Vorworte

Leseprobe aus Dorothy West: Die Hochzeit

Über Bücher, die kommen.
21.05.2021.
Isaac wohnte hoch oben in der Mansarde eines hübschen roten Backsteinhauses in der Strivers' Row. Die Wohnung hatte ihm ein wohlwollender Kollege vermietet, der ihm im Übrigen tagtäglich wegen seines traurigen Liebeslebens zusetzte. Ob Isaac denn nicht wisse, dass eine Ehefrau zum Rüstzeug eines Arztes gehöre, dass ein Hausarzt mehr Vertrauen einflößte, wenn er auch Familienvater war?

Lange Zeit ging Isaac achselzuckend über die Quengeleien seines Freundes hinweg. Die Aussicht, für Unterkunft und Verpflegung einer Frau aufkommen zu müssen, hatte ihn nie gereizt, und falls ihn niedrigere Bedürfnisse anwandelten, so hatte er diese längst zu beherrschen gelernt. Aber irgendwann kam doch der Tag, an dem er so weit nachgab, dass er sich abends die Zeit nahm, eine junge Frau, eine Bekannte seines Kollegen, zum Essen auszuführen. Sie war Lehrerin, ein hellhäutiges, anmutiges Geschöpf aus untadeliger Familie. Es dauerte nicht lange, und sie waren verheiratet. Die Vorteile waren einfach nicht von der Hand zu weisen: Die Ehe bot einem viel beschäftigten Arzt ein Heim, in dem er sein Essen bekam, ohne lange auf einen Tisch warten zu müssen, und eine Frau, die seine Hemden ausbesserte, sich um seine gesellschaftlichen Verpflichtungen kümmerte und ihm Söhne gebar, die seinen Namen weiterführten.

Die Lehrerin hatte ihrerseits aus Liebe geheiratet oder sich wenigstens eingebildet, dass eine Lehrerin - der berufliche Gipfel für eine Frau ihrer Hautfarbe und ihrer Zeit - nicht umhinkönne, sich zu verlieben, wenn es um einen Arzt ging, ein noch höherer Triumph in der Entwicklung ihrer Rasse, und obendrein um einen gut aussehenden, hellhäutigen Harvard-Absolventen. Isaac schien der ideale Ehemann zu sein, und wenn das Heiratsgelübde nicht gleich zu dem Maß von Leidenschaftlichkeit führte, auf das man sie als junges Mädchen vorbereitet hatte, so war das ja vielleicht nur eine Frage der Zeit. Als Lehrerin hatte sie sich angewöhnt, alle Moralvorschriften einzuhalten. Als Arztfrau erwartete man außerdem von ihr, dass sie gegen Versuchungen immun war. In der Ehe war Sex erlaubt und erwünscht, aber die Ehe band sie auch an einen einzigen Partner, einen, dessen Beruf die Zeit für die Liebe auf eine hastig und unvollendet genossene Stunde in einem Bett schrumpfen ließ, das ihr Mann zu spät aufsuchte und zu rasch wieder verließ. Doch das zerwühlte Bett einer herzzerreißend schreienden Patientin mit flackernden Augen und fieberglühender Haut erlaubte ihm nicht, sich um die Fieberhitze der Lehrerin zu kümmern, die auch ohne Behandlung nicht sterben würde.

Sie war eine Frau, die auf sich hielt und schon aus Treue gegen ihre Kinder und ihr Heim nicht zugelassen hätte, dass ihre einsamen Nächte Sinn und Zweck ihrer Tage schmälerten. Dutzendfach setzte sie all ihre Kräfte ein, um zu verhindern, dass ihre Gedanken sie entweihten oder ihr Körper sie jenen verriet, die anderer Männer Frauen verführen. Als sich nicht mehr leugnen ließ, dass ihre Beziehung so hohl wie ein Schilfrohr war, zog sie es dennoch vor, weiter öffentlich am Arm eines Doktors aufzutreten, als heimlich an verschwiegenem Ort in den Armen der Liebe zu ruhen. Die Anrede "Frau Dr. Coles" ließ sie immer noch vor Stolz erröten, und in solchen Momenten sah sie nicht aus wie eine vernachlässigte Frau. Ihr Zittern war für die anderen nicht wahrnehmbar. Da sie nicht aussah wie eine Verschmähte, fühlte sie sich auch nicht so; sie hatte schließlich so vieles, was aufregender war als jene Sache, über die eine anständige Frau niemals sprach.

Die Kinder, die sie Isaac gebar, wurden älter, schlossen Freundschaften, machten Fahrradtouren und hingen immer weniger am Rockzipfel ihrer Mutter. Das Kindermädchen, das sich während der Schulstunden der Lehrerin um sie kümmerte, musste ihnen auch nicht mehr ständig zur Verfügung stehen und konnte dafür mehr Hausarbeiten übernehmen. Gewissenhaft mauserte sich das junge Ding zur Haushälterin der Coles, sodass Frau Dr. Coles sich künftig mit einem Buch auf dem Schoß ausruhen konnte, wenn sie nach einem langen Tag von der Schule heimkam, wo sie sich bemühte, frisch aus dem Süden eingetroffenen Kindern die Grundbegriffe der Hygiene und eine intelligente Ausdrucksweise beizubringen. Die Lehrerin fühlte sich daheim allmählich wie das fünfte Rad am Wagen. Um ihren Haushalt kümmerte sich das Mädchen, und ihre Kinder kümmerten sich um sich selbst. Ihr Mann richtete seine wenigen Wünsche an die willfährige kleine Hausgehilfin. Die Lehrerin war in dem Glauben aufgewachsen, die Ehe böte einer Frau die Chance, ihre Weiblichkeit auszuleben, doch nun wurden ihr die Möglichkeiten dazu eine nach der anderen versperrt.

Ihr blieb nur die Wahl, sich in Selbstmitleid zu flüchten oder mit der Situation anders umzugehen, und sie entschied sich für Letzteres. Ruhig und nüchtern schickte sie sich an, ihre Instinkte auf ein neues Image zu lenken. Mit vielen Stockungen, immer neuen Anläufen und quietschendem Getriebe traten ihre männlichen Gene in Funktion und gaben ihrem Leben eine neue Richtung. Fortan wurde das Geld zu ihrem Erfolgsmaßstab.

Sie fing an, in den Slums Immobilien zu kaufen, erst ein Haus, dann zwei, dann drei, bis ihr eines Tages eine ganze Straßenzeile  baufälliger  Mehrfamilienhäuser  gehörte.  Die  meisten wurden zwangsversteigert, und sie bekam sie für ein Butterbrot; oft waren nur die unbezahlten Steuern zu entrichten. Für die Vorbesitzer, desinteressierte Erben, hätten die umfangreichen Instandsetzungsarbeiten, die nötig waren, um die Unterkünfte bewohnbar zu machen, jahrelanges Warten bedeutet, bevor ihre Investitionen sich bezahlt machten. Dagegen erwirtschaftete die Lehrerin auf Anhieb Profit. Sie ließ ihre Immobilien nicht renovieren, brauchte es auch nicht, denn sie hatte nie eine Wohnung leer stehen. Es herrschte Krieg, und der Krieg schaffte Arbeitsplätze. Die Schwarzen kamen in Scharen aus dem Süden, aber kein anständiges Viertel wollte sie aufnehmen. Sie versuchten indes nicht einmal, dort unterzukommen, sondern hielten sich an das Vertraute, die heruntergekommenen Straßen, die verfallenen Häuser.

Die Zuzügler verlangten nicht mehr als ein Zimmer zum denkbar niedrigsten Mietpreis. Und das bekamen sie von der Lehrerin, zusätzlich zu fließendem Wasser und Innentoiletten. Wenn diese auch oft verstopft und unbenutzbar waren, so benutzte man sie trotzdem, denn sie waren ein Fortschritt gegenüber dem von Schmeißfliegen umsurrten Außenabort daheim. Und obwohl das Wasser rot aus rostigen Leitungen kam, ersparte es einer alten Frau doch den langen Weg mit einem schweren Eimer zu einer Gemeinschaftspumpe und zurück. Wenn die Zimmerdecken unansehnlich waren und manchmal ein Stück Putz herunterfiel, wenn hie und da ein Loch in den Dielen zum Schutz gegen die Ratten mit Lumpen verstopft war, wenn es bei den Mietern unterm Dach so stark hereinregnete, dass die Zimmer mit Eimern und Schüsseln vollgestellt waren, so nahm man das hin. Besser als der Galgenbaum war es alle Mal.

Hauptsache, sie waren droben im Norden. Keine Lynchjustiz mehr und keine brennenden Kreuze. Sie brauchten nicht mehr in den Rinnstein auszuweichen, damit ein weißer "Herr" den ganzen Bürgersteig für sich allein hatte. Niemand musste sich mehr "Tante Jane" und "Onkel Tom" rufen lassen, niemand starb, weil er keinen Arzt bekam, und die Kleinen mussten nicht mehr auf den Feldern arbeiten und in Dummheit ersticken, während die Schulglocke für die Kinder der Weißen läutete. Droben im Norden lernte ein Mann, dass Lesen und Schreiben niemandem schadet, und die Frau lernte, auf mehr zu hoffen, als sie besaß. Auch wenn sie in der Nähe der Bahngleise wohnten, wo die Luft des Nordens von Rauch und Ruß geschwängert war, atmeten sie trotzdem noch die Freiheit ein. Selbst die schlimmste Notlage konnte sie nicht von hier vertreiben. Gleichwohl würde die unbeschreibliche Schönheit des Südens sie niemals loslassen, sodass brabbelnde Greise bettelten, man möge sie zum Sterben heimführen, und die Jungen sich wünschten, sie könnten an beiden Welten teilhaben, kaum dass sie einen gewissen Wohlstand erlangten.

Bei der Lehrerin stand, wie gesagt, nie eine Wohnung leer. Und von dem ganzen Geld, das hereinkam, brauchte sie nie etwas auszugeben. Geschah einmal ein kleiner Unfall - etwa, dass eine Treppenstufe einbrach und ein Mieter sich den Knöchel verstauchte - , dann ließ sie die Stufe umgehend erneuern und entschuldigte sich vielmals. Sie sammelte abgelegte Kinderkleider und Spielsachen, um sie an Weihnachten zu verteilen. Nie setzte sie einen Mieter vor die Tür, der vorübergehend ohne Arbeit war; ja gelegentlich lieh sie so jemandem als Überbrückungshilfe sogar Geld zu einem weit niedrigeren Zinssatz, als ein Wucherer verlangt hätte. Jeden Monat fuhr sie mit der Straßenbahn zur Bank, um ihre Mieteinnahmen einzuzahlen. Doch wenn sie ihren Mietern den verhassten monatlichen Besuch abstattete, fand sie sich unwillkürlich jedes Mal von dem Gedanken verwirrt, Isaac könne womöglich am Abend zuvor als Arzt in einer dieser Wohnungen gewesen sein. Bestimmt hätte man ihm die Tür eilfertiger geöffnet als ihr, hätte seine Tasche voll Ehrfurcht für die Medizin darin beäugt und den Mund für eine Ausrede gespitzt, wenn er zum Abschied sein Honorar verlangte. Diese Leute lebten auf dem denkbar kümmerlichsten Niveau. Für sie kam an erster Stelle das Essen, dann die Miete, Schuhwerk für die Kinder, wenn sie sich's leisten konnten, und der Doktor kam, wenn man ihn rief.

Mit jedem neuen Zustrom aus dem Süden wuchs das Vermögen der Lehrerin. Isaac dagegen wurde nur reicher an Barmherzigkeit, eine Ware, die nicht einmal ein Narr gegen Bares eingetauscht hätte. Er arbeitete bis zum Umfallen und tat sein Bestes, um die Wanderarbeiter am Leben zu erhalten, die so bitter zu kämpfen hatten mit der Anpassung an den Hunger in der Freiheit, an die beißende Kälte, die die Lungen zerfraß und die Leichenhallen mit zarten Kindern in billigen Särgen füllte, an den Großstadtruß, der sich in Lungen, die nicht dagegen gefeit waren, einnistete und die Lippen mit Blut bestrich, an die Seuchen, die wüteten wie ein wildes Heer und kein Haus von Wehklagen verschonten, an die gepflasterten Straßen, die man nicht umpflügen und mit entschlackendem Blattgemüse bepflanzen konnte, um einem Bauch, der von der derben, verstopfenden Winterkost steinhart war, im Frühling Linderung zu verschaffen.

Wider alles Erwarten und entgegen Isaacs bescheidenen Hoffnungen nahm die unerbittliche Flut von Krankheit und Tod unter seinem wachsamen Auge langsam ab. Zu keiner Zeit war ihm der Sinn seines Lebens so klar und seine Gleichgültigkeit gegen den eigenen Tod so groß gewesen. Solange er mehr Lebenskraft retten konnte, als er sie dem eigenen Körper durch ständigen Raubbau entzog, war er's zufrieden. Vielleicht war unter den Geretteten ja jener große Mann - oder dessen Vater oder Stammvater - , der Mann, der seiner Epoche als Retter bestimmt war, der Mann, der in die Geschichte eingehen würde.

Der Doktor rettete genügend Ghettoleben, um den Vorrat der Lehrerin an arbeitsfähigen Mietern konstant zu halten. Demütig dankten sie ihr für die Güte, ihnen ein Dach zu gewähren, unter dem sie krank sein durften, und während sie dem Doktor ihr Leben verdankten, eine Schuld, die unbezahlbar war, konnte man die rückständige Miete, die sie der Lehrerin schuldeten, in Dollars und Cents berechnen. Nach ein paar Jahren besaß die Lehrerin mehr Geld als irgendjemand, den sie kannte. Und alle, die sie kannte, wollten ihr helfen, es auszugeben. Den Verpflichtungen, die der Reichtum mit sich brachte, konnte sie nicht ausweichen. Obwohl ihr wenig am Gesellschaftsleben lag, musste sie Partys geben, um ihren Wohlstand zur Schau zu stellen.

Ihre Partys wurden von den besten Gastronomen ausgerichtet, deren unglückliche weiße Kellner sich mit nur notdürftig verhüllter Verachtung zwischen den Gästen bewegten. Man servierte importierten Champagner, den unerfahrene Zungen schlürften wie Wasser, weil er sie nicht gleich umwarf wie ein auskeilendes Maultier, sondern sie erst am Morgen danach matt setzte. Die Lehrerin wurde es bald leid, ihr Geld für anderer Leute Kater auszugeben, aber da waren ihre aufregenden Partys - welch ein Kontrast zu ihren grundsoliden Neigungen - bereits zu einer Institution geworden. Ihre Freunde, für die sie trotz ihres ärgerlichen Benehmens in trunkenem Zustand echte Zuneigung empfand, freuten sich wie die Kinder auf die Bankette an hohen Feiertagen und die verschwenderische Gastlichkeit, in der sie unübertrefflich war.

Sie leugnete nicht, dass sie allein die Mittel besaß, ein rauschendes Fest zu feiern, ohne dass sie hier ein Loch aufreißen musste, um dort ein anderes zu stopfen. Dennoch dachte sie sich bald eine Möglichkeit aus, ihre Bälle mit mehr Elan und dafür ohne Kosten auszurichten. Zu ihrer Sonntagslektüre gehörten inzwischen auch die Gesellschaftsspalten der führenden New Yorker Zeitungen, nicht weil sie sich auch nur die Spur dafür interessierte, was die weiße Oberschicht trieb, sondern weil sie es nicht anders machen wollte, da einige ihrer Gäste bei diesen erfahrenen oberen Zehntausend angestellt waren und daher wussten, wie es richtig gemacht wurde. Bei ihrer Lektüre entdeckte sie, dass für Wohltätigkeitsbälle mit Einladung eine Einlassgebühr durchaus zulässig und dass es Brauch war, die Unkosten von den Einnahmen abzuziehen und, was übrig blieb, einem löblichen Zweck zu spenden. Das war einfach ideal: Unter den zerlumpten Kindern im Ghetto, wo sie unterrichtete (ihre eigenen Söhne waren Internatszöglinge auf der Privatschule ihres Vaters in Neuengland), und ihren Mietern, die ihre Familien mit viel zu kargem Lohn durchbrachten, wusste sie genügend Namen auswendig, um die Listen der Bedürftigen zu füllen. Und während sie sich zuvor nur über die Zeit geärgert hatte, die die Vorbereitung einer Party verschlang, gab ihr die Organisation eines Wohltätigkeitsballes das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, einem Zweck zu dienen, der die Anstrengungen wert war.

Sie war klug genug, mit gleich gesinnten Freunden ein Komitee zu gründen. Obwohl sie es war, die alle Rechnungen bezahlte, welche vor dem Ball fällig wurden, und auch diejenige, die, falls der Kartenerlös mager ausfiel, nach dem Ball sämtliche Rechnungen aus eigener Tasche begleichen musste, bestärkte sie ihr Komitee in dem Gefühl, dass seine Begeisterung und seine Anregungen genauso wichtig seien wie ihr Sparbuch. Ihre Freunde dankten es ihr, indem sie sich gegenseitig darin überboten, Kontakte herzustellen, sowohl mit Leuten, die sie gut, als auch mit solchen, die sie nur flüchtig kannten. Die Lehrerin hatte ihr Komitee schlau nach dem Sozialstatus der Mitglieder ausgewählt: Diejenigen, die sie nur flüchtig kannten, kamen gern, um sie besser kennenzulernen, und zahlten mit Freuden für das Entree, das ihnen umsonst nie gewährt worden wäre. Mit der Zeit würden auch sie sich zu Insidern entwickeln und Komitees angehören.

Die Lehrerin wählte ein schlichtes Stadthaus zum Schauplatz ihres ersten Balles, denn selbst für das scheue Liebäugeln mit einem Ballsaal in einem Weißen-Hotel war das Jahrhundert noch zu neu. Doch sie und ihr Komitee ließen die trostlose Halle mit Hilfe von Blumen, wehenden Luftschlangen, gedämpfter Beleuchtung sowie reichlich Wasser und Seife in neuem Glanz erstrahlen. Der Abend wurde ein voller Erfolg, das größte Ereignis in der kurzen und bewegten Geschichte der schwarzen New Yorker Gesellschaft. Niemand, der einen Dollar übrig hatte und eine Abendtoilette besaß, war ferngeblieben. Die Einnahmen übertrafen jede Schätzung, aber wie vielen Notleidenden in wie vielen Regionen würde das Geld nicht zugutekommen - Säuglingen, die in Kommodenschubladen schliefen, älteren Kindern, deren Nachtlager ein Sack auf einem staubigen Fußboden war, Schulkindern ohne Schuhe, Krüppeln ohne Krücken und Sehbehinderten, die ohne Brille halb blind waren. So viele Menschen entbehrten so vieles, dass die Lehrerin, als sie einmal angefangen hatte, ein wenig zu helfen, überwältigt wurde von der noch viel größeren Not, für die keine Hoffnung auf Abhilfe bestand. Sie sah einen Leichnam schmachvoll in einem alten geflickten Hemd aufgebahrt - und auf seinem letzten Lager sollte ein Mann doch weiß Gott ein neues weißes Hemd tragen. Sie sah Greise, von kümmerlichen Stecken zusammengehalten, die vormals ein ordentliches Knochengerüst waren; ihr vom Hunger gehärteter Magen verlangte nach nichts weiter als einer Prise Schnupftabak, was wenig genug war und doch die qualvoll in die Länge gezogenen Sterbestunden eines Mannes erheblich lindern konnte.

Die folgenden Bälle waren ebensolche Triumphe wie der erste. Der zweite überstrahlte mit seinem Glanz die Weihnachtsfeiertage. Eine beflügelte Aufsteigerin, die für den Fall, dass ein Platz frei würde, ein listiges Auge auf das mächtige Komitee hatte, ernannte sich selbst zur "Schirmherrin" des Balles, ein Titel, der sowohl das Recht einschloss, sich einen Zettel mit Namen und Stand an den Busen zu heften, als auch das Privileg, mehr für die ehrenvolle Präsenz auf dem Tanzboden zu zahlen als die Damen, deren Busen unbeschriftet blieb. Und da andere Emporkömmlinge schleunigst nachzogen, glichen die Gewinne bald der wundersamen Brotvermehrung bei der Speisung der Fünftausend.

Zur Frühlingsgala, die von frühlingshaftem Wetter begünstigt war, kamen Abordnungen aus Boston und Washington, den Städten, die sich zusammen mit New York als heilige Dreieinigkeit betrachteten, in der New York freilich nur den dritten Platz einnahm. Boston prahlte gern damit, dass es keine Sklaven unter seinen Stammvätern hatte, und Washington brüstete sich, seine herausragenden Köpfe seien lauter hellhäutige Nachfahren von Abgeordneten und Senatoren, beides Ansprüche, bei denen New York nicht mithalten konnte.

Vielleicht geschah es auf dem Umweg über die Plauderei zwischen Zofe und Herrin, dass eine alteingesessene weiße Vereinigung, die sich mit den sozialen Belangen der Schwarzen befasste, von den lobenswerten philanthropischen Bemühungen der Lehrerin erfuhr. Die liberalen Ziele dieser Organisation stießen bei den frisch aus dem Süden hierher verpflanzten Schwarzen, denen sie zu helfen versuchte, auf frappierenden Widerstand. Für die Schwarzen implizierte die Befragung durch einen Weißen, so teilnahmsvoll sie auch sein mochte, stets die Drohung, in den Süden zurückgeschickt zu werden, falls man seinen Unterhalt im Norden nicht aus eigener Kraft bestreiten konnte. Die Lehrerin wurde zu einer Ausschusssitzung eingeladen, wo sie im Kreise verkrampft mildtätiger Damen mit hochgeschnürtem Busen und langen Ärmeln Tee trank. Die Versammlung war anberaumt und die Lehrerin dazugebeten worden, damit der Ausschuss ihr Auftreten und ihr Erscheinungsbild bewerten konnte. Schnitt sie mit "gut" oder noch besser ab, dann würde man ihr die Mitgliedschaft antragen, was dem Ausschuss, wenn er diese Ehre zum ersten Mal einer Farbigen zuteilwerden ließ, das erhebende Gefühl handverlesener christlicher Gemeinschaft geben würde.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hoffmann und Campe.

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