Vorworte

Melting Pot? Von wegen!

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
17.01.2023. Der vielbeschworene Schmelztiegel, in dem sich Menschen unterschiedlichster Herkunft harmonisch zusammenfinden, waren die USA nie. Wie gründlich dieser amerikanische Traum mittlerweile liquidiert ist, zeigt nicht zuletzt die Identitätsdebatte, deren Diskurse Jonathan Escoffery in seinem Erstlingswerk lustvoll auf die Pike nimmt. Auch sonst hat sein Roman "Falls ich dich überlebe" allerhand zu bieten.

Jonathan Escoffery. Foto © Cola Greenhill-Casados
Wenn sogar die eigenen Haare nicht wissen, welche Herkunft und Zugehörigkeit sie signalisieren sollen, wie sieht es dann erst im Kopf darunter aus? Trelawney jedenfalls starrt lange und ratlos auf seinen ungebärdigen Schopf. "Einzelne ragen auf, andere verbinden sich zu welligen, flusigen Büscheln, wieder andere bilden stabile Spiralen." Das Spiegelbild konfrontiert den jungen Mann einmal mehr mit dem Dilemma, das ihn von Kind auf umtreibt: "Nicht mal deine Haare können sich darauf einigen, was sie sind."

Zehn Jahre, von den ersten Skizzen an gerechnet, hat der Schriftsteller Jonathan Escoffery investiert, um Trelawney und seiner Familie literarische Gestalt zu geben; er war 41, als er im vergangenen September sein Debütwerk "If I Survive You" vorlegte. Das Buch scheint zuvor schon in den Hinterzimmern des Literaturbetriebs Aufmerksamkeit erregt zu haben - so stand der Publikationstermin der deutschen Ausgabe bereits im Sommer 2022 fest. Das Interesse verwundert nicht, denn Escofferys Erstling bürstet - um bei der haarigen Metapher zu bleiben - nicht nur die Identitätsfrage zünftig gegen den Strich, er lotet auch struppige, ruppige Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, zwischen ungleichen Brüdern aus. Und nicht zuletzt nehmen einen die dicht miteinander verflochtenen Erzählungen mit auf eine satirisch überhöhte, aber mit realen Erfahrungen des Autors unterlegte Parforcetour durch die Survival-Taktiken des urbanen amerikanischen Prekariats.

Auch sonst gibt es Bezugspunkte zwischen Trelawney, der Hauptfigur im Buch, und seinem Schöpfer. 1980 geboren, ist Trelawney praktisch gleich alt wie Escoffery, beide sind als Kinder aus Jamaika immigrierter Eltern in Miami aufgewachsen. Aber während die Mutter des Schriftstellers immer mal wieder in den Geldbeutel griff, um die Leselust des Sohnes zu alimentieren, verkriecht sich sein Protagonist mit Buch und Taschenlampe in ein Schrankabteil, um seiner Leidenschaft zu frönen. Die Heimsuchungen durch allerlei Getier und Ungeziefer und die von den Ausdünstungen der nahen Mülldeponie geschwängerte Luft, die Escoffery in "Pestilenz" schildert, dürften auch prägende Elemente seiner Kindheitswelt gewesen sein. "Ich fühle mich gedrängt, meine eigene Geschichte zu bewahren, und durch eine Story wie 'Pestilenz' wollte ich den Lesern klarmachen, dass solche Orte tatsächlich existierten", sagt er im Interview mit Jane Ciabatti von der Website Literary Hub. Nicht zuletzt hat er die dauernde Geldknappheit, die seinen Protagonisten im Nacken sitzt und sie zu Selbstdemütigung und grotesken moralischen Verrenkungen nötigt, in etwas entschärfter Form ebenfalls durchlebt. Gegenüber dem Online-Magazin The Rumpus skizziert er einige der "shitty jobs", mit denen er sich über Wasser hielt: Frühmorgendliches Toilettenputzen und das Bewirtschaften von Mülltonnen sowie die anschließende Not, den Gestank vor Schulbeginn wieder aus den Kleidern zu bringen, prägten seine High-School-Zeit, die Launen der Superreichen lernte er bei Gelegenheitsarbeiten auf Fisher Island, einem Luxus-Resort vor Miamis Küste, kennen. Die Offerten für anrüchige Gigs, die Trelawney auf dem Internetportal Craigslist findet, hat der Schriftsteller dort tatsächlich gelesen, ist ihnen aber, im Gegensatz zu seiner Figur, nicht weiter nachgegangen; faktenbasiert ist dagegen sein Wissen um das zynisch ausbeuterische Betriebskonzept einer sogenannt sozialen Wohneinrichtung für Betagte, welches in "Eigenständiges Leben" dargestellt wird.

"Auf Ihre Frage Wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? müsste ich gestehen, betagte Menschen zu jagen", beginnt die Story. Die Gejagten sind die Bewohner der subventionierten Appartements im Wohnblock Silver Towers; einmal festgesetzt, müssen sie Trelawney, der dort als Assistent des Managers amtet, Rede und Antwort stehen über ihre Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags, über Zigarettenkonsum und allfällige Haustiere, über sämtliche Einkünfte oder empfangenen Zuwendungen. Wer zu wenig kann oder hat, fliegt raus, wo das Verhör verborgene Geldquellen freilegt, wird der Mietzins angehoben. Denn, so Trelawney: "Die Leute meinen, es wäre unsere moralische Verpflichtung, älteren Leuten möglichst wenig Miete abzuknöpfen. In Wahrheit hat Silver Towers drei Aufgaben: Immobilienwert steigern, hohe Auslastung sicherstellen, stete Mieterhöhungen gewährleisten."

Seine eigenen Erfahrungen als Mitarbeiter in einem solchen Betrieb hatte Escoffery ursprünglich in einem Essay festhalten wollen, diesen dann aber ins Fiktionale gewendet; mehrere Storys im Buch haben diesen Prozess durchlaufen. So sei es möglich geworden, die Konflikte auszubauen und die Charaktere interessantere Fehler machen zu lassen - solche, die er im realen Leben tunlichst vermieden hätte, erklärt er im Gespräch mit Jane Ciabatti. Gegenüber The Rumpus legt er dann ein passioniertes Bekenntnis zur Short Story ab. Er sei wiederholt gefragt worden, warum er sein inhaltlich weitgehend kohärentes Material nicht in einen Roman umgegossen habe; doch der Stoff habe nach experimentellem Umgang mit der Form verlangt und den Erwartungen, die man an einen Roman stelle, derart widerstrebt, dass er sich nicht guten Gewissens fürs letztere Genre habe entscheiden können. Vor allem aber habe er "die Short Story als solche feiern" wollen - etwas Besseres gebe es für ihn nicht. Angesichts solcher Aussagen hätte der deutsche Verlag eigentlich darauf verzichten müssen, dem Buch - wohl im Blick auf bessere Vermarktbarkeit - das Etikett "Roman" anzuheften.

Was den Umgang mit der Form angeht, stechen insbesondere die zwei Texte ins Auge, die den Band eröffnen. Der erste trägt den Titel "Im Fluss"; er beleuchtet die Identitätsdebatte aus für uns ungewohnter Perspektive, nämlich von innen her, indem er Trelawneys bis in die Haarspitzen reichende Not in Sachen ethnisch-kultureller Selbstverortung thematisiert. Wo immer der Heranwachsende sich niederlassen will, landet er zwischen Stuhl und Bank, sogar in der eigenen Familie: Der Vater kann's nicht fassen, dass aus dem Mund des Sohnes das in Kinderhort und Schule absorbierte "Yankee-Englisch" kommt statt des kräftig kolorierten "Patwah", der in Jamaica gesprochenen, auf dem Englischen basierenden Kreolsprache. Der Sohn wiederum schämt sich des elterlichen Idioms und sucht im ethnisch vielfältigen Miami vergeblich nach einer Nische, in die er sich unauffällig fügen kann. Für seinen eher hellen Teint würden sich die Gemeinschaften der Hispanics anbieten, etwa Puerto-Ricaner oder Dominikaner, aber beim Versuch, sich ihnen anzuschließen, fällt früher oder später die Sprachbarriere. Von Kubanern akzeptiert zu werden, kann man gleich vergessen, denn die erschauern beim bloßen Gedanken an das afrikanische Blut, das in den Adern der meisten Jamaikaner fließt. In den Augen der letzteren wiederum mangelt es Trelawney an Bewusstsein für die eigene Kultur. Schließlich setzt er trotzig auf Schwarz; aber die "echten" afroamerikanischen Mitschüler beäugen ihn skeptisch bis feindselig, die Lehrer misstrauen ihm aus anderen Gründen: So verdächtigt man ihn gar des Plagiats, weil ein von Trelawney verfasster Essay "zu gebildet" für einen Schwarzen klinge. Nach Jahren solchen Ringens appelliert der Protagonist zu guter Letzt an die letztgültige Instanz, die Wissenschaft, und lässt eine DNA-Analyse erstellen. Das Resultat? Es ist zu schön, um hier ausgeplaudert zu werden.

In "Unter der Akee", der zweiten Story, ergreift Trelawneys Vater Topper das Wort. Wie "Im Fluss" ist sie in der zweiten Person Singular geschrieben, einer Form, die - so Escoffery - ein "brutal aufrichtiges Gespräch" erlaube, welches die Figur, dem Urteil eines auktorialen Erzählers entzogen, mit sich selbst führe.

Das Wort "Akee" wird hierzulande der eine und die andere erst einmal googeln müssen: Aus den nicht ungefährlichen, aber köstlich schmeckenden Früchten dieses Baums wird ein Leibgericht der Jamaikaner zubereitet. Nach der kleinen Hürde beim Eintritt liest sich Henning Ahrens' Übertragung der Erzählung dann aber genauso flüssig weg wie die übrigen, in ein spritzig-treffsicheres Deutsch gebrachten Stories - und da liegt ein Problem. Denn für die Originalfassung von "Unter der Akee" hat Escoffery das Patwah gewählt und seine Übersetzerinnen und Übersetzer dadurch mit einer der ewigen Streitfragen ihres Metiers konfrontiert. Soll man solche Idiome - besonders, wenn es sich, wie in diesem Fall, um durchgeformte, einem eigenen Regelsystem folgende Kreolsprachen handelt - mit einer Kunstsprache übersetzen, die etwas von ihrer spezifischen Färbung wiederzugeben versucht? Oder ist es korrekter, sie mehr oder weniger in der Standardform der Zielsprache wiederzugeben?

Ahrens hat sich für die letztere Option entschieden und erklärt dies in einer kurzen Notiz: Er habe sich entschlossen, "das Patwah wie jede andere Fremdsprache zu übersetzen: In ein korrektes Deutsch, wenn auch mit leichten Eigentümlichkeiten. Es ist bedauerlich, dass dieses besondere sprachliche Flair entfällt, aber die Alternativen - ein umgangssprachliches oder radebrechendes oder gar erfundenes Deutsch oder die Verwendung deutscher Dialekt-Versatzstücke (stets heikel) - hätten eine Abwertung nicht nur des Patwah, sondern auch der Jamaikanerinnen und Jamaikaner bedeutet. Englisch und Patwah stehen ebenbürtig nebeneinander, in meinen Augen ein Zeichen von Respekt." Respekt verdient sicherlich auch die Entscheidung des Übersetzers, umso mehr, als Sensibilität im Umgang mit anderen Kulturen heute energischer eingefordert und differenzierter wahrgenommen wird denn je. Zugleich aber bleibt die deutsche Ausgabe damit der Leserschaft wie auch dem Werk doch etwas schuldig, denn Sprache - das Resümee von "Im Fluss" macht dies ansatzweise sichtbar - spielt im Selbstverständnis der Figuren eine zentrale Rolle. Zudem setzt die Entfremdung zwischen Vater und Sohn, die im Buch als eine eigentliche Triebfeder des Geschehens wirkt, mit der sprachlichen Differenz ein: "Als Trelawney zu plappern beginnt, traust du deinen Ohren nicht", erinnert sich Topper. Zwei Kernthemen des Buches sind also in den spezifischen Zungenschlag eingebunden, den Escoffery den ersten beiden Erzählungen verleiht.

Ein Ausweg wäre zumindest denkbar gewesen. Statt des knappen Übersetzer-Statements hätte man ein Nachwort ins Auge fassen können, in dem Ahrens das Thema vertieft dargestellt hätte, vielleicht sogar mit einem Blick auf den heutigen Stand der Debatte ums interkulturelle literarische Übersetzen. Auf jeden Fall aber hätte sich in dieser Form ein Eindruck von dem Spannungsverhältnis vermitteln lassen, in das Escoffery die Stories durch das Widerspiel von Symmetrie - die Wahl der eher raren Du-Form für beide Texte - und sprachlicher Differenz setzte. Denn aus Toppers innerem Monolog spricht genau die Selbst-Verständlichkeit, die dem Sohn abgeht: Er hat in den USA Fuß gefasst und ist auch beruflich arriviert, ohne seine jamaikanischen Wurzeln zu durchtrennen. Obwohl er guten Grund hat, sich da und dort zu hinterfragen, ist ihm insgesamt wohl in seiner Haut - und für diese Befindlichkeit ist das Patwah ein wunderbar passendes sprachliches Gewand. Warum also nicht im gedachten Nachwort eine Passage des Originaltexts abdrucken, um Leserinnen und Lesern zumindest einen Eindruck davon zu vermitteln? Aus dem Textbeispiel hätte sich dann auch die eine und andere Besonderheit in Wortlaut oder Syntax des Patwah herausgreifen und anhand solcher Beispiele etwas über den spezifischen Charakter von Kreolsprachen sagen lassen.

Der Konflikt zwischen Vater und Sohn wird im Buch verschärft und ausgebaut durch die Präsenz einer dritten Figur. Trelawneys älterer, noch in Jamaika geborener Bruder Delano ist sportlich, musikalisch begabt, ein prächtiger Bursche, der obendrein die blauen Augen des Vaters geerbt hat, nachgerade Kronjuwelen im dunkel getönten Gesicht. "Wie oft musste ich danebenstehen, wenn Delano von zufälligen Bewunderern und unseren Eltern umringt war" seufzt Trelawney in "Pestilenz"; "Wie oft hatte ich mich gefragt, ob ich mich in Luft aufgelöst hatte." Was nützt es dem Jüngeren, dass er blendende Noten aus der Schule heimbringt, später sogar ein Studium absolvieren kann? Weniger als nichts. Den Vorschlag der Grundschullehrerin, Trelawney in eine Klasse für Hochbegabte zu stecken, wischt der Vater vom Tisch: Sie solle dem linkischen Buben erst mal beibringen, sich die Schuhe zu binden. Auch der Hochschulabschluss, der gemeinhin als Startrampe für den sozialen Aufstieg gilt, erweist sich im Fall des Protagonisten als Sackgasse: Erstens schließt er im Jahr 2009 ab, mitten in der Finanz- und Immobilienkrise, an einen Karrierejob ist demzufolge nicht zu denken - und zweitens gelten in den Einwanderer-Communities in Miami ohnehin andere Werte. Angesagt ist, wer zupacken kann; Delano, der, kaum der Schule entronnen, einen Kleinbetrieb gründet, macht einmal mehr das Rennen. Und wenn er zwischendurch den Boden unter den Füßen verliert, dann doch nicht das Vertrauen und die Liebe des Vaters. Die daraus resultierende, manchmal boshafte Überheblichkeit des Älteren, die bittere Eifersucht des Jüngeren führen in der Titelstory, die den Band beschließt, zu einem so furiosen wie skurrilen Bruderkrieg.

In solchen Szenarien ist Jonathan Escofferys Satire burlesker, er teilt gelegentlich mit dem Zweihänder aus statt mit dem Florett. Das aber bleibt am Ende der Lektüre doch eher eine Randnotiz, denn der Autor überrascht nicht nur mit der inhaltlichen Fülle seiner Stories, sondern auch immer wieder mit seiner Fähigkeit, Sachverhalte mit maximaler Ökonomie auf den Punkt zu bringen. Wenn Trelawneys Mutter nach der Trennung von Topper ein Haus auf Kredit kauft und dem Sohn am Telefon davon berichtet, dann ist in dem kurzen Dialog schon die ganze Immobilienkrise präfiguriert:

"'Es ist eine Investition', sagt sie zu dir. 'Im Moment ist ein Kauf ideal.'

'Warte', sagst du. 'Hast du das Haus jetzt gekauft, oder gehört es der Bank?'

'Ich habe es gekauft', antwortet sie. 'Und es gehört der Bank.'"

Mit makabrer Präzision und dürrem Zynismus skizziert Escoffery auch den Quantensprung, den die in den Armenvierteln von Jamaikas Hauptstadt längst endemisch gewordene, politisch motivierte Gewalt in den 1980er Jahren machte: "Angeblich hat die CIA die von den Parteien finanzierten Sozialsiedlungen mit Kokain überflutet und Schnellfeuerwaffen verteilt, sodass sich die fiesen Jungs der JLP und die bösen Männer der PNP, die immer nur Steine und rostige Klingen hatten, so richtig schön bekriegen können." Und sowohl "Splashdown" - eine weitere, im Verwandtenkreis von Trelawneys Familie spielende Vater-Sohn-Geschichte - als auch "Falls ich dich überlebe" warten mit einem verblüffenden, lange nachhallenden Schluss auf. Im Fall der Titelstory kippen da Realität und Imagination, Vergangenheit und Zukunft in einem kunstvoll gedrechselten Satz ineinander, und aus dem "du", mit dem der Protagonist sich auch in dieser Geschichte anspricht, tritt unvermittelt das "ich" hervor. Ein Ich - Escofferys? -, das uns zurückführt an den Anfang des Erzählzyklus, um von dort über dessen Ende hinauszuweisen: auf einen Ort, wo sich die umgetriebenen Charaktere finden und versöhnen können.

Jonathan Escoffery: Falls ich dich überlebe
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch und dem Patwah von Henning Ahrens.
Piper Verlag, München 2023. 288 Seiten, gebunden, 22 Euro.

Erscheint am 26. Januar 2023

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