Vorgeblättert

V.S. Naipaul: Des Nachtwächters Stundenbuch, Teil 1

05.04.2004.
DIE IDEALEN MIETER 

Wir hörten schon vor ihrer Ankunft von den Dakins. "Die idealen Mieter", sagte Mrs Cooksey, die Hauswirtin. "Sind mir von ihrer Vermieterin persönlich ans Herz gelegt worden. Sie verliert sie nur ungern, sagt sie, aber sie übernimmt ein Hotel in Benson, deshalb zieht sie weg aus London."
Erst nach ein paar Tagen bemerkte ich, dass die Dakins im Haus waren, so leise war der Einzug vor sich gegangen. Am Samstag und am Sonntag hörte ich aus der oberen Wohnung die Geräusche von Wischlappen und Schrubber und das Gerumpel einer Teppichkehrmaschine. Am Montag herrschte wieder Stille.
In dieser ersten Woche begegnete ich ihnen ein- oder zweimal im Treppenhaus. Mrs Dakin war um die vierzig, groß und schlank, mit einem netten Lächeln. "Sie war bei der Polizei", sagte Mrs Cooksey. "Sergeant, glaube ich." Mr Dakin war ähnlich alt wie seine Frau und sah ähnlich sportlich aus. Aber sein hartes, gut geschnittenes Gesicht war humorlos. Sein Gruß war knapp und streng und lud nicht zu Gesprächen ein.
Sie betrugen sich beispielhaft. Nie hatten sie Besuch. Es kamen keine Anrufe für sie. Es roch nie nach ihrem Essen. Ihre Milchflaschen sammelten sich nicht an, und das, obwohl sie bei Tageslicht nie eine leere Flasche auf die Treppe stellten. Und leise waren sie auch. Sie hatten kein Radio. Die einzigen Geräusche, die man von ihnen hörte, stammten von Schrubber, Besen und Teppichkehrmaschine. Manchmal, wenn es auf der Straße still war, hörte ich sie nachts in ihrem Schlafzimmer: ein leises Maunzen, von kurzen, knurrenden Basstönen unterbrochen.
"Anständige Menschen hat es in allen Schichten", sagte Mrs Cooksey. "Das Dumme ist, dass man heutzutage nie weiß, woran man ist. Nehmen Sie die Seymours. Schleichen sich mitten in der Nacht ins Badezimmer, um dort zu zweit herumzuplanschen. Nicht mal denen von der BBC kann man mehr trauen. Wenn ich an den Araber denke!"
Schnell avancierten die Dakins zu ihren Lieblingsmietern. Mr Cooksey lud Mr Dakin zu seinen "Cocktails" ein. Mrs Dakin bat Mrs Cooksey zum Tee zu sich herauf, worauf Mrs Cooksey uns mitteilte, dass sie mit dem Erscheinungsbild der Wohnung sehr zufrieden sei. "Ziemlich pingelig, die zwei", sagte Mrs Cooksey. Ein größeres Lob gab es für sie nicht, und wir durften uns kritisiert fühlen. 

Zu meiner Enttäuschung musste ich von Mrs Cooksey erfahren, dass auch die Dakins ihre Sorgen hatten. "Er ist von der Leiter gefallen und hat sich den Arm gebrochen, und jetzt wollen sie ihm den Verdienstausfall nicht zahlen. Der Arm ist schief wieder angewachsen, er kann nicht mal mehr ans Meer fahren damit. Und seine Arbeit kann er auch nicht mehr richtig machen. Er ist Elektriker, da weiß doch jeder, dass die ständig irgendwo rumklettern. Aber glauben Sie, das interessiert die? Die doch nicht! Was sind für die schon dreihundert Pfund? Aber sie schalten auf stur. Stellen Sie sich vor, der Meister hat doch tatsächlich die Leiter verbrannt."
Mir waren an Mr Dakin keinerlei Entstellungen aufgefallen. Bis dahin hatte ich ihn als einen Mann von beinahe furchteinflößender Körperkraft wahrgenommen, aber jetzt betrachtete ich ihn mit größerer Aufmerksamkeit, voll Bewunderung dafür, wie klaglos er sein Unglück ertrug. Wir begegneten uns häufig auf der Treppe, tauschten aber nie mehr als einen kurzen Gruß, und dabei wäre es auch geblieben, wenn die Cookseys nicht ihre Silvesterparty veranstaltet hätten.
Zu der Zeit stand ich bei den Cookseys in Ungnade. Ich hatte eine Armee von rund fünfzehn Milchflaschen auf die Treppe gestellt, und der Milchmann hatte sich geweigert, sie alle auf einmal mitzunehmen. Einen ganzen Tag lang hatten sechs schlecht gespülte Milchflaschen die oberste Treppenstufe geziert und das Haus der Cookseys in Verruf gebracht. Unstimmigkeiten zwischen Mrs Cooksey und dem Milchmann waren die Folge gewesen, die postwendend an mich weitergegeben wurden.
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, stand die Tür zum Wohnzimmer der Cookseys offen, und heraus drangen Gelächter und Fußgetrampel und Musik aus dem Fernseher. Mr Cooksey, der mit einem Tablett aus der Küche kam, blickte mich verlegen an, spannte eilig die Lippen über seine dritten Zähne und machte sein poppendes Geräusch.
"Popp-popp. Hereinspaziert", sagte er. "Drinks. Cocktails."
Ich folgte ihm hinein. Mrs Cooksey war nüchtern, aber ausgelassener Stimmung. Gelächter und Fußgetrampel stammten ausschließlich von Mr und Mrs Dakin. Sie tanzten. Mrs Dakin kreischte jedes Mal, wenn Mr Dakin sie herumwirbelte, was er für einen Mann mit einem auf Dauer beschädigten linken Arm recht beherzt tat. Bei meinem Anblick kreischte Mrs Dakin gleich noch einmal, und Mrs Cooksey kicherte dazu, als sei es ihre Aufgabe, die Dakins bei Laune zu halten. Auch das Ehepaar aus der Wohnung unter mir war anwesend; sie saß im Lehnstuhl, er auf der Lehne. Sie waren in ihrem üblichen rustikalen Stil gekleidet und wirkten steif und unglücklich. Bei mir hießen sie nur der Strickmeister und die Strickmeisterin. Sie hatten unzählige kleine Besitztümer: moderne Couchtische und Stehlampen, eine Cona-Kaffeemaschine, einen Plattenspieler, ein tragbares Fernseh- und UKW-Gerät, einen 46er Anglia, der zur entsprechenden Jahreszeit einen Aufkleber trug - MITFAHRT NACH GLYNDEBOURNE AUF EIGENE GEFAHR -, und eine Strickmeister-Strickmaschine, die nur selten stillstand.
Die Musik verstummte, Mrs Dakin tat so, als ließe sie sich ohnmächtig in die versehrten Arme ihres Gatten sinken, und Mrs Cooksey klatschte Beifall.
"Wer will noch mal, wer hat noch nicht", rief Mr Cooksey.
"Noch einen Drink, Liebling?" flüsterte der Strickmeister seiner Frau ins Ohr.
"O ja", rief Mrs Dakin.
Die Strickmeisterin lächelte böse zu Mrs Dakin hinüber.
"Whiskey?", fragte Mr Cooksey. "Bier? Sherry? Guinness??
"Gib ihr den Cocktail", bestimmte Mrs Cooksey.
Die älteren Mieter kannten Mr Cookseys Cocktails. Er bekleidete einen verantwortungsvollen Posten in einem bedeutenden Unternehmen der öffentlichen Hand - vierunddreißig Reiniger waren ihm unterstellt, sagte er -, und sowohl Herkunft als auch Rezeptur seiner Cocktails waren zweifelhaft.
Die Strickmeisterin nahm ihren Cocktail entgegen und nippte lustlos.
"Und Sie?", fragte mich Mr Cooksey.
"Guinness", antwortete ich.
"Guinness!", rief Mr Dakin erfreut und schaute mich zum ersten Mal mit Interesse und Wohlwollen an. "Wo haben Sie Guinness trinken gelernt?"
Wir rückten zusammen und redeten über Guinness.
"Am besten schmeckt es natürlich in Irland", sagte er. "Dick und cremig. Wie ist es dort, wo Sie herkommen?"
"Ungenießbar. Es ist zu warm dafür."
Mr Dakin schüttelte den Kopf. "Das liegt nicht am Klima. Es liegt am Guinness. Verträgt die Reise nicht. Wird krank davon."
Bald wurde es Zeit für Auld Lang Syne.
Am nächsten Tag waren die Dakins zu ihrem beispielhaften Betragen zurückgekehrt, aber jetzt wechselten wir jedes Mal ein paar Worte über das Wetter, wenn wir uns begegneten.

Etwa vier Wochen später hörte ich eines Abends eine Art Lärm in der Wohnung über mir. Schritte kamen die Treppe heruntergepoltert, jemand hämmerte an meine Tür, Mrs Dakin stürzte herein und rief: "Mein Mann! Mein Mann! Er windet sich vor Schmerzen."
Bevor ich etwas sagen konnte, war sie schon wieder draußen und hastete die Treppe hinunter zu den Strickmeistern.
"Mein Mann windet sich vor Schmerzen."
Das Surren der Strickmeister-Strickmaschine verstummte, und von der Strickmeisterin waren mitfühlende Laute zu hören.
Der Strickmeister sagte: "Sie müssen einen Arzt rufen."
Als Ausdruck meiner Anteilnahme ging ich hinaus und blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Mrs Dakin klopfte die Cookseys heraus, es wurden weitere Schreie ausgestoßen, dann hörte ich die Wählscheibe des Telefons. Ich ging zurück in mein Zimmer. Nach kurzer Überlegung ließ ich die Tür offen stehen: eine zusätzliche Geste der Anteilnahme.
Mrs Dakin, Mrs Cooksey und Mr Cooksey eilten die Treppe herauf. 
Die Strickmeister-Strickmaschine surrte wieder.
Gleich darauf klopfte es an meiner Tür, und Mr Cooksey kam herein. "Popp-popp. Der reinste Hochofen da oben." Er blies die Backen auf. "Da muss man ja krank werden."
Ich erkundigte mich nach Mr Dakin.
"Eine kleine Verdauungsstörung, wenn Sie mich fragen." Und im Tonfall eines Mannes, für den weit folgenschwerere Ereignisse das täglich Brot sind, fügte er hinzu: "Einen meiner Reiniger hat?s letzte Woche erwischt. Gehirntumor."
Der Doktor kam, und die Wohnung der Dakins war erfüllt von Schritten und Stimmen. Mr Cooksey lief treppauf und treppab, keuchend und popp-poppend. Mrs Dakin schluchzte, und Mrs Cooksey tröstete sie. Die Sirene eines Krankenwagens heulte durch die Straße, und kurz darauf fuhren der Doktor, Mrs Dakin und Mr Dakin davon.
"Blinddarm", teilte Mr Cooksey mir mit. Bei den Strickmeistern ging die Tür auf.
"Blinddarm", rief Mr Cooksey hinunter. "Der reinste Hochofen da oben."
"Ihm war kalt", sagte Mrs Cooksey.
"Pah!"
Mrs Cooksey machte ein besorgtes Gesicht.
"Das ist keine große Sache, Bess", sagte Mr Cooksey. "Hitler hat seiner ganzen Armee den Blinddarm rausnehmen lassen."
Der Strickmeister sagte: "Ich hab meinen vor zwei Jahren rausgekriegt. Winzig kleine Narbe." Er nahm von der Spitze seines Zeigefingers aus Maß: "Höchstens so lang. Im Prinzip ist es eine Sache der Nerven. Blinddarmentzündung kriegt man, wenn was an einem frisst. Meiner Frau mussten sie ihn rausnehmen, als wir nach Frankreich fahren wollten."
Die Strickmeisterin kam heraus, lächelte ihr schreckliches Lächeln, entblößte dabei kurze, quadratische Zähne und viel Zahnfleisch und kniff die kleinen Äuglein zu. "Guten Tag", sagte sie, Wollhandschuhe überstreifend, die sie womöglich gerade auf der Maschine fertig gestrickt hatte. Sie trug einen Tweedrock, einen roten Pullover, eine braune Jacke aus Velourssamt, dazu eine rotweiße Baskenmütze.
"Blinddarm", sagte Mr Cooksey.
Die Strickmeisterin antwortete mit einem weiteren Lächeln und folgte ihrem Mann hinunter zu ihrem 46er Anglia.
"Eine schreckliche Sache", sagte ich vorsichtig zu Mrs Cooksey.
"Popp-popp." Mr Cooksey sah seine Frau an.
"Schreckliche Sache", sagte Mrs Cooksey.
Unsere Meinungsverschiedenheit wegen der Milchflaschen war vergessen.
Mr Cooksey wurde lebhaft. "Ist nichts dabei, Bess. Viel Lärm um nichts. Meine Güte, der reinste Hochofen das Zimmer da oben."
Gegen elf kam Mrs Dakin zurück. Sie hatte rote Augen, aber sie wirkte gefasst. Sie berichtete, wie nett die Krankenschwestern waren. Und zur Abrundung eines außergewöhnlichen Abends ertönte kurz darauf - an einem Werktag gegen Mitternacht - von oben das Geräusch der Teppichkehrmaschine. Die Strickmeisterin beschwerte sich auf bewährte Weise: Sie öffnete die Wohnungstür und unterhielt sich mit ihrem Mann laut über die Lärmbelästigung.

Teil 2
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