Vorworte

Auch so kann man Früchte des Zorns servieren

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
06.02.2023. Bekannt wurde Janet Lewis mit Romanen, die den Hintergrund historischer Gerichtsfälle spekulativ ausleuchten. Mit "Draußen die Welt" liegt nun auch ein Werk auf Deutsch vor, in dem sie den Fokus auf ihre Gegenwart richtete. Detailreich wie eine niederländische Malerei wirkt ihre kleinstädtische Milieuskizze vor dem Horizont der aufziehenden Großen Depression.
Janet Lewis. Foto: privat
12. November 1625: Ein Geistlicher beugt den Nacken unter das Schwert des Scharfrichters - für einen Mord, den er gestanden, aber nie begangen hat. 19. November 1694: Ein Buchbinder, senkrecht und anständig, wird zum Galgen geführt. Die Majestätsbeleidigung, deren er bezichtigt wurde, hat er auch unter härtester Tortur nicht zugegeben, schlicht, weil ihm nichts vorzuwerfen war. 12. September 1560: Eine Frau hat den Mann, der ihr zärtlich zugetan ist und den sie für ihren Gatten hielt, vor Gericht gebracht; am genannten Tag wird er direkt vor dem Heim des Ehepaars gehängt und sein Leichnam verbrannt. Warum?

Diese Schicksale sind Stoff für Groschenromane oder großes historisches Drama - aber, so möchte man meinen, nicht unbedingt für eine Frau, deren Wesen eine "fast überirdische Heiterkeit" attestiert wurde. Nicht für eine Schriftstellerin wie Janet Lewis, die ihr Leben, obwohl es fast das ganze 20. Jahrhundert überspannte, als "eher arm an 'Ereignissen', aber mit einem reichen und mehrheitlich sehr glücklichen Hintergrund" beschrieb.

Diese von Lewis selbst formulierte Einschätzung muss man sicherlich gelten lassen. Ebenso die Tatsache, dass sie ihre Aufgaben als Ehe- und Hausfrau, als Mutter und Gastgeberin stets werthielt, obwohl die Aufmerksamkeit der Intellektuellen und Literaten, Dichterinnen und Dichter, die sich so oft an ihrem Tisch einfanden, primär ihrem Ehemann galt: dem Lyriker, Literaturwissenschaftler und Kritiker Yvor Winters, der mit prononcierten Meinungsäußerungen wiederholt aneckte, aber auch eine begeisterte Anhängerschaft um sich versammelte.

Mit ihrem nicht allzu umfangreichen, aber vielgestaltigen Œuvre, das Romane und Erzählungen, Lyrik und Opernlibretti umfasst, war Janet Lewis wohl tatsächlich das "stille Talent", als das sie Larry McMurtry in einem für die New York Review of Books verfassten Porträt beschreibt. Entsprechend spät kam ihre Entdeckung im deutschen Sprachraum: Der im Original 1941 erschienene Roman "The Wife of Martin Guerre", der zu Recht als ihr Meisterwerk gilt, wurde erst 2018 erstmals ins Deutsche übersetzt. Der Nachruf, den die New York Times der zwanzig Jahre zuvor verstorbenen Schriftstellerin gewidmet hatte, stellte dieses Werk immerhin auf eine Stufe mit Melvilles "Billy Budd".

McMurtrys Einordnung, verbunden mit dem zuvor skizzierten Lebens- und Charakterbild, mag die Vermutung nahelegen, dass Janet Lewis, wie so viele schöpferische Frauen, im Schatten ihres Mannes stand. Aber eine solche Sicht wäre ein Fehlurteil, wenn auch ein weniger krasses als die drei eingangs zitierten Richtsprüche, deren jeweilige Vorgeschichte Lewis in ihren bekanntesten Romanen aufrollt. Denn gerade diese Werke verdankten, wie später zu sehen sein wird, der ehelich-literarischen Partnerschaft einen entscheidenden Impuls.

Janet Lewis wurde 1899 in Chicago geboren. An der dortigen Universität, wo auch ihr Vater unterrichtete, studierte sie französische Literatur und schloss sich dem renommierten Poetry Club an. In diesem Rahmen begegnete sie Yvor Winters, und auch die Krankheitsgeschichte der beiden überschneidet sich: Kurz nach Studienabschluss erkrankte Lewis an Tuberkulose und musste fünf Jahre im selben Sanatorium verbringen, wo zuvor schon Winters behandelt worden war. Nach ihrer Genesung fand 1926 die Heirat statt, zwei Jahre später zogen sie nach Kalifornien, wo Winters bis 1966 an der Universität Stanford lehrte. Neben der Leidenschaft für die Dichtung verband Lewis und Winters auch das Engagement für diskriminierte Minderheiten: Sie waren an der Gründung des kalifornischen Regionalbüros der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) beteiligt und bezogen energisch Position gegen die Internierung japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs. Davon zeugt auch Janet Lewis' Erzählung "People Don't Want Us", die fein gezeichnete Geschichte der Freundschaft, die eine Amerikanerin mit einer japanischen Familie verbindet; die Großzügigkeit dieser in ärmlichen Verhältnissen lebenden Menschen wird ebenso beleuchtet wie ihr achtsamer Umgang mit dem, was sie von der eigenen Kultur bewahren konnten. Detailliert setzte sich das Ehepaar auch mit der Kultur und der Unterdrückungsgeschichte der Native Americans auseinander.

Im Fall der Schriftstellerin ging dieses letztere Interesse bis in die Jugendjahre zurück. Ihre Familie verbrachte die Sommerferien jeweils in Michigan am St. Mary's River, der die USA von Kanada trennt. Gleich zwei Keime für Lewis' literarisches Schaffen wurden damals gelegt: Die Heranwachsende begann sich für die Kultur der Ojibwa-Indianer (heute: Anishinabe) zu interessieren, suchte Kontakt und fand Freunde unter ihnen; die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte wiederum weckte ihr Interesse für historische Zusammenhänge und vergangene Lebensweisen, das sich später auch in den drei Justiz-Romanen niederschlug. Zunächst aber fand sie ihre Stoffe am Ort ihrer Inspiration - und gab ihnen ganz gegensätzliche literarische Gestalt.

"The Indians in the Woods" heißt das schmale Gedichtbändchen, mit dem Janet Lewis 1922 erstmals an die Öffentlichkeit trat und das lyrische Streiflichter auf Leben und Glauben der Ojibwa enthält. Es sind imagistische Impressionen, zu fragil, um übergriffig zu wirken, und bereits getragen von der präzisen Naturbeobachtung, die ein weiteres Leitthema in Lewis' Schaffen setzen wird. In markantem Kontrast dazu steht ihr erstes größeres Buchprojekt, 1932 unter dem Titel "The Invasion: A Narrative of Events Concerning the Johnston Family of St. Mary's" erschienen. Auf der Grundlage extensiver Recherchen und unter Einbezug authentischer Dokumente wird darin ein Stück Kolonialgeschichte mit ungewöhnlichem Kolorit erzählt - denn der Stammvater jener Familie, der 1790 aus Irland in die Provinz Quebec emigrierte John Johnston, heiratete die Tochter eines Ojibwa-Chiefs und verzichtete aus Rücksicht auf sie auch auf die Rückkehr in die Heimat. Stattdessen etablierte er sich als Pelzhändler und genoss nicht nur dank seiner direkten Verbindung mit dem Stamm, sondern auch wegen seines fairen Umgangs mit den indianischen Fallenstellern und Jägern einen ausgezeichneten Ruf unter den Ojibwa. Das Buch bildet häusliche Szenen ab, inszeniert Dialoge und wagt sich passagenweise weit in die Lebenswelt der Native Americans vor; wohl deshalb wird es häufig als Roman rubriziert, doch sollte man eher die von Lewis gewählte Bezeichnung "narrative" im Auge behalten. Denn das Bemühen der Autorin, die Fülle an historischem Material voll auszuwerten, geht auf Kosten der gestalterischen Konsistenz und Orientierung, die man von einem Roman erwartet. So braucht es einen Schuss spezifischen Interesses am Thema, um sich durch die dicht gepackten 350 Seiten zu pflügen.

Dass Lewis auch den Missständen und Verwerfungen der Gegenwart ihr Augenmerk schenkte, bezeugt der auf 1943 datierende Roman "Against a Darkening Sky", der unter dem Titel "Draußen die Welt" demnächst in einer von Sylvia Spatz besorgten Übersetzung bei dtv erscheint. Sein Herzstück ist Mary Perrault, auf die etwas vom Temperament ihrer Schöpferin abgestrahlt haben dürfte; so ist gleich zu Beginn von der "fröhlichen Gelassenheit" die Rede, welche die Spuren von Alter und harten Arbeitstagen von Marys Gesicht tilgt. Ihr Mann verdient den Unterhalt für die sechsköpfige Familie als Angestellter des Wasserwerks in der kalifornischen Ortschaft South Encina, seine Kaninchenzucht bringt Fleisch auf den Tisch und gelegentlich einen zusätzlichen Batzen. Man ist darauf angewiesen, wie auch auf Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten, denn der Roman spielt in den frühen 1930er Jahren, zu der Zeit, da sich die Große Depression durch Amerika zu fressen begann. "Früchte des Zorns" werden bei Janet Lewis jedoch nicht roh aufgetischt; ihr Buch ist nicht, wie John Steinbecks auf dem Höhepunkt der Katastrophe handelnder Roman, bittere Anklage, sondern eine intime, aber facettenreiche Gesellschaftsstudie.

Wie in ihren anderen Werken bezieht Lewis den Blick auf das häusliche Leben und die Natur intensiv in die Darstellung ein. Vom Schwarz-Weiß der Checkered Giants bis zum "hauchzarten lavendelblauen Ton im rauchfarbenen Fell" der Lilacs schildert sie die Farbenskala von Mr. Perraults Zuchtkaninchen, wirft en passant hier eine Landschaftsskizze hin und dort einen Blick in die beengte Stube der Familie; sogar das Elend eines sich übergebenden Kindes hält sie in einer präzisen Vignette fest. Ebenso werden Schattenzonen sichtbar, die manchmal erstaunlich gegenwärtig anmuten. Die Versalzung der Brunnen etwa, mit denen viele Bewohner von South Encina ihren Wasserbedarf zu decken gewohnt waren, wird verursacht durch die unablässig im Tal arbeitenden Pumpen: Sie lassen den Grundwasserspiegel sinken, so dass das Salzwasser der nahen Meeresbucht in die Böden eindringen kann.

Einen Schwerpunkt im Roman setzt der Bruch zwischen den Generationen. Der wird bei den Perraults nicht etwa in der Vater-Sohn-Konstellation sichtbar, sondern im Verhältnis zwischen der Mutter und der Tochter Melanie. Mary Perrault ist erst als junge Frau aus ihrem schottischen Heimatstädtchen emigriert, einer Welt mit festen, über Jahrhunderte gewachsenen Familien-, Glaubens- und Ortsgemeinschaften; diese Werte hat sie nach Amerika mitgebracht und reibt sich schon an manchen der keineswegs grundstürzenden Veränderungen, welche die Moderne übers noch ländlich geprägte South Encina bringt. Ihrem offenen, teilnehmenden Charakter steht Melanies zugleich abweisend-kühles und seltsam loses Wesen konträr gegenüber: Ihren Verehrer und zeitweiligen Verlobten Eustace hält das bildschöne Mädchen mit der linken Hand am Bändel, obwohl sie ihn nicht liebt, während sie die rechte schon nach dem reichen, charmanten Terry ausstreckt, der aber eigentlich ihre Freundin Rose im Auge hat. Der Mutter verschließt sie sich - nicht nur, wo diese mahnt und rügt, sondern auch in den Momenten, da Melanie Liebe zu ihr verspürt und keinen Ausdruck dafür findet. Durchaus modern in ihrem Freiheitsdurst und Glücksverlangen, droht die junge Frau dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. "Was ist denn nur plötzlich mit dem Mädchen los?", stutzt Mrs. Perrault einmal. "So hübsch und zerbrechlich wie eine dünne Schale, und vor lauter Angst, sie zu verletzen, traut man sich nicht an sie heran."

Den schnelleren Takt der Zeit spürt Mary Perrault auch in der Nachbarschaft. Ihre eigene Familie, seit acht Jahren in South Encina wohnhaft, zählt man bereits zu den "Alteingesessenen", während das Nachbarhaus zeit ihres Hierseins drei Mal die Hand gewechselt hat. Ihre engste Freundin Agnes und deren Enkelkinder kommen auf entsetzliche Weise um, als ihr Auto beim Gleisübergang von einer Lokomotive erfasst wird; dass Mary den von Agnes selbst verschuldeten Unfall dem Maschinenzeitalter anlastet, mag naiv klingen, die ruhige Selbstverständlichkeit hingegen, mit der sie sich des verzweifelten Ehemanns der Verstorbenen annimmt, ist ein Zeugnis menschlicher Reife. Diese Bereitschaft zur nachbarlichen Fürsorge ist trotz der stetig wechselnden Einwohnerschaft im Städtchen auch generell noch nicht obsolet; sie wird dann aber durch eine neu zugezogene Familie auf jede erdenkliche Art auf die Probe gestellt.

Entwickelt sich dieser Handlungsstrang schon in eine Richtung, die jedem Southern Gothic Ehre machen würde, baut Lewis zum Ende hin ein Crescendo dramatischer Ereignisse auf, das stellenweise die Gestalt des Romans zu sprengen droht. Terry wird von stümperhaften Tätern entführt und ermordet, vor dem Gefängnis, wo die bald dingfest gemachten Schuldigen einsitzen, rottet sich ein Lynchmob zusammen. Dazwischen schaltet Lewis eine lange Bootsfahrt über die Bucht, die Duncan, einer der Perrault-Söhne, mit einem Freund unternimmt, später den Besuch der beiden jungen Männer im Hangar, der die "Macon" beherbergt: Das als Flugzeugträger entwickelte Luftschiff war 1933/34 zeitweilig in Kalifornien stationiert. Insbesondere diese letztere Episode mag man als Bruch im Handlungsbogen empfinden; missen aber möchte man sie nicht, denn die Schilderung des Zeppelins ist ein literarischer Höhepunkt des Romans. Duncan erkennt das mächtige, doch aus fragilsten Materialien geschaffene Konstrukt als "entirely a thing of the mind", einen Sieg des Geistes über die Materie: mehr als bedauerlich, dass gerade dieser kurze, aber zentrale Gedankengang in der deutschen Übersetzung offenbar vergessen ging.

Janet Lewis wusste durchaus, dass sie sich mit der Entwicklung eines stringenten Plots manchmal schwertat; auch einige ihrer Kurzgeschichten zeugen von diesem Problem. Ein Buch, das ihr Mann ihr zum Lesen gegeben hatte, erwies sich in dieser Hinsicht als entscheidende Hilfe: S. N. Phillips' "Famous Cases of Circumstantial Evidence", eine im 19. Jahrhundert verfasste Sammlung von Rechtsfällen, in denen aufgrund von Indizienbeweisen teilweise verheerende Fehlurteile gefällt worden waren. Aus diesem Band zog Lewis den Handlungskern für "The Wife of Martin Guerre" (1941) und "The Trial of Sören Qvist" (1947); unter den Titeln "Die Frau, die liebte" und "Der Mann, der seinem Gewissen folgte" sind die Bücher bei dtv auf Deutsch erschienen. Den Stoff für ihren dritten Justiz-Roman, "The Ghost of Monsieur Scarron" (1959, dt. "Verhängnis"), fand sie in Henri-Clément Sansons "Tagebücher der Henker von Paris". Die Verbindlichkeit beider Quellen ist diskutabel, aber im Gegensatz zu "The Invasion" spielte das Faktische für Lewis diesmal eine sekundäre Rolle. Vielmehr ging es ihr um eine imaginative Erweiterung der bei Phillips nur wenige Seiten umfassenden, bei Sanson etwas ausführlicher referierten Fallgeschichten.

Ist Bertrande de Rols, die schon als Elfjährige mit dem gleichaltrigen Martin Guerre verheiratet wird, tatsächlich eine "Frau, die liebte"? Bei der ersten Begegnung kommt in Lewis' Darstellung der kindliche Bräutigam "mit ausgestreckten Händen und einem furchterregenden Ausdruck" auf sie zu und beginnt sie wortlos zu malträtieren; als die Ehe einige Jahre später vollzogen wird, sind die beiden reifer, aber Bertrandes Zuneigung zu dem eigensinnigen Burschen, der sich an der Übermacht des Vaters reibt, kann nur zaghaft wachsen. Dann nötigt ein gröberer Verstoß gegen den väterlichen Willen Martin zur Flucht; erst nach acht Jahren kehrt er zurück, zugänglicher und zärtlicher geworden - aber ist er es wirklich? Diese Frage wird am Ende in einem Prozess von wahrhaft atemraubender Dramatik geklärt. Während Phillips vermutet, dass das Gerichtsverfahren von Bertrandes Onkel angestoßen worden sei, legt Lewis den Fokus auf die wachsende Verunsicherung der Ehefrau. Obwohl der Heimkehrer vom Gesinde wie auch von Martins Schwestern sofort als der Verschwundene erkannt wurde, obwohl er mit jedem Detail des Hausstands vertraut scheint, fressen sich die Zweifel an seiner Identität immer tiefer ein, zersetzen das zuvor nicht gekannte Glück. Muss das sein? Ja - denn es ist wahrhaft Höllenglut, die Bertrandes seelischen Konflikt befeuert: Als gute Katholikin muss sie fürchten, ihr Seelenheil durch die Hingabe an einen Fremden verspielt zu haben. So geht der Impuls für das Gerichtsverfahren bei Lewis von ihr aus; letztlich, und um hohen Preis, ist Bertrande de Rols eine "Frau, die ihrem Gewissen folgte" - und damit, orientiert man sich an den deutschen Buchtiteln, eine Seelenverwandte des dänischen Pastors Sören Qvist.

Dessen Fall beschreibt S. N. Phillips als den bemerkenswertesten in seiner Sammlung, weil sämtliche gegen den Geistlichen ins Feld geführten Indizienbeweise auf Machinationen seines Gegners Morten Bruus beruhten. Der war ein Mann von zweifelhafter Reputation und hatte vergeblich um die Hand von Qvists Tochter angehalten, was seine Rachsucht entfachte. Bruus' Bruder Niels trat später in Qvists Dienste; faul und vorlaut, provozierte er den eigentlich grundgütigen, aber zum Jähzorn neigenden Pastor nach Kräften. Nachdem es zu einer gröberen Züchtigung gekommen war und Niels die Flucht ergriffen hatte, spiegelte Morten dem Ortsrichter mittels einer makabren Inszenierung vor, Qvist habe seinen Bruder in blinder Wut erschlagen. Die bittere Ironie des Schuldspruchs lag darin, dass der Angeklagte während des Gerichtsverfahrens selbst den - vermeintlichen - Schlüssel fand, mithilfe dessen sich das ihm zur Last gelegte Verbrechen erklären ließ. Lewis baut dieses Drama nach mehreren Seiten hin aus, indem sie sowohl die Intrige gegen Qvist wie auch den Loyalitätskonflikt des mit Qvist befreundeten Richters schärft. Vor allem aber wird auch hier die strenge Religiosität zum Brennpunkt von Qvists innerer Auseinandersetzung mit der Schuldfrage. Wie Hiob sieht er zunächst sein Gottvertrauen durch das erfahrene Unrecht in den Grundfesten erschüttert; doch anders als dieser wird er nicht vom Schöpfer direkt angesprochen und dann rehabilitiert, sondern muss selber mit dem Erlittenen fertigwerden. Welch grausame gedankliche Winkelzüge dies erfordert, wird evident, wenn Qvist sich Vorwürfe macht, weil er im Glauben, auf diesem Weg Gottes Gnade zu erlangen, Gutes tat - denn solches Kalkül sei Anmaßung und Arroganz. Am Ende wird er, obwohl sich unverhofft ein Weg in die Freiheit öffnet, darauf beharren, die Todesstrafe zu erleiden: Nur auf diese Weise sei sein anfängliches Hadern mit dem Herrn vielleicht zu sühnen. Vielleicht.

Beim letzten Roman der Trilogie tritt der historisch-politische Kontext stärker in den Vordergrund. Das hat mit der Art des Vergehens zu tun: Corpus Delicti ist ein real existierendes, 1694 in Umlauf gebrachtes Pamphlet mit dem Titel "Scarron apparu à Madame de Maintenon et les reproches qu'il lui fait, sur ses amours avec Louis le Grand", das Louis XIV. höchlich erzürnt und den Polizeiapparat des Sonnenkönigs zu entsprechend forschem Handeln genötigt hatte. Dass am 19. November desselben Jahres ein Buchbindergeselle namens Larcher gehängt wurde, weil er an der Schmähschrift mitgewirkt haben sollte, hat der Pariser Anwalt Antoine Bruneau (1640-1720) in seinem Tagebuch festgehalten. Bei Sanson, dessen in den 1860er Jahren erschienenes Werk Lewis vermutlich als Quelle diente, avanciert Larcher dann zum Buchbindermeister und Familienvater, dessen Ehefrau wie auch sein im Haus verborgenes Barvermögen die Begehrlichkeit eines nichtsnutzigen Gesellen wecken. Eines Tages ist der Schatz geplündert, genau zeitgleich wird Larcher bei der Polizei denunziert; tatsächlich findet sich in seinem Haus ein Bündel der toxischen Pamphlete. Ob Larchers Geselle - wie es Janet Lewis' Roman dann darstellt - die Gattin des Meisters verführt hat und beim Raub des Geldes von ihr sekundiert wurde, lässt Sanson allerdings offen; ebenso, ob er tatsächlich die Intrige mit den Pamphleten anspann, um den Bestohlenen außer Gefecht zu setzen.

Vom eigentlich zentralen Drama, dem grausamen Schicksal Larchers, lenkt Lewis den Blick auf eines, das ihrer Imagination mehr Spielraum lässt: nämlich das Liebesverlangen der durch den etwas hölzernen Buchbindermeister nicht eben verwöhnten Ehefrau, das vom Gesellen zynisch und machtbewusst ausgenutzt wird. Als Kontrapunkt zum bürgerlichen Milieu der Larchers entfaltet die Schriftstellerin aber auch ein Panorama der Lebenswelt im Paris des späten 17. Jahrhunderts - bis hin zum peniblen Hofzeremoniell, dem der alternde Sonnenkönig sich Tag für Tag unterziehen muss. Die Fusion von Historie und Erzählung, die Janet Lewis in "The Invasion" noch spürbar Mühe bereitete, hier gelingt sie: Geschichte ist Geschichte geworden.


Janet Lewis: Draußen die Welt
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Spatz.
dtv Verlag, München 2023. 368 Seiten, gebunden, 24 Euro.

Erscheint am 16. Februar 2023

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