Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Neue Menschen. Teil 2

29.08.2005.
Es muß eine oder zwei Wochen vor diesem Abend gewesen sein, als ich an einem Samstag (meine Freundin hatte Dienst im Katharinenhospital), Benjamins "Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" in der Jackentasche, mit der Straßenbahn nach Obertürkheim fuhr, die Neckarbrücke überquerte und mich auf den spätherbstlichen Höhen über Hedelfingen und Wangen verlor. Es scheint mir, daß man an diesem Nachmittag noch draußen sitzen konnte, und zwischen den Seiten von Benjamins Dissertation fiel vorhin, als ich das Buch aus dem Regal holte, ein gelbes Kirschblatt heraus, das im Sommer 1975 dort oben gewachsen und schließlich zu Boden gefallen ist.
     Der Schock auf den Weinberghöhen bestand in der vollkommenen Einfachheit und zugleich Unlösbarkeit eines von Fichte entdeckten und von den Frühromantikern ins Medium der Literatur hinübergespielten Problems. Schon Kant hat mit den einfachen Verhältnissen der klassisch-christlichen Tradition gebrochen, nach der Gott nicht nur uns, sondern auch die Welt geschaffen hat. Die Philosophie hatte das jahrtausendelang gültige Vertrauen darauf erschüttert, daß die Dinge sich dem Schöpfungsplan gemäß mehr oder weniger genau in unserem Innern spiegeln. Fichte, auf den sich die Frühromantiker in einer von Benjamin detailliert geschilderten Weise beziehen, ging bekanntlich noch einen Schritt ins Nichts (in den Wahnsinn) hinein weiter. Er bestimmte das Subjekt und die es umgebende Welt als Produkte einer doppelten Setzung. Diese Setzung heißt bei ihm "Tathandlung". In ihr bringt sich das Ich zusammen mit dem Nicht-Ich in einer nicht näher geklärten (und wohl eigentlich nicht klärbaren) Weise hervor. So weit, so gut, so dynamisch-welterobernd, so wahnsinnig.
     Jenes wirklich unlösbare und einen vollkommen um den Verstand bringende Problem besteht nun aber darin, daß das Ich, das sich da zugleich mit dem Nicht-Ich gesetzt hat, zugleich darüber Bescheid weiß, was es gemacht hat und seine "Tathandlung" reflektieren kann. Wer oder was aber ist das Subjekt dieser Reflexion zweiter Ordnung? Das Ich bestimmt sich am Nicht-Ich. Woran bestimmt sich die Reflektion des Ichs? Gibt es über dem Ich erster Ordnung ein Ich zweiter Ordnung, das die Tathandlung reflektieren kann und über diesem ein drittes, das die Reflexion der Tathandlung reflektieren kann und so bis in die Unendlichkeit weiter bis zum Ich n-ter Ordnung? Dabei stellt sich bei allen Reflexionen mit einem Exponenten über 2 noch eine zusätzliche Verzweiflung ein. Es läßt sich nämlich nicht klären, ob die Reflexionen dritter, vierter und aller weiterer Ordnungen sich auf nur auf ihre jeweils unmittelbaren Vorgängerreflexionen oder auf alle vorangegangenen Reflexionen zugleich beziehen.
     "Hier wird nun die Höhe so schwindelnd und dünnluftig, daß keine Begriffe mehr zu- und nachreichen, sondern wir müssen mit und an der Sprache ohne jene weiter hinauf zu kommen versuchen", schreibt Jean Paul, der ein vernünftiger Mann war, über die logischen Ungeheuerlichkeiten im Innern des deutschen Idealismus. In seinem "Clavis Fichtiana", einem dem Roman "Titan" angehängten Traktat, wird Schoppe, eine zu komischen Zwecken in das essayistische Projekt ausgegliederte Figur des "Titan", über dem Studium Fichtes wahnsinnig. "Wer nun mit mir der bloßen, von Begriff und Anschauung freien Sprache mächtig ist, der kläret sich dadurch zwei Ewigkeiten auf, die eine, welche das absolute Ich zubringt durch Werden oder unbestimmtes Handeln ohne Sein, und die zweite, die es gleichzeitig, aber durch Sein, obwohl endlich führt. Und ohne diese Sprache der höchsten Reflexion ist auch das Setzen eines Nicht-Ichs und Ichs oder das eigenhändige Einschränken des absoluten um nichts begreiflicher als die so oft getadelte Schöpfung aus nichts. Diese absolute Freiheit, die sich selber einen Widerstand (die sinnliche Welt) erschafft, weniger um zu handeln (denn das Erschaffen ist auch Handeln) als um gegen den Widerstand zu handeln, weil jedes Handeln, ausgenommen das schaffende, einen Widerstand voraussetzt, liegt nicht mehr in unserem Denk-, sondern bloß in unserem Sprachvermögen."
     Jean Paul hat also verstanden, was seine Figur verrückt macht. Er weiß, daß die "Tathandlung" bloß ein Sprachspiel ist, dem man auch folgen kann (die Wirklichkeit als seine eigene Schöpfung behandeln und deshalb auch verändern kann), wenn man nicht wirklich weiß, wie die Schöpfung der Welt aus dem Ich zugegangen sein soll. Die Tathandlung ist eine Metapher, die uns ermutigen und gut klingende Gründe dafür liefern kann, zu tun, was wir sowieso vorhatten (Napoleon aus Deutschland vertreiben zum Beispiel). "Eine solche Rechtfertigung für ausreichend zu halten, hieße, die Konsequenz zu ziehen aus Wittgensteins Beharren darauf, daß Vokabulare - und zwar alle Vokabulare, sogar diejenigen, welche die Wörter enthalten, die für uns am wichtigsten, für unsere Selbstbeschreibungen entscheidend sind - von Menschen geschaffen wurden, Werkzeuge für das Erschaffen anderer menschlicher Artefakte sind, zum Beispiel von Gedichten, utopischen Gesellschaften, wissenschaftlichen Theorien und zukünftigen Generationen. Es hieße genaugenommen, die Rhetorik des Liberalismus um diesen Gedanken herum zu bauen. Man würde dann die Idee aufgeben müssen, daß der Liberalismus gerechtfertigt und die nazistischen oder marxistischen Feinde des Liberalismus dadurch widerlegt werden könnten, daß man sie gegen eine Wand von Argumenten zurückdrängt - und sie zu dem Eingeständnis zwingt, liberale Freiheit habe ein ?moralisches Privileg?, das ihren eigenen Werten fehlt. Aus der Perspektive betrachtet, die ich empfehle, wird jeder Versuch, einen Gegner in dieser Weise in die Enge zu treiben, sofort scheitern, wenn sich zeigt, daß die Wand, gegen die er gedrängt wird, nur ein anderes Vokabular, eine weitere Art ist, Dinge zu beschreiben. Dann zeigt sich, daß die Wand nur eine gemalte Kulisse ist, wieder nur ein Menschenwerk, ein Bühnenbild für die Kultur. Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, daß sie zu schätzen weiß, daß alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte" (Richard Rorty).
     Die Frühromantiker, scheint es, waren solche Liberale einer "ästhetisierten Kultur". Ihr Ziel war nicht die endgültige begriffliche Klärung der "Tathandlung" (die Fichte in immer neuen Überarbeitungen seiner Wissenschaftslehre versuchte, bis er es aufgab und politischer Publizist wurde). Sie hatten vielmehr "die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel". Sie wurden nicht verrückt über dem Versuch, die Reflexionsprobleme der Tathandlung zu durchdenken, sondern nahmen Fichtes Metapher zum Anlaß dafür, etwas möglichst Neues, Interessantes und Anregendes zu machen, egal, wie es sich mit der ins Unendliche gehenden Reflexion der Tathandlung im Einzelnen verhalten mochte. "Wie Fichte das gesamte Wirkliche in den Setzungen unterbrachte - freilich nur durch ein Telos, das er in sie legte - so sieht Schlegel unmittelbar, und ohne daß er dies eines Beweises für bedürftig hielte, das ganze Wirkliche in seinem vollen Inhalt mit steigender Deutlichkeit bis zur höchsten Klarheit im Absoluten sich in den Reflexionen entfalten", schreibt Benjamin. Mit anderen Worten: verstehen tun die Tathandlung beide nicht (sie ist ein in den absoluten Schwindel und Schwurbel führendes Paradox), sie nehmen sie nur zum Anlaß für das Sprachspiel, das ihnen interessant und fruchtbar erscheint und das sie gerne spielen wollen. Fichte stand dabei eher auf Setzung, Gründung und Franzosenfressen (das "granitene Fundament der Überzeugungen" seines späten Epigonen Adolf Hitler wirft schon de-chirico-artig lange Schatten über sein weiteres Lebenswerk). Die beiden Schlegel, Novalis und Schleiermacher dagegen fühlen sich eher zur unendlichen Reflexion, zum Fragment, zur freien Liebe, zur nicht aufhörenden Konversation, zum Erfinden immer neuer Metaphern hingezogen.
     Keine Frage, wem die Turmgesellschaft, der ich mich mit Fünfzig zugehörig fühle, verbunden ist: Schlegel statt Fichte. Kein Wunder aber auch, daß der Dreiundzwanzigjährige, der ich 1975 war, sich auf den Höhen über Wangen schwor, nicht zu ruhen und zu rasten, bis er den philosophischen Grund einer Sprache, den Eckstein eines Gedankengebäudes gefunden haben würde, das allen Angriffen widerstehen würde und in dem ich als mit der Arbeiterklasse verbundener junger Intellektueller mein Leben würde verbringen können. Der geheime Sinn dieses Gedankenbaus hat darin bestanden, absolut sicherzustellen, daß ich erstens selbst kein Nazi war und daß mir zweitens kein Nazi je etwas würde tun können. Und doch war auch ich in jenem Hitler-Traum von "granitenen Fundamenten der Überzeugung" gefangen, als ich am 1. November 1975 nach einem langen Spaziergang und herbstlicher Freiluft-Benjaminlektüre schließlich im Ausflugslokal "Beim Onkel Otto" saß und über einem "Haberschlachter Heuchelberg" oder "Fleiner Kirchweinberg" ins Neckartal hinuntersah (die Dämmerung und die Novemberkühle lagen schon auf den Höhen und die Farben der letzten Kirschblätter an den Zweigen leuchteten noch einmal auf, bevor sie im Nebel verschwanden).
     Fichte und sein "Hexensabbat", so etwa werde ich mir die Dinge "Beim Onkel Otto" damals zurechtgelegt haben, waren nur eine Sackgasse gewesen, wenn auch eine interessante und notwendige (der "subjektive Idealismus"). Der zukunftsweisende Hauptstrom war in Hegels "Phänomenologie" weitergeflossen, in den (da freilich noch "objektiv idealistisch" befangenen) Bildungsroman des absoluten Geistes. Hegels Buch würde den Himmelssturz dieses Geistes in die Welt und seine Biographie auf dem Weg zur Selbsterkenntnis in der Geschichte beschreiben, "die Wissenschaft des erscheinenden Wissens". Aber auch diese merkwürdige, schreckliche, unfreiwillig komische und absolut knalldeutsche Philosophic Gothic Novel wäre nur eine Sackgasse auf dem langen Marsch zur absoluten (wenn auch dialektisch vermittelten) Wahrheit, glaubte ich, während ich (nun war es wirklich dunkel und der Mercedes-Stern leuchtete blau aus dem Tal herauf) einen zweiten "Fleiner Kirchweinberg" orderte. Marx und Engels würden die Wissenschaft des erscheinenden Wissens vom Kopf auf die Füße stellen ("It?s the economy, stupid!"). Und auf die beiden Rauschebärte würde der mit dem Tatarenbart folgen, der die Wissenschaft wirklich machen würde ("dann scheint die Sonn? ohn? Unterlaß" wie es im grauenhaften, halb illiteraten, halb poesiealbumhaften Deutsch der "Internationale" heißt; übrigens eigentlich eine schreckliche Vorstellung). Aber so weit war es noch nicht. Ich zahlte, steckte Benjamins "Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" ein und nahm die nächste Straßenbahn in die Innenstadt, wo ich meine Freundin (die nach dem Dienst immer ein bißchen nach Sagrotan roch) vom Krankenhaus abholte und wir in eine Pizzeria und dann ins Kino gingen. Daß ich mit ihr damals zum ersten Mal "Do it again, Sam", "Take the money and run" und "Bananas" von Woody Allen gesehen habe, weiß ich zuverlässig.

Teil 3