Vorgeblättert

Otto Tolnai: Eine Postkarte an Don Dukay. Teil 1

17.02.2005.
6. (Pick)

Die grün gestrichene schmiedeeiserne Gartentür (ihr violett-weiß emailliertes Schildchen zeigte die Zahl 13) schloß sich von selbst hinter Oliver, als er mit dem Vulkanfiberkoffer in der Hand heraustrat, die Tür war nämlich vor hundert Jahren so eingestellt worden. Einmal hatte Tibi Szanitter, der sich für Geschichte an sich interessierte, zu Feri Kafga, den, wenn man das so sagen kann, nur dieses "an sich" interessierte, gesagt: "Die Welt ist aus allen Fugen geraten, dieses Gartentor aber nicht." Olivers Freund, der im Auto saß, war angesichts des alten Koffers ein wenig überrascht, als überstiege der Anblick sein Fassungsvermögen, doch sah er niemand anders als seinen Freund, den er so oft schon durch das Tor seiner alten Villa hatte treten sehen. Gleichwohl sprang er sofort heraus und half ihm, den Koffer (er sagte "Kuffer", wie die Serben) im Heck des fast neuen weißen Wagens zu verstauen. Sonst war der Kofferraum ganz leer. Sie sprachen über dies und das, sein Freund sagte, er müsse noch in ein, zwei Geschäfte gehen, in die Apotheke, er zählte alles auf, vielleicht um das, was er drüben in Szeged kaufen sollte, sich besser einzuprägen. Medikamente, Kosmetika, Pick-Salami, eben dies und das. Ihr Ziel war das Künstlerkino Grand Cafe, wo unter dem Motto "Hundert Jahre Filmgeschichte" fünf von Oliver ausgesuchte Streifen vorgestellt wurden. Jetzt spielten sie den fünften und letzten, den Film "Hafen im Nebel" von Marcel Carne mit Jean Gabin und Michele Morgan. Sein Freund wußte nur so viel, daß Oliver irgendwelche Filme ausgewählt hatte und die Reihe heute zu Ende ging, daß danach ein Gespräch mit Oliver stattfinden sollte und sie noch vor Mitternacht zurückkommen würden. Sie unterhielten sich während der Fahrt mal auf serbisch, mal auf ungarisch, Oliver zählte seinem Freund auch die anderen vier Filme auf (Julien Duvivier: Marianne, meine Jugendliebe, Robert Bresson: Das Geld, Rene Clair: Porte des Lilas, Jean-Luc Godard: Vivre sa vie. Die Reihenfolge der Vorführungen hing von der Verfügbarkeit der Filme ab, so lief "Hafen im Nebel" rein zufällig zuletzt, sein Freund kannte aber nur Godards Film, zwar war er kein blutiger Laie, was Filme anging, doch kannte er eher nur die neueren Werke, die neuesten vielleicht sogar noch besser als Oliver, allerdings war sein Lieblingsfilm, der auch seine Lebensweise maßgeblich bestimmte, "Casablanca" von Czukor).

Sie wärmten gerade die Geschichte einer ihrer früheren gemeinsamen Fahrten auf, nämlich wie sein Freund drüben Winterschuhe erstanden hatte: Oliver hatte den Kauf beschleunigen wollen und seinem Freund zugeredet, doch bei den eben anprobierten Schuhen zu bleiben. Die hübsche Verkäuferin hatte sich über Olivers Unterstützung gefreut. Als sein Freund schon alle Ausreden ins Feld geführt hatte, sagte er nur noch, sie seien ihm zu warm. Die Schuhe nämlich. Die Verkäuferin hatte nicht verstanden, wie denn hochgeschnürte Winterstiefel zu warm sein könnten, und ihr waren so schnell keine Gegenargumente eingefallen, also war wieder Oliver in die Bresche gesprungen: "Du wirst das schon mit einer kurzen Hose ausgleichen." Sein Freund hatte die Schuhe am Ende gekauft. Als sie aufbrechen wollten, fragte die Verkäuferin ganz überrascht: "Sie wollen schon gehen?" Später, Jahre später lachten sie noch immer über den Schuhkauf.

An der Grenze stieg nur Olivers Freund aus dem Auto, um den Zöllnern zur Verfügung zu stehen. Der leicht museale Vulkanfiberkoffer brachte auch die Zollbeamten zum Staunen (Oliver hatte ihn vor zehn Jahren in Budapest in der Bartok-Straße mitsamt einem altrosa Tintenfaß und einem mohnfarben gesprenkelten, von seiner Frau nur abfällig mausfarben genannten Crombie-Mantel aus dem Sperrmüll gerettet). "Was ist da drinnen", fragten sie. Sein Freund blickte Oliver hilfesuchend an, der aber starrte nur in den langsam sich verdichtenden Nebel und kratzte sich an der Nase. "Ich weiß nicht", sagte er verlegen. "Sie wissen es nicht?" fragte einer der Zöllner. "Dann machen Sie ihn einmal auf!" Das äußerte er schon etwas lauter. Sein Freund beugte sich in den Kofferraum, er befürchtete, die alten Schlösser würden sich nicht öffnen lassen, doch kaum berührte er sie, sprangen sie auch schon auf, und der Vulkanfiberkoffer resonierte als Schallkörper. Er öffnete ihn. Der Koffer war leer. Das heißt, er enthielt einen Stoß Papier, von Einweckgummiringen zusammengehalten. Es waren an die zwanzig größtenteils vergilbte Blätter. Bei den ungarischen Zollbeamten wiederholte er die kleine Szene, indem er nun die Sache schon komischer aufzog, allerdings ging sie dort nicht ganz so spaßig aus, denn er radebrechte das Ungarische ein wenig. Jedenfalls behauptete er jetzt noch viel bestimmter, der Koffer gehöre seinem Freund und er enthalte nichts, nur einige Aufzeichnungen. "Aufzeichnungen?" wiederholte der ungarische Zöllner verwundert. "Ja", antwortete er. "Was für Aufzeichnungen?!" fragte der Beamte immer interessierter. "Über hundert Jahre Filmgeschichte", gab Olivers Freund Auskunft, denn er hatte ihn gleich nach der jugoslawischen Grenze gefragt, welche Akten er eigentlich im Koffer ("Kuffer") mit sich führe.

"Der Film ist hundert Jahre alt?" Der Grenzwächter tat erstaunt. "Ja", sagte Olivers Freund, "genau einhundert." Mittlerweile waren mehrere Zöllner hinzugekommen, sie hatten gedacht, es gäbe Verwicklungen, denn Verwicklungen deuten immer auf etwas Verdächtiges hin. "Hundert Jahre? Wer ist hundert Jahre alt?" fragten mehrere. "Der Film", sagte Olivers Freund. "Die Pick", rief unerwartet der erste Zöllner aus und lachte wiehernd, dabei zwinkerte er seinen Kollegen zu, "die Pick-Salami, unsere Pick, mein Herr, Ungarns berühmteste Salami, ist viel älter, die ist hundertfünfundzwanzig!" "Was ist los?" wollte der Chef der Zollbeamten wissen und trat näher. Die Pick-Salami habe den Film geschlagen, erklärte man ihm ? Wieder im Auto fragte sein Freund, da er dem Witz des Zöllners nicht hatte folgen können: "Hast du gewußt, daß die Pick hundertfünfundzwanzig Jahre alt ist?" "Nein", erwiderte Oliver.

Sie kauften in Szeged ein, bestaunten verblüfft die mit Jubiläumsbanderolen versehenen Salamistangen, und Oliver erstand tatsächlich eine, eine Jubiläumsstange, sie tranken Kaffee in der Konditorei Virag und unterhielten sich darüber, daß die berühmte und auf eine stolze Vergangenheit zurückblickende Konditorei nunmehr, wie halb Szeged, in der Hand der serbischen Mafia sei. Der einstige Legionär und Mörder von Szabadka, Marinko Magda, den Olivers Freund vom Sehen her kannte, denn die Mutter Marinkos war Putzfrau in der Stadtbibliothek, begegneten sie sich am Korso, grüßten sie einander höflich, Marinko Magda also war ungefähr zu dieser Zeit wegen Mordes an einigen Szegeder Zuckerbäckern verhaftet worden.

Ihr Film lief schon, als sie die schmale Treppe hinaufstiegen. Oliver stellte seinen Koffer in einem unbeobachteten Moment in der Garderobe beim Eingang zum Saal ab, dann erst begrüßte er seine Freundinnen, die Kinobesitzerinnen, und die Kritikerin, die das Gespräch moderieren sollte. Die Direktorin führte ihn freundlich zum Saaleingang und meinte, man hätte bereits einen Tisch und zwei Stühle unter der Leinwand aufgestellt. Unmittelbar bevor er den stockdunklen Saal betrat, bückte sich Oliver, griff sich seinen Vulkanfiberkoffer und blieb am Eingang stehen. Die letzten Bilder liefen. Jean Gabin betrat die Schiffskabine und plazierte seinen Koffer in der Bildmitte. Das Heulen der Schiffssirenen ließ ihn auffahren, er entschloß sich, doch nicht abzureisen, und rannte los, zu seiner Geliebten, die der widerliche Lucien in Gefahr gebracht hatte. Das Schiff legte ab, der Koffer blieb in der Mitte der Kabine stehen. Und der Film war zu Ende. Die Spule lief noch, der Koffer war noch zu sehen, als die Direktorin Oliver an der Schulter berührte. Oliver machte sich auf, den Vulkanfiberkoffer in der Hand, seine typische vornübergebeugte Haltung mochte einige denken lassen, er schleppe etwas Schweres, Steine, Eisen, vielleicht gar Blei, er ging zu der winzigen Bühne vor der Leinwand. Dann erklomm er die Stufen, es war, als träte er in die Schiffskabine, in die letzte Einstellung, ganz bestimmt gab es Zuschauer, die glaubten, Jean Gabin wäre zurückgekommen. Vielleicht um seinen Koffer ("Kuffer") doch noch mitzunehmen. Es wurde hell. Sehr hell. Oliver stand vor der weißen Leinwand wie in der Kabine und rückte seinen schäbigen Vulkanfiberkoffer zurecht, ja er spielte die Szene sogar ein wenig weiter. Das Publikum war verdutzt. Das Schiff war fort, der Film war zu Ende, und der Koffer war dort geblieben. Er war im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Film gefallen.

Teil 2