Vorworte

Und jede Nacht der Tiger unterm Bett

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
13.10.2022. Schlecht schlafen tun wir alle mal. Aber was, wenn sich das Übel steigert, Körper und Geist über Wochen, Monate, ein ganzes Jahr nicht zur Ruhe kommen? Die englische Schriftstellerin Samantha Harvey ist durch diese Hölle gegangen - und rang der Finsternis dabei ein luzides, farbenreiches Buch ab.
In loser Folge stellt Angela Schader wichtige Neuerscheinungen vor - immer einige Zeit, bevor sie herauskommen." D.Red.

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Samantha Harvey, 2019. Foto: Urszula Soltys
Vier Romane hat Samantha Harvey bereits vorgelegt, als sie sich in einer schlaflosen Nacht selbst zur Kasse bittet. Wie war das noch mit dem Anfang von "The Western Wind" (dt. "Westwind"), ihrem jüngsten Werk? "Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel", so beginnt es; aber nicht die kleine Anleihe bei Augustinus, das "Bin ich auch Staub und Asche", ist das Problem, sondern was auf diesen ersten Satz folgt: Auch Harveys Protagonist, Geistlicher in einem abgelegenen englischen Kuhdorf, hat für einmal eine schlechte Nacht hinter sich, muss von ragged sleep, unruhigem, zerrissenem Schlaf berichten.

Als sie die Passage schrieb, so Harvey, hatte sie keine Ahnung von "zerrissenem Schlaf"; mittlerweile, nach Monaten chronischer Schlaflosigkeit, ist sie diesbezüglich aufgeklärt und hat in ihren Nächten alle Zeit der Welt, um destruktive Gedanken zu wälzen. So auch das Unbehagen über jene Formulierung, die sie nun als Schwindel empfindet. "Heute schockiert es [mich], wie trügerisch Worte sind. Jedes Wort beansprucht Autorität, giert nach Glaubwürdigkeit (…) Aber hinter einem Wort muss nicht notwendigerweise eine Erfahrung stehen. Ein Wort kann ein Schatten sein, ohne dass da ein Körper ist, der ihn wirft." Kein harmloser Befund für eine Autorin, die ihr Handwerk ernst nimmt. Als "kleine Betrügerin" sieht sich Harvey, als eine, die Wörter wie ererbtes Geld ausgebe - nämlich ohne sie je verdient zu haben.

Dass die 1975 geborene britische Schriftstellerin sich in irgendwelchen Erbschaften - seien sie materieller oder sprachlicher Art - wälzen konnte, ist allerdings nicht anzunehmen. Ihr Vater war ein einfacher Bauarbeiter, der nur mit Mühe lesen und schreiben konnte. Nie hatte er ein Buch zur Hand genommen, bis 2009 ihr erster Roman erschien. "The Wilderness" hinterfängt den mentalen Zerfall des an Alzheimer erkrankten Protagonisten mit Erinnerungsbildern von bestechender Klarheit, aus denen aber auch ungelöste Konflikte und der nur angedeutete Schattenriss eines traumatischen Verlusts hervortreten; das mit mehreren Preisen bedachte Buch schaffte es auf die Shortlist des Orange Prize und die Longlist des Booker - und dem Vater war es jede Mühe wert. "Ein Jahr lang hat er sich damit abgequält. Seitdem hat er auch nur deine Bücher gelesen. Stockend gelesen, mit zusammengebissenen Zähnen", berichtet Samantha Harvey in ihrem 2020 erschienenen Memoir "The Shapeless Unease", das unter dem Titel "Das Jahr ohne Schlaf" demnächst in einer von Julia Wolf besorgten Übersetzung bei Hanser Berlin erscheint. Man begegnet darin der hierzulande noch wenig bekannten Autorin auf sehr persönlicher Basis; vor allem aber möchte man es all jenen auf den Nachttisch legen, die Harveys Leiden aus eigener Erfahrung kennen.

Durchwachte Nächte haben es in sich. Sie können ewig scheinen, während zugleich die Zeit viel zu schnell vorrückt. Verdammt, drei Uhr vorbei und immer noch kein Auge zugetan. Sich zum x-ten Mal auf die andere Seite drehen, oder Rückenlage und tief durchatmen? Das heißgelaufene Hirn herunterfahren, indem man für jeden Buchstaben des Alphabets drei Musikinstrumente findet, von Alphorn, Altflöte, Arpeggione bis Zither, Zimbel und - ja, was wohl noch? Alles müßig, wenn just das Verlangen nach Ruhe das Adrenalin immer höher peitscht, wenn Welt- und Selbstverdruss querbeet über das niedergestreckte Ego trampeln. Ein trüber Strudel, der sich weitet und zusammenzieht, skandiert nur vom Glockenschlag der nahen Kirche. Wer diese Unzeit erlebt hat, wird es stimmig finden, dass Harvey ihr Jahr ohne Schlaf in eine einzige Nacht fasst. Jeder Stunde ist eine Gruppe der mehrheitlich kurzen Texteinheiten zugeordnet, aus denen sich das Buch zusammensetzt; jede dieser Einheiten aber ist durch ein kleines Unendlichkeitszeichen von der nächsten getrennt.

Dabei schlägt die Autorin unterschiedlichste Themen und Tonarten an. Bald rapportiert sie beschreibend oder in oft wie Realsatire anmutenden kurzen Dialogen ihre Termine bei Therapeutinnen, Beratern und der notorisch schmallippigen Ärztin, die sie wegen ihres Leidens aufsucht; dann wieder schlüpft sie selbst in die Rolle der Gutachterin im weißen Kittel, indem sie eine fiktive Fallstudie samt pseudowissenschaftlichen Fußnoten unter dem Titel "Verdacht auf chronische Post-Brexit-Insomnie (PBI)" aufsetzt. Sie schildert eindringlich die Höllenkreise von Panik und Verzweiflung, durch die sie in manchen Nächten getrieben wird, bis sie sich die Haare rauft, den Kopf gegen die Wand schlägt; aber auch die so hilflose wie bezaubernde Intervention ihres Lebensgefährten, der sie mit einem grotesken "Flamingo-Tanz" aufzuheitern versucht. Sie durchforscht die eigene Biographie nach möglichen Ursachen des Übels, wirft Seitenblicke auf Bekannte, die im Glauben oder der Wissenschaft Halt gefunden haben, ärgert sich zwischendurch über das leere Geschwätz, das nach dem Brexit-Votum durch die Medien schwappt; denkt über Sprache nach, fädelt Wortbedeutungen auseinander, reflektiert auch übers literarische Schreiben, das sich zudem in einer kurzen, stückweise ins Memoir gefügten Erzählung verselbständigt.

Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU hatten Harveys Schlafprobleme übrigens weniger zu tun, als der Titel der "Fallstudie" suggeriert. Trotzdem dürfte das fingierte Dokument in der Substanz durchaus faktennah sein, denn es führt eine ganze Reihe weiterer, die Existenz der Autorin direkter tangierender Ursachen an. Erste Störungen traten auf, als Harvey in eine Wohnung an einer stark befahrenen Straße umzog; zur Wut über den frühmorgendlichen Verkehrslärm gesellten sich im Sommer 2016 Frust und Ärger über den Brexit-Entscheid, die ihr auch das Einschlafen schwerer machten. Gegen Ende Jahr brach dann der Boden gleich stückweise weg. Harveys Familienkreis wurde von einer ganzen Reihe von Unglücksfällen heimgesucht; besonders traf sie der Verlust ihres Cousins Paul, der sich tapfer durch ein von Krankheit überschattetes Leben gekämpft hatte. Er starb allein und völlig überraschend, erst zwei Tage später wurde der Leichnam gefunden.

Vor allem seinetwegen spielt der Tod, der ja auch Schlafes Bruder ist, zu Beginn des Buchs eine prominente Rolle - wobei es für die Lektüre des Briefes, den Harvey an den verstorbenen Cousin richtet, etwas Stehvermögen braucht. Sie resümiert darin, was nach dem Tod mit dem Körper geschieht, sofern man diesen sich selbst überlässt; das ist nicht eben erquicklich, aber entschieden faszinierend zu lesen. Denn die Schriftstellerin selbst erfährt dabei, dass Leben und Sterben unauflöslich verschränkt sind: Die Enzyme, welche nun die Auflösung des Leibes befördern, sind schon von Geburt an im Zellmaterial enthalten - und wenn sie post mortem in Aktion treten, setzt zumindest in der ersten Phase des Zerfalls ein wild entfesseltes Leben ein, das den Toten zu "einer dynamischen, sich bewegenden Masse" werden lässt.

Effekthascherei auf Kosten des Verstorbenen möchte man der Schriftstellerin wegen dieser Passage nicht vorwerfen. Liebe und Respekt sprechen aus dem Erinnerungsbild, das sie zuvor von Paul gezeichnet hatte, und die sinistre Todes-Meditation passt in ein Buch, das sich wiederholt mit Grenzerfahrungen auseinandersetzt. Präzise analysiert Harvey etwa das Verhältnis zwischen "innerer Unruhe", die oft als Ursache von Schlafstörungen wahrgenommen wird, und der existenziellen Angst, die sie in den durchwachten Nächten faktisch empfindet; denn Schlaflosigkeit, auf Dauer gestellt, geht ans Lebendige.

"Was schürt die Schlaflosigkeit - Angst oder innere Unruhe? Innere Unruhe, sagen alle. Innere Unruhe, sagt auch mein Hypnotherapeut. In Ihrem Bett sind Sie sicher, und doch rast Ihr Puls, als stünden Sie einem Tiger gegenüber. Sie müssen lernen zu erkennen, dass da kein Tiger ist.

Aber da ist sehr wohl ein Tiger. Er heißt Schlafentzug. Schlafentzug ist keine vermeintliche Bedrohung, sondern eine wirkliche, wie Durst oder Hunger. Nicht die innere Unruhe beschleunigt den Puls und verspannt die Muskeln, sondern die Angst vor der Schlaflosigkeit. (…) In deinem Schlafzimmer befindet sich ein Tiger, da solltest du Angst haben. Doch gegen diesen Tiger kannst du nicht gewinnen, indem du dich tot stellst, fliehst oder kämpfst, alle deine Mechanismen im Umgang mit einer echten Bedrohung versagen, was wiederum die Angst verstärkt, was dann den Tiger zurückkehren lässt. Ein Teufelskreis von euklidischer Perfektion."

Solch disziplinierte Arbeit am Begriff ist für Samantha Harvey alles andere als Neuland - entgegen den eingangs zitierten bitteren Selbstvorwürfen. Hätte sie sich in jener schlaflosen Nacht nicht nur an "The Western Wind" erinnert, sondern auch an "All Is Song", ihren 2012 erschienenen zweiten Roman, dann wäre ihr die Frage, wie weit die Forderung nach der inhaltlichen Deckung eines Wortes getragen werden kann, in ganz anderem Licht erschienen. Denn im Zentrum dieses Buches steht mit dem Denker William Deppling ein Mann, der genau in dieser Hinsicht bis zum Letzten geht; der seine akademische Laufbahn aufgibt, seine Nächsten zur Verzweiflung treibt und sich vor Polizei und Richtern zwar nicht um Kopf und Kragen, aber doch für mehrere Jahre ins Gefängnis redet, weil er partout kein Quäntchen Vagheit in der Sprache akzeptiert.

An der Vollkommenheit Gottes teilzuhaben, so dieser heillose Perfektionist, bedeute, stets zu hinterfragen, was man vor sich sehe. Doch was genau sieht William? Sieht er Leonard, seinen jüngeren, ihm bedingungslos zugetanen Bruder, sieht er Jan, die liebenswerte Ehefrau seines besten Freundes, wenn er eine ihrer Äußerungen mit endlosen Rückfragen hackstückt, allein von seiner eigenen Logik getrieben und ohne Gespür für die Erfahrungen oder Empfindungen, die das Gegenüber ihm mitteilen wollte? Sieht er die Fußangeln, die lauern, wenn er alles Verkehrte und Böse, was Menschen anrichten können, von der Notlüge bis zum Genozid, auf ein und dasselbe Movens herunterbricht - Unwissenheit und Angst? Hat er - gerade aus heutiger Sicht, da das Misstrauen gegenüber den etablierten Medien um sich greift - tatsächlich ein As in der Hand, wenn er die Demokratie als Tummelplatz einer "kollektiven Ignoranz" sieht, weil die Menschen ihre politischen Entscheide nicht autonom aufgrund der "reinen Fakten" fällen würden, sondern lediglich "die Meinung von sich geben, die ihnen mit dem Löffel verabreicht wurde"?

Harvey führt ihre Charaktere geschickt genug, um William im Spiel zu behalten. Der Roman ist zwar aus auktorialer Perspektive erzählt, reflektiert aber das Geschehen durchgehend aus Leonards Sicht. Liebevoll und achtsam, dann wieder verletzt und wütend blickt er auf den Bruder, und die Präsenz dieses klugen, empfindsamen Gefährten zwingt auch die Leserin dazu, sich Williams Ideen immer wieder zu stellen und dabei eigene Positionen zu hinterfragen. Eine solche Volte ist auch in der Handlung vorgezeichnet. Eingangs greift man sich an den Kopf, weil William einzig dem gesprochenen Wort vertraut, niemals publiziert und auch die eigene Bibliothek verstauben lässt. Was gedruckt oder geschrieben sei, meint er, liege wehrlos auf dem Papier, Missverständnissen und Entstellungen ausgesetzt. Und genau dies bestätigt sich am Ende, wird ihm zum Verhängnis: Die während Williams Vorträgen entstandenen Notizen eines Studenten sind es, aufgrund deren ihm Verantwortung für ein Verbrechen angelastet wird, das zu befördern er nie die Absicht hatte.

"All Is Song" ist nicht der einzige Roman Harveys, der in "Das Jahr ohne Schlaf" eine Art Nachhall findet. Auch zu "Dear Thief" (2014) lässt sich eine Brücke schlagen; wie "All Is Song" liegt diese eigenwillige, durch die lyrische Intensität ihrer Schilderungen bestechende Dreiecksgeschichte noch nicht auf Deutsch vor. Samantha Harvey hat sie als einen langen Brief gestaltet, den die Ich-Erzählerin an eine Kindheits- und Jugendfreundin richtet, die sich später in ihre Ehe drängte; zu Beginn greift sie deren vor Jahren gestellte Frage auf, ob die Protagonistin auch schon einmal durch die "gauze of life", das dünne Gespinst des Lebens, gesehen habe.

Die Ich-Erzählerin hat damals nicht geantwortet. Nun aber berichtet sie von einer Nacht, in der sich zwei solche Grenzerfahrungen überschnitten. Sie wachte damals bei ihrer sterbenden Großmutter, gönnte sich zwischendurch einen Spaziergang am Flussufer, bei dem sie auf eine Ablagerung aus Tierknochen stieß; ausgebleicht und blank gewaschen, muteten sie eher wie Skulpturen an als wie funktionale Elemente eines Körpers. Im Stillen wusste sie da schon, dass sie die Großmutter nicht mehr lebendig wiedersehen würde. Machtvoll und ruhig sei bei ihrer Rückkehr die Gegenwart des Todes gewesen, berichtet sie der Freundin, eine Ruhe von derselben Art, wie sie sie beim Anblick der Knochen empfunden hatte. Und manchmal nehme sie sich nun selbst so wahr - als "willkürliche Gruppierung von Materie, die keine Vergangenheit, keine Zukunft und keinerlei Bedeutung hat".

In "Das Jahr ohne Schlaf" rekapituliert Samantha Harvey einen ähnlich intensiven, aber ungleich erschreckenderen Moment der Auflösung, in dem sie jählings durch das dünne Gespinst des Lebens gefallen war. Es geschah an einem Abend im Pub, inmitten von Freundinnen und Freunden. "Und auf einmal fühlte sich die Situation so unwirklich an. Mir kam der Gedanke, dass die Szene, in der ich mich gerade wiederfand, mit diesen Leuten, in dieser Kneipe, ein Traum sein könnte, die Halluzination eines anderen Hirns in einer anderen Dimension - meines Hirns, das irgendwo in irgendeiner Flüssigkeit vor sich hindümpelte (…) Und von einem Moment auf den anderen fiel der Trost, den mir die Kneipe und meine Freunde gespendet hatten, in sich zusammen. (…) Rückblickend glaube ich, dass meine Schlaflosigkeit kurz nach diesem Erlebnis begann."

Am Ende ihres Memoirs notiert die Schriftstellerin ein Rezept, wie Schlaflosigkeit zu kurieren sei: Schwimmen, schwimmen, schwimmen, mit der Strömung, gegen die Strömung, egal wo und wann, egal wie kalt das Wasser ist, aber kalt muss es sein. Dass dies nicht jedermanns Sache sein dürfte, fällt nicht so sehr ins Gewicht. Denn faktisch war es etwas anderes, das Samantha Harvey in der Zeit jener existenziellen Heimsuchung Halt und die Möglichkeit gab, die zerrissene Textur ihres Lebens wieder zu festigen: das Schreiben. Dadurch gelang es ihr, der amorphen Finsternis aus Erschöpfung und Verzweiflung, die sie in sich spürte, Ordnung und Gestalt zu geben, aus dem Chaos sogar "eine Illusion von Vollkommenheit" zu schöpfen. Und mehr noch. Sie lernte ihre Gabe als Instrument der Liebe kennen, als eine Kraft, die den tosenden Kerker zu sprengen vermochte, zu dem ihr der eigene Kopf geworden war. "Beim Schreiben wird der Lärm destilliert und verfeinert, und das Selbst kann einen Ausweg finden. Das, denke ich, ist Liebe - wenn das Selbst dem Selbst entkommt."

Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf.
Aus dem Englischen von Julia Wolf.
Hanser Berlin, 2022. 176 Seiten, gebunden, 23 Euro.

Erscheint am 24.10.2022

Zur Leseprobe (nur bis 13.9.2023)

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