das Unprüde bei Rowling, die Gewagtheit, auch das parodistische Element hätte er gemocht; und die Klatschjournalistin Rita Skeeter wohl mit derselben Befriedigung am Ende unter Glas eingesperrt gesehen, mit der er den spionierenden Käfer zuvor in Hermiones Haar entdeckt hätte.

Eine andere Figur mit parodistischen Zügen hätte er mit einem Handkuß begrüßt: die wahrsagende Sybill Trelawney, die Harry so viel Schlimmes prophezeit. Nabokov hätte in ihr eine Verwandte Sybil Vanes erkannt, eine der Schwestern Vane aus seiner gleichnamigen Erzählung. Sybil und ihre Schwester haben esoterische Neigungen, die Nabokov zu verspotten scheint, so wie Joanne Rowling Professor Trelawney karikiert. Bei beiden wird dieser Spott zur Überraschung des Lesers am Ende zurückgenommen: Die Hochstaplerin Trelawney beweist ihr zweites Gesicht, die Vane-Schwestern melden sich per Diktat aus dem Jenseits.

Das Magische und Wunderbare ist der Romanwelt Nabokovs nicht fremd. Parallel- und Gegenwelten sind bei ihm nicht die Ausnahme, sondern die Regel; die Gelehrten sprechen von seiner Zwei-Welten-Kosmologie. Sein Hogwarts heißt "Antiterra", der Parallelplanet in seinem späten Roman Ada. Auch von dort aus hat man den gewohnheitstötenden Blick auf die Welt, die durch das Mittel des ostranenie neu gesehen wird, wie die russischen Formalisten es nannten - Chesterton nannte es den mooreeffoc-Effekt: die Welt so fremd wahrzunehmen wie den Coffeeroom, wenn man in dessen Innern sitzt.

Nabokov mußte sich zu diesem Blick nicht zwingen. Persönlich teilte er die Haltung Mr Weasleys und staunte - wenn auch furchtsamer - über Telephone und Elektrizität, so wie er über Raum und Zeit staunen konnte. Wir wissen, sagte er bis ins Alter, über all diese Dinge nichts. Ganz geheuer war ihm auch das Postsystem der Muggles nicht; ein Grund, im Hotel in Montreux zu leben, war die Tatsache, daß dort der Postverkehr bequem geregelt war. Noch bequemer wäre ihm sicher eine rüstige Eule gewesen.

2. Teil