Vorgeblättert

Wolfgang Hädecke: Novalis. Teil 3

25.08.2011.
Hardenberg wird sich an keinem Ort, wo er tätig ist, spießbürgerlich ducken; er wird selbstbewußt, aber nie anmaßend auftreten; er wird den Gesetzen und Strukturen der Einrichtungen folgen und lernbereit arbeiten, aber niemals seine innere Freiheit aufgeben: "Bleib ich gesund, so muß ich ein Maximum für mich erreichen. Ich bin wenigstens jeder Art von Aufklärung fähig, und dies Einzige berechtigt mich vielleicht schon zu kühnen Ansprüchen" - Ansprüchen als Anforderungen an sich selbst, nicht als Verlangen an andere. Zu diesen Ansprüchen gehört auch die mit politisch philosophischem Schwung verkündete, wahrlich kühne Doppel-Vision ersehnten Brautstandes, nämlich erotisch-privat und politisch-revolutionär gleich: "Es sind die Tage des Brautstandes - noch frei und ungebunden und doch schon bestimmt aus freier Wahl - Ich sehne mich ungeduldig nach Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft. Wollte der Himmel, meine Brautnacht wäre für Despotismus und Gefängnisse eine Bartholomäusnacht, dann wollte ich glückliche Ehestandstage feiern. Das Herz drückt mich - daß nicht jetzt schon die Ketten fallen wie die Mauern von Jericho." Das ist im Bereich der deutschen Literatur, insbesondere auch durch Bildlichkeit und Metaphorik, eine der eigenwilligsten, gewagtesten Visionen im Gefolge der Französischen Revolution, ohne daß diese direkt genannt wird; übrigens erschien der Text erst postum.
In diesen Zusammenhang gehören auch die weniger radikalen, aber ebenfalls eigenwilligen politischen Überlegungen aus dem schon zitierten Brief der Dichters an seine Mutter, wobei sein Lobpreis des Familienlebens in politische Dimensionen gehoben wird: "Die Familie ist mir noch näher als der Staat. Freylich muß ich thätiger Bürger seyn um ein Familie an mich knüpfen zu können. Aber mir ist das Leztere näherer Zweck als der Erstere. Man ist auch am allervollkommensten Bürger des Staats, wenn man zuerst für seine Familie da ist - Aus dem Wohlseyn der einzelnen Familien besteht der Wohlstand des Staats. Nur durch meine Familie bin ich unmittelbar an mein Vaterland geknüpft - das mir sonst gleichgültig seyn könnte, als jeder andere Staat."
Von seinen poetischen Versuchen spricht Novalis im Brief an den Freund nicht unmittelbar, obwohl es mit dem "Schöndenken und Schreiben" keineswegs vorbei ist, wie er zwischendurch, aber sicher nicht ernsthaft befürchtete. Indem er am Ende seines Schreibens seine tiefe Zuneigung zum Dichter-Freund ausdrückt und den dringlichen Wunsch wiederholt, daß sie gemeinsam auf einer Bahn gehen sollten, spricht er auch ihrer beider Poesie an: verhalten und taktvoll, um den oft erbittert um seine freie, reine Geistestätigkeit und den Lebensunterhalt durch Schreiben Kämpfenden nicht zu verletzen.
Hardenberg hatte jedenfalls in dieser Übergangsphase zwischen schulisch-universitären Lernjahren und dem Eintritt in die durch eine Verwaltungs-Lehre vorbereitete Berufslaufbahn erstmals einen Vorsprung vor Schlegel. Die innere Unruhe verging, jene Unrast, deren Deutung als nicht nur individuell-charakterlich bedingt, sondern auch als gesellschaftlich verursacht, als Ausdruck großen Epochen-Umbruchs so verlockend wie bedenklich erscheint - verlockend, weil sie auch das herausragende Individuum, zum Beispiel den angehenden Dichter, in hohe Repräsentanz und überindividuelle Abhängigkeit stellt, bedenklich, weil sich gerade auf der Schiene zwischen persönlicher Biographie und Epochen-Schicksal sehr leicht Simplifikationen und Klischees einstellen.
Die neu gewonnene Stärke von Persönlichkeit und Zielsetzung erlaubt Hardenberg nach dem Examen auch Entspannung und Amüsement. Mit den geliebten Brüdern Erasmus und Karl und diversen jungen Damen vergnügt er sich bei Musik, Tanz, Ball und Sponsieren - dieser Ausdruck findet sich nur im Umkreis von Hardenberg, gemeint ist wohl eine ziemlich hautnahe Form von Flirt. Schon von Tennstedt aus gesteht Friedrich seinem Bruder Erasmus, daß er zuletzt mit "Fritzchen" von Lindenau "zu vertraut" wurde und abbrach: "Ich vermied zuletzt alle tête-a-têtes. Sie waren mir zu verführerisch ? Sponsiren ist eine hübsche, aber eine kitzliche Sache."
Vor Hardenbergs Übergang nach Tennstedt hatte es Verhandlungen mit dem preußischen Staatsminister Karl August Graf (später Fürst) von Hardenberg über einen Eintritt in den dortigen Staatsdienst gegeben; sie scheiterten aus nicht ganz geklärten Gründen. Novalis selbst schreibt im schon erwähnten Bericht an Oppel, sein Vater habe dem hohen Verwandten keine Verbindlichkeit schuldig sein wollen. Der Salinendirektor überzeugte den Sohn danach von der Lehrstelle im Amt Tennstedt des thüringischen Kreises von Kursachsen; für die spätere Übernahme in den sächsischen Staatsdienst war ein längeres Verwaltungspraktikum wünschenswert. August Coelestin Just, der Leiter des Kreisamtes, ein Freund von Hardenbergs Vater, genoß als Jurist, exzellenter Fachmann, Mentor und weltoffener Geist hohes Ansehen. Jahrgang 1750, war er 1794 noch Junggeselle, dessen Hauswesen seine Nichte Caroline besorgte; Novalis, der am 25. Oktober in Tennstedt eintraf und am 8. November als Vizeaktuarius seinen 15monatigen LehrKurs antrat, wohnte in Justs Haus wie ein Familienangehöriger: "Mein Amtmann ist ein brauchbarer, geübter und humaner Mann", meldete Friedrich, "er geht äußerst freundschaftlich mit mir um. Ich bin sehr fleißig und hoffe, daß der Vater damit, sowie mit meiner Oeconomie sehr zufrieden seyn wird. Ich spiele hier eine große Rolle und bin wie es scheint in großem Credit."
Das Städtchen Tennstedt, östlich von Mühlhausen und nördlich von Langensalza gelegen, beherbergte mit Justs Amt die oberste Ver waltungs- und Gerichtsbehörde des thüringischen Kreises, hatte also die Rechtsaufsicht über das gesamte Gebiet und behandelte als sogenanntes Kommissionsamt weniger Routineangelegenheiten als "Sonderfälle, für die besonderes Geschick und außergewöhnliche juristische Kenntnisse erforderlich waren." Hardenbergs Mentor war, jedenfalls zumindest auf dieser regionalen Ebene, ein erstrangiger Experte, in Goethes Urteil von 1816 ein sehr verdienter und gebildeter Mann, obendrein ein durch seine Veröffentlichungen über die Aufhebung der Frondienste, zum Kriminalitätsgesetzbuch und zur Schulerziehung weit über die Region hinaus wirkender Reformdenker. Der frischgebackene Hochschulabsolvent war also in besten Händen, was er sehr rasch begriff: Noch im Juni 1799 wird er Oppel gegenüber bekennen: "Meinem Freunde dem Kreisamtmann Just hab ich außer meinem Vater beynah das Meiste zu verdanken."
Daß Novalis Just als seinen Freund bezeichnen darf, verweist auf eine der feinsten und nachhaltigsten Erfahrungen der jungen Poeten im Bürokratie-Milieu: Der von Dienstrang und Erfahrung überlegene Ausbilder hebt schon nach kurzer Zeit den Lehrling auf seine Höhe - wir werden dieses rare humane Modell von Lehren und Lernen noch in Justs eigener Sicht rekapitulieren. Vorher aber gilt es, die ungeachtet aller warmherzigen Menschlichkeit primäre Strenge des Kreisamtsmannes bei Hardenbergs alles andere als leichter Facharbeit sowohl für die Inhalte als auch für die sprachliche Gestaltung zu würdigen: Der angehende Staatsbeamte wurde von Just nämlich durchaus ins kalte Wasser geworfen, was die aufgefundenen und publizierten 49 Folioblätter, von Hardenberg geschrieben oder mit handschriftlichen Vermerken versehen, von Just teilweise in die Texte hinein korrigiert, anschaulich belegen. Es sind Entwürfe zu Schreiben des Kreishauptmanns an das Geheime Konsilium in Dresden, an die Kurmainzische Regierung in Heiligenstadt und an das benachbarte Amt Treffurt, dazu fünf Protokolle.
Hardenbergs Tennstedter administrative Tätigkeit war umfassende und detailreiche Text-, also Spracharbeit; Just "ging die Entwürfe, welche sein Schüler aufsetzte, mit peinlichster Sorgfalt durch und korrigierte überall da, wo ihm der Ausdruck nicht angemessen schien. So eignete Novalis sich Genauigkeit und Kontrolle in der schriftlichen Form an." So wurde diese Aneignung, mit Jean Paul zu sprechen, zu einer Vorschule der Ästhetik - nur eben mit völlig unpoetischen Texten. Das spielte aber keine Rolle, so wenig wie die Tatsache, daß Hardenberg im Augenblick mit seiner höchst sorgfältigen Feil-Arbeit nicht auf gerade entstehende eigene Dichtungen abhob, weil es die zu jener Zeit kaum gab.
Ein Glück für die Überlieferung, daß Just selber in seiner Novalis-Biographie dessen filigrane Spracharbeit noch nachträglich bewundernd und in - rhetorischen - Fragen festhielt: "Wer würde aber vermutet haben, daß dieser junge Mann, um sich zu einem Geschäftsmann zu bilden, die Mühe nicht scheute, dieselbe Arbeit zwey, dreymal umzuschaffen, bis sie so erschien, wie sie, nach meyner Meinung, seyn sollte? daß er sich ganze Seiten von gleichbedeutenden oder abweichenden Worten aufzeichnete, um die Abwechslung und Präzision des Ausdrucks bei Geschäftaufsätzen in seine Gewalt zu bekommen? daß er die gemeinsten Geschäfte des Practikers mit eben dem Fleiße bearbeitete, als diejenigen, die ganz eigends für seinen Geist berechnet waren?"
Diese Arbeit brauchte Zeit. Schon Mitte November 1794 meldete Novalis dem Freund nach Dresden, daß seine Praxis ihm 3/4 des Tages raube; das übrige Viertel sei so eingeteilt, daß Freunden und Büchern sehr wenig bleibe; Schlegel solle wenigstens alle 14 Tage oder drei Wochen einen Brief haben, doch sei der Kopf des Schreibwilligen "zu durchkreuzt von verschiedenen Gegenständen", als daß er nur etwas mehr als mittelmäßig gut schreiben könne; nicht nur der Moniteur, auch die notwendigsten Bücher fehlten ihm. In den folgenden Monaten aber wird Hardenberg das Bild von sich aufbauen, das im Verhältnis des Lehrers zu ihm entsteht und in dessen Biographie eindrucksvoll überliefert ist.
Die Freundschaft zwischen beiden Männern entstand schnell; Justs pädagogisches Geschick trug kräftig dazu bei. Er hat die Vorgänge in einer Konfession dargestellt: "Ich sollte sein Lehrer und Führer werden, aber er ward mein Lehrer. Nicht nur, daß ich selbst in denjenigen Fächern, wo ich vielleicht durch Erfahrung und Uebung ihn an Kenntnissen übertraf, alle meine Kraft aufbiethen mußte, um seinem Forschungsgeiste, der sich mit dem Gemeinen, Bekannten, Alltäglichen nicht begnügte, sondern das Feine, das Tiefe, das Verborgene überall aufsuchte, einige Gnüge zu leisten; sondern auch hauptsächlich, daß er mich mit sich fortriß, mich von den Fesseln der Einseitigkeit und Pedanterey, in die ein vieljähriger Geschäftsmann so leicht eingeschmiedet wird, befreyte; mich zu vielseitiger Ansicht desselben Gegenstandes durch sein Sprechen und Schreiben nöthigte, mich zu den Idealen, die seinem Geiste immer vorschwebten, so weit es mir meine Schwerfälligkeit erlaubte, erhob, und den fast entschlummerten ästhetischen Sinn in mir erweckte."
Die wunderbare Lehrer-Schüler-Vertauschung, eingebettet in eine mitreißende, wenn auch nicht ganz unangestrengte hypotaktische Syntax, wirkt fast so, als stelle hier der Lehrer dem Schüler sich selber vor; Justs Zitaten-Porträt des 22jährigen Genies, das der Verwaltungsexperte souverän und staunend auf die verbale Staffelei stellt, enthält noch weitere Züge, durch die der heimliche Poet auf dem bürokratischen Sattel den Lehrmeister und uns Leser beeindruckt: "Drey Dinge waren es, für die er ? entschiedene Vorliebe hatte. Consequenz im Denken und Handeln, Aesthetische Schönheit, und Wissenschaft." Er habe alles gründlich und wissenschaftlich aufnehmen wollen, "und keinen Gegenstand des menschlichen Wissens schloß er davon aus." Hardenberg "wollte das, was er seyn wollte, nicht halb, sondern ganz seyn." So wie er las, so arbeitete er und studierte die Menschen, "und Mensch, im edelsten Sinne des Worts, wollte er werden." Ganz hervorstechend, erinnert sich Just, sei in ihm die Stärke und Lebhaftigkeit der Phantasie gewesen, die sich in fast alles mischte, was er trieb, und die er als vorzüglichsten Zug seines eigentümlichsten Wesens beschrieben habe - Phantasie, der aber gleichzeitig "eine ruhige Vernunft" zur Seite ging. Obendrein, betont Just, war "Herzlichkeit ? ein Hauptbestandteil seines Charakters. Sie war so innig in sein ganzes Wesen verwebt, daß man ohne sie ihn durchaus nicht kennen kann."
Just hat diese liebenswürdige Eigenschaft seines Meisterschülers übrigens auf eine sehr persönliche, rührende Weise erfahren: Novalis stiftete mit hohem Feingefühl des Herzens die Ehe des Amtmanns mit der Professoren-Witwe Rahel Nürnberger, die er aus Wittenberg gut kannte. Hardenberg überzeugte Just vom Sinn einer ernsthaften Kontaktaufnahme, die zum Ehebund führte; die Hochzeit fand am 18. Juli 1796 statt; Amtmännin und Eheanbahner waren rasch miteinander vertraut; Hardenbergs nie erlöschende Geborgenheit im Tennstedter Haus wurde durch Rahel noch vertieft.
Gegen Schluß seiner Novalis-Biographie läßt Just subtile akustische Erinnerungen an den unvergeßlichen Freund sprechen: "Im Umgang mit Fremden oder in großen gemischten Gesellschaften war er oft stundenlang still, doch dabey aufmerksamer Beobachter dessen, was um ihn her vorgieng; aber im traulichen Zirkel desto beredter. Es war ihm überhaupt Bedürfniß, daß er sich ausreden konnte. Ganze Abende konnte man ihm zuhören, und man ward nicht müde, ihn zu hören; denn den gemeinsten Gegenständen wußte er ein Interesse zu geben. Und wie sichtbar ward da seinen Freunden der Reichtum seiner Phantasie, die Schärfe seiner Vernunft, das Innige seiner Herzlichkeit!Widerspruch vertrug er gern und ward nie unwillig darüber. Hatte er aber einmal einen paradoxen Satz gesagt, so gab er ihn nicht auf und machte davon wohl auch den Sophisten. Seine Gestalt war lang, gut gebaut, hager; sein Auge verrieth Geist, sein Mund Freundlichkeit. Sein Äußeres war einfach und schlicht, aller Putz war ihm widernatürlich."
Schon kurz nach dem Beginn der Tennstedter Lehre widerfährt Friedrich von Hardenberg das tiefste Ereignis seines Lebens: unerwartet, ungewöhnlich, geheimnisvoll und folgenreich. Er begleitet Just und Caroline auf einer Dienstfahrt zum Justizamtmann Niebecker in Clingen und lernt dort den Leutnant der Leibgrenadiergarde zu Dresden Adolph von Selmnitz kennen. Dieser schlägt vor, zum nahegelegenen Landschloß Grüningen zu reiten, wo der Hauptmann Johann Rudolf von Rockenthien mit seiner Frau Sophie Wilhelmine verwitwete von Kühn und den Kindern aus beiden Ehen lebt. Wir wissen von diesem Besuch, der Begegnung, den Vorfällen, Vergnügungen, Gesprächen so gut wie nichts, nur das Eine: Friedrich von Hardenberg kann den Blick nicht lassen vom ungewöhnlichen, wundervollen Gesicht der mädchenhaften, ja kindlichen Tochter Sophie von Kühn; er erlebt binnen Minuten, was wir mit Ausdrücken wie Liebe auf den ersten Blick, Faszination, Erweckung, Verwandlung sprachlich nur annähernd fassen können - "eine Viertelstunde" hat ihn bestimmt für dieses Mädchen, eine der schönsten, traurigsten geheimnisvollsten Liebesgeschichten der Weltliteratur hat begonnen.

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Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages
(Copyright Hanser Verlag)


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