Vorgeblättert

Wolfgang Sofsky: Operation Freiheit, Teil 1

 
18.3.2003
Resolutionen, Koalitionen, Illusionen

Der Zerfall von Institutionen geschieht häufig schneller als ihr Aufbau. Binnen weniger Wochen haben sich die Gräben in der NATO, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen vertieft. Obwohl eine Hegemonie keiner diplomatischen Ermächtigung bedarf, versuchte die alliierte Kriegskoalition, sich eine Legitimationsurkunde vom Weltsicherheitsrat ausstellen zu lassen. Die USA, Großbritannien und Spanien wollten mit einer zweiten Resolution den Verstoß des Irak gegen die Abrüstungsauflagen der UN ultimativ feststellen. Der Beschluß sollte den Krieg als Exekution eines weltweiten Willens darstellen. Ein für allemal sollte er den casus belli festschreiben. Die Ablehnung der Vetomächte Frankreich, Rußland und China war eindeutig. So klärten sich die Fronten und mit den wortreichen Bekundungen und wolkigen Erklärungen war es auf einmal zu Ende.

Die Kriegsgegner hielten eine weitere Resolution naturgemäß für überflüssig. Statt dessen wollten sie es bei einer leeren Drohung gegen den Irak belassen und den UN-Inspekteuren soviel Zeit gewähren, wie jene zu brauchen glaubten. Ein Untersuchungsprogramm samt Abrüstungskalender sollte den Krieg verhindern. Getragen von wirtschaftlichen Interessen in der Region und tiefem Mißbehagen über die forsche Hegemonialpolitik der USA, riskierten die Kriegsgegner den Konflikt mit der Weltmacht. Frankreich wiegt sich offenbar in dem Glauben, den Affront auch in Zukunft durchhalten zu können. Doch kann das Spiel mit der Vetomacht den Niedergang zentraler Institutionen der internationalen Politik beschleunigen.

Die Kosten sind bereits erkennbar. Anläßlich des Planungsstreits über die Entsendung von Awacs- und Patriotsystemen an die Türkei geriet die NATO an den Rand der Spaltung. Von einer Stunde zur anderen stand das Prinzip der Bündnistreue zur Disposition. Die osteuropäischen Staaten schätzen einen Platz im Gefolge der USA höher als die Verliererkoalition der Kriegsgegner. Wo einst der Eiserne Vorhang verlief, klafft plötzlich ein Abgrund zwischen den transatlantisch gesonnenen Staaten Osteuropas und dem Eurozentrismus Frankreichs und Deutschlands. Sogar zwischen Belgien und den Niederlanden zieht sich unversehens eine Demarkationslinie. Die Niederlande haben den USA ihre Flugplätze, Eisenbahnlinien und Häfen zur Verfügung gestellt, um ihnen weitere Schwierigkeiten mit Belgien und Deutschland zu ersparen.

Eine Entscheidung kam schließlich nur durch zwei taktische Manöver zustande. Zunächst wurde das Streitthema aus dem politischen Forum der NATO in den Planungsrat verlegt, in dem Frankreich kein Mitglied ist. Seines stärksten Partners beraubt, stimmte Deutschland schließlich für die Entsendung der niederländischen Patriotsysteme. Als Belgien sich weiterhin widersetzte, drohte Generalsekretär Robertson mit der Aufhebung der traditionellen Konsensregel. Sie gewährt jedem NATO-Mitglied faktische Vetomacht. Ein einziges Nein genügt, um eine Entscheidung zu Fall zu bringen. Die Planungsaufgabe, so Robertson, könne einfach an das militärische Oberkommando delegiert werden, falls Belgien auf seinem Standpunkt beharre. Daraufhin willigte das Land ein, und die Allianz war noch einmal gerettet. Doch sind die Folgen noch gar nicht absehbar. Vermutlich werden die nächsten Streitfragen jenseits der etablierten Gremien behandelt werden. Amerikanische Truppen können aus Deutschland abgezogen und in den Osten Europas, das Hauptquartier kann von Brüssel in die Niederlande, nach Budapest oder Warschau verlegt werden. Strategisch ist Belgien bedeutungslos, aber notfalls käme ein neuer Beistandspakt sogar ohne Deutschland aus. Die Nachteile für die isolierte Mittelmacht wären erheblich. Deutschland müßte hinfort für seinen Schutz allein aufkommen und erhebliche Mittel aufwenden, um den Bannkreis der politischen Einsamkeit zu durchbrechen.

Die Kluft in der nordatlantischen Allianz trat nicht erst in der Irakkrise zutage. Schon während der Balkankriege zeigte sich Europa unfähig zur militärischen Intervention. Es war außerstande, dem serbischen Verfolgungsterror Einhalt zu gebieten. Im Kosovo-Krieg 1999 flogen die USA die allermeisten Einsätze gegen Ziele, die durchweg von amerikanischen Nachrichtendiensten ausgespäht worden waren. Der operative Erfolg wurde jedoch verschenkt, weil Bedenken der europäischen Mitgliedsstaaten dem Einsatz enge Grenzen setzten. Das Konsensprinzip kostete Schlagkraft. Damals erschien der politische Zusammenhalt den USA noch wichtiger als die Effizienz der Militäraktion. Diejenigen, die am wenigsten zur Eindämmung der serbischen Expansion beigetragen hatten, maßten sich plötzlich die Kompetenz über die Kriegführung an. Was liegt daher näher, als künftig auf solche Störenfriede zu verzichten und ein verläßliches Kernbündnis zusammenzuschweißen?

Bruchlinien verlaufen indes keineswegs nur mitten durch den Atlantik. Auch Europa ist ob der Irakfrage gespalten. Nicht ohne Verblüffung notiert man die Wiederkehr alter Stereotype. Die Schmähungen, wie sie in Boulevardblättern diesseits und jenseits des Kanals zu lesen sind, erinnern an alte Zeiten imperialer Rivalität. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerungen mit einem Irakkrieg gar nichts im Sinne hat, sind die patriotischen Animositäten noch immer wirksam. Das populäre Gedächtnis reicht weiter zurück als die Projekte transnationaler Einigung. In friedlichen Zeiten wird es überdeckt von der wohlklingenden Rhetorik der Konferenzen und Verträge. Doch in Krisenzeiten brechen die alten Ressentiments erneut hervor. Es ist, als lege die Irakkrise nationale Wunschträume bloß, die von den Utopien kontinentaler Einheit nur notdürftig verdeckt worden sind.

Im Zentrum des Konfliktes stehen indes Kalküle der Macht und Illusionen über die Realität. Frankreich war schon immer bemüht, eine militärische Struktur neben der NATO aufzubauen. Davon versprach sich die einzige Nuklearmacht auf dem Kontinent eine führende Rolle. Wenn die USA ausgeschlossen sind, so der gaullistische Kalkül, erlangt automatisch der Zweitstärkste die Leitfunktion. Die nach dem Kosovo-Krieg von Blair und Chirac initiierte europäische Eingreiftruppe scheiterte nicht zuletzt an der Konkurrenz um die Führungsrolle. Alle Versuche Europas, eine eigenständige Streitmacht aufzubauen, sind bislang mißlungen. Nach dem Irakkrieg werden solche Projekte trotz aller Ankündigungen noch weniger Erfolgsaussichten haben als zuvor.

Aus Sicht der kleineren europäischen Länder besitzt eine eurozentrische Koalition nur geringe Attraktivität. Weshalb sollen sie sich einer zweitrangigen Führungsmacht anschließen, deren Schutz zweifelhaft und deren Ambitionen anachronistisch sind? Warum sich mit der sicheren Weltmacht USA anlegen, gegen die man ohnehin nichts ausrichten kann, und dennoch in der Hierarchie der Nationen weiter im hinteren Mittelfeld rangieren? Ein Aufstand gegen die USA wäre nicht nur riskant, es brächte die kleinen Länder auch um die Vorteile, die ihnen die Hegemonie bietet. Wie auch sonst scharen sich die Schwächsten um den Stärksten. Der Aura der Überlegenheit wollen sie nicht widerstehen. Je größer die Vormacht, desto stärker neigen die Schwächeren ihr zu. Der Hegemon wiederum nimmt die Kleinstaaten auf, beteiligt sie und untergräbt dadurch alle Avancen der Mittelmächte. Jene aber machen sich nicht nur die Führungsmacht zum Gegner, sondern bestärken auch die kleinen Nachbarn in ihrem Argwohn.

Auch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit halten die osteuropäischen Staaten in unmittelbarer Nähe der Weltmacht. Sie verdanken ihre Freiheit nicht Frankreich oder Deutschland, sondern der beharrlichen Abschreckungspolitik der USA. Während des Kalten Krieges zeigte sich Westeuropa eher desinteressiert an den Geschehnissen hinter dem Eisernen Vorhang. Manch einer fürchtete gar um Ruhe und Entspannung, wenn Dissidentenbewegungen in Polen, Ungarn oder Tschechien allzu viel Freiheit anstrebten. Als gefährliche Störenfriede galten die Rebellen gegen die totalitären Polizeistaaten, mit denen man das einvernehmliche Gespräch pflegte. In der Perspektive Osteuropas ist die Verzögerungstaktik gegenüber dem Irak nichts anderes als die Fortsetzung der unseligen Toleranz Westeuropas gegenüber Diktaturen. Eingekeilt zwischen den früheren Okkupationsmächten Rußland und Deutschland ziehen es diese Nationen vor, sich in den Schutz der fernen demokratischen Weltmacht jenseits des Atlantiks zu begeben.

Teil 2.