Vorgeblättert

Zülfü Livaneli: Katze, Mann und Tod. Teil 3

31.03.2005.
Nachdem sein Abenteuer bei der Polizei ausgestanden war und er einen blauen Flüchtlingspass von den Vereinten Nationen mit der Aufschrift "Främlingspass" bekommen hatte, war es noch monatelang jeden Morgen stockfinster draußen. Wenn er aufstand, brannte in allen Zimmern, Küchen und Fluren des Heims das Licht. Er lebte unter Flüchtlingen, die nicht schlafen konnten. Als bereiteten sie sich auf ihre Ausweisung vor, kochten sie in der Küche Kaffee, kauten ihre Sandwiches, die sie schon am Abend zuvor geschmiert hatten, und löffelten Müsli aus knusprigem Mais. Wenn er nachts ins Freie trat, spürte er die kalte Luft wie Nadeln in den Lungen. Das Licht der Straßenlaternen zwischen den Betongebäuden fiel auf den vereisten Schnee, die rutschige, spiegelglatte Oberfläche glänzte im Lampenschein. Zitternde, frierende Schatten gingen an ihm vorbei, die versuchten, nicht auszugleiten. Jeder hatte den Kopf zwischen den Schultern vergraben. In der Dunkelheit des Morgens drängten sie sich an der Haltestelle und warteten auf den Bus. An der Endhaltestelle stieg er aus und fuhr mitten in der bleichgesichtigen Menge auf den Rolltreppen tief in die Erde hinunter. Aus den Wänden sickerte Wasser, es herrschte feuchte Grabeskälte. Im grellen Licht der Station drängte sich jeder hastig in den Zug, der schnell wie der Wind unter großem Getöse aus dem Tunnelschlund herbeiraste.

Wenn sie wieder an die Oberfläche kamen, hatte sich die Dunkelheit kein bisschen aufgehellt. In der Schule brannten die Lampen, und er setzte sich mit seinen Mitschülern aus Uruguay, Chile, Griechenland, Japan und Iran in die Bank und wartete auf den Unterrichtsbeginn. Die anderen waren ebenso alleine und fern ihrer Heimat; dabei lebten sie - was ihn erstaunte - unter ganz ähnlichen Bedingungen wie er selbst. Der rotbärtige Lehrer, der an einen mittelalterlichen Bauern erinnerte, wiederholte mit biblischer Geduld und einem nie versiegenden Lächeln die schwedischen Wörter, die sie nicht über die Lippen bringen konnten.


Mit großer Geschwindigkeit, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, fuhr er in die nächste Kurve. Als der Wagen dann über die Hinterachse abrutschte und mit dem Heck von der Straße abkam und er schon dachte, dass nun alles zu Ende sei, in diesem entsetzlichen Augenblick, als er sich schon fast freute, dass sich der Wagen wieder fing, bemerkte er, wie ein riesengroßes, braunes Tier auf ihn zuflog.

Seine Gedanken erstarrten, er war wie vom Schlag getroffen. Sofort trat sein Fuß auf die Bremse, doch gleichzeitig war ihm klar, dass er den Wagen nicht mehr zum Halten bringen konnte. Er spürte es mit dem ganzen Körper. Entsetzen breitete sich bis in die feinsten Äderchen seines Körpers aus und ließ sein Blut gefrieren. Er begriff, dass der Haufen Metall unter ihm von unkontrollierbarer Fliehkraft erfasst worden war.

Ein Paar feuchte, riesige Augen schauten ihn an, darüber ein Geweih, das ihm wie eine Halluzination vorkam. Wie im Flug raste er darauf zu, ihn erfasste ein Schauder. Dann schien seine Wirbelsäule zu beben, sein Genick. Er glaubte, eine Explosion zu spüren, in der die ganze Welt zerbersten müsste. Der alte Volvo schlingerte und schleuderte nach dem Zusammenstoß noch etwas weiter und blieb schließlich, nach kurzem Schütteln, quer zur Fahrbahn mit der Front in den Wald schauend, wie leblos liegen.

Die Scheinwerfer leuchteten in die verschneiten Bäume. Der Wald war totenstill. Als sei die Welt zu Eis erstarrt. Sami stieg aus, die Kälte schnitt ihm sofort in die Wangen. Es war, als atmete er Eis ein. Auf dem dunklen Weg lag ein Körper, und daneben bewegte sich etwas. Er stieg wieder in den Wagen und wendete den Volvo in die Richtung, aus der er gekommen war. Dann erst sah er im Scheinwerferlicht die mächtige Hirschkuh auf der verschneiten Straße liegen. Ihr Hirschkälbchen lief um sie herum, leckte ihr das Fell und stupste sie mit der Schnauze.

Samis Herz gefror zu Eis! Er konnte nicht glauben, was er sah. Erneut öffnete er die Tür, stieg aus. Vor ihm auf dem Boden lag eine riesengroße Hirschkuh. Eine Seite ihres Geweihs war nahe am Kopf abgebrochen. Aus ihrem Maul sickerte Blut. Sami kniete bei ihr nieder. Als er die Todesangst in ihren großen, feuchten Augen sah und bemerkte, wie ganz leise Blut aus ihren Augen rann, wurde sein Herz von unerträglichem, überwältigendem Mitleid erfasst. Die Hirschkuh mit Schaum und Blut vor dem Maul, schaute ihn aus verletzten Augen verzweifelt an. Sami streichelte ihren großen, schönen Kopf. Er spürte ihre feste Stirn und fühlte die Lebenswärme, die sie schon bald verlassen würde. Und gleichzeitig bemerkte er, wie das Hirschjunge seine Hand leckte. Es benetzte ihm die Hand mit seiner rosafarbenen, angenehm warmen Zunge und rieb seinen Kopf an ihm.

Sami konnte nicht länger ertragen, wie die Hirschkuh ihn unverwandt ansah und das Junge sich an ihn drückte. Noch eine Sekunde, und sein Herz wäre geborsten. Panik überkam ihn, er rannte über die vereiste Straße zu seinem Volvo. Er trat aufs Gas und stob davon. Nun fuhr er noch schneller als zuvor. Tränen strömten ihm dabei aus den Augen, seine Wangen waren schon ganz nass. Die Abstände seines Seufzens wurden kürzer, hektischer. Ohne Unterlass jammerte er, redete wirres Zeug. Gleichsam als Totenklage für die beiden Hirsche, kamen ihm Zeilen alter anatolischer Hirtenlieder in den Sinn. In einem Lied wurde erzählt, wie das Blut des Hirschs heruntertropfte, wie Ameisen in seine Augen krabbelten. Dann ging es weiter: "Flieh, Gazelle, mit deinem Jungen, da kommt ein fremder Jäger." Wäre die Hirschkuh nicht im letzten Augenblick noch zur Seite gesprungen, hätte er sie frontal erwischt und den Unfall am Ende nicht überlebt. Das Tier hatte ihn also gerettet, hatte sich aber selbst nicht mehr in Sicherheit bringen können. Nun lag es auf dem Eis und wartete auf den sicheren Tod. Doch was machte das Junge, wenn sie tot war? Würde es schließlich die Hoffnung aufgeben und weglaufen? Oder würde es die ganze Nacht bei ihr ausharren und sie lecken, in dem Glauben, der Mutter wieder Leben einhauchen und sie zum Aufstehen bewegen zu können?

Je klarer sein Verstand wieder wurde, desto deutlicher wurde ihm, dass er etwas sehr Schlimmes getan hatte. War es anständig, das sterbende Tier und das Junge einfach so auf der Straße liegen zu lassen und zu verschwinden? Er murmelte eine weitere Zeile des Liedes: "Wie viele deiner Jungen hat der Jäger schon geholt?" Nein, er hätte nicht fliehen dürfen.

Doch er war weggerannt, weil sich das Mitleid wie ein Dolch in sein Herz gebohrt hatte. Eigentlich müsste man in einer solchen Situation Mut beweisen. Vielleicht hätte er eine Möglichkeit gefunden, das Leiden des verletzten Hirschs zu verkürzen. Und das Junge hätte er mitnehmen und an einen sichereren Platz bringen können.

Nun bereute er seine Panik und Furcht. Sein Entschluss stand fest. Er wollte zurückkehren und der Hirschkuh und ihrem Kälbchen beistehen. Es musste sein. Deshalb wendete er den Volvo erneut. Wie bitter es auch war, er musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Denn die Erinnerung an diesen Unfall würde ihm nie wieder aus dem Kopf gehen.

In der Dunkelheit sahen alle Kurven gleich aus. In jeder Biegung nahm er das Gas weg und hoffte die Hirschkuh und ihr Junges zu sehen, doch jedes Mal war die vereiste Straße leer. Immer in der Hoffnung, die Tiere zu finden, fuhr er sehr weit und suchte jede Kurve ab. Die Stelle musste er doch längst passiert haben. Doch er fand weder Hirschmutter noch Kälbchen!

Er stoppte in der Kurve, die dem Unfallort am ähnlichsten sah, und suchte alles ab. Ja, hier musste es gewesen sein. An den Reifen- und Bremsspuren sah man es deutlich. Doch weit und breit war nichts vom Hirsch oder dem Jungen zu sehen. Er fand auch keine Blutspur. Ob wohl Leute, die nach ihm vorbeigekommen waren, die Tiere gerettet hatten? Vielleicht hatten sie die Polizei benachrichtigt und das Nötige veranlasst. Oder war die Verletzung der Hirschkuh gar nicht so schwer, und sie war mit dem Jungen im vereisten Wald verschwunden?

Doch wenn es nicht so war? Waren die Hirschkuh und das Junge, war der Unfall am Ende nur Einbildung? Aber er hatte doch die Wärme des Hirschs, seine harten Schädelknochen der Stirn unter seinen Händen gespürt! Wie konnte er sich so täuschen? Das Hirschkalb hatte ihm doch mit seiner warmen Zunge die Hand geleckt? Wer sich so etwas einbildet, hat ganz und gar den Verstand verloren! Nein, verrückt war er nicht. Gesundheitlich war er zwar nicht ganz in Ordnung, doch hatten ihn die Jahre als Flüchtling hier im Norden noch nicht in den Wahnsinn getrieben. Gott sei Dank!

Nachdem er ein wenig nachgedacht hatte, wusste er, wie er das Problem lösen konnte. Er wollte sich den Volvo genau anschauen und nach Spuren des Zusammenstoßes suchen. Nur ein solcher unwiderlegbarer Beweis konnte ihm seinen Seelenfrieden zurückbringen. Er ging zum Wagen und untersuchte die Frontpartie, ließ seine Finger über die vereiste Karosserie gleiten und suchte nach Spuren des Zusammenstoßes. Doch es war wie verhext, an der Vorderseite des Volvos, der überall sonst eingebeult und zerkratzt war, fand sich kein Schaden oder irgendeine Spur! Das Auto war völlig unversehrt!

Da atmete Sami den eiskalten Abendwind tief ein, bis seine Lungen brannten. Er begriff nun, dass es diesmal ernst war mit dem Krankenhaus. Er war schlimmer dran, als er für möglich gehalten hatte. Tiefe Furcht packte ihn. Angst machte sich in seinem Herzen breit. Der griechische Gott Pan hatte auch ihm - wie allen Menschen - die Fähigkeit zur Panik geschenkt.

Mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages

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