Zurück zu Angela Schaders "Vorwort".
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5 Uhr früh:
Die Fluten der Nacht vereinen sich zu einer aufsteigenden Welle. Kann nicht, kann nicht, komm nicht klar, kann nicht weitermachen. Zu viele durchwachte Nächte, zu viel Dunkelheit
und Einsamkeit, ich kann nicht mehr. Ohne es mitzubekommen, bin ich nach unten gegangen, marschiere auf und ab, völlig irre, zittere, zerre an meinen Haaren, freidrehend,
auf der Suche nach einem Fixpunkt. Dann erscheint mein Fixpunkt im Wohnzimmer, bestürzt und verschlafen, er fasst meine Handgelenke, Schsch, sagt er, ist ja gut, es ist alles in Ordnung. Ich will schreien, merke, wie ich schreie. "Nein", das einzige Wort, an das sich mein Hirn noch erinnert,
Nein zu allem,
Nein.
∞
Am nächsten Tag durchflutet mich die Panik in langsamen, flachen Wellen, als ich mit geröteten Augen apathisch auf dem Sofa liege. Da sagt er: Vorhang auf für meinen berühmten Flamingo-Tanz! Und stolziert unbeholfen los, mit gebeugten Knien und hängenden Schultern, einen Arm nach vorn ausgestreckt, den anderen nach hinten. Die schräge, gertenschlanke Figur zieht einmal durch mein Blickfeld und wieder zurück. Du bist absurd, sage ich. Etwas Finsteres und Demoralisiertes in mir will sich nicht aufheitern lassen, und doch, da, eine Blase Heiterkeit steigt aus der Dunkelheit meines Inneren auf und zerplatzt leise zu Gelächter.
∞
Ich kann mich selbst nur in Fragmenten verstehen. Mein Ich ist diffus. Ich blicke in den Spiegel und merke, ich weiß nicht viel über mich. Wenn ich lese, was ich geschrieben habe, kommt es mir vor, als würde mich jemand mit meiner Seele bekannt machen. (…)
Schreiben ist Träumen. Das ist mir erst vor ein paar Jahren klar geworden. Und zwar luzides Träumen - das Unterbewusstsein steht mit einem Bein noch im Bewusstsein, um den Eigensinn des Traums für sich nutzbar zu machen. Oft heißt es, das Schreiben würde sich des Unterbewussten bedienen, doch das stimmt nicht. Das Schreiben ist das Unterbewusste,
und es bedient sich des Bewusstseins.
Im Traum gelingt es dem Unterbewusstsein, unsere Ängste, Gefühle, Sorgen und Begehrlichkeiten zu artikulieren, sie zu dramatisieren und ihnen eine Erscheinungsform zu geben. Dabei geht der Traum erschreckend ausdrucksstark und kreativ vor, er muss nie lange nach einer Metapher graben oder um Details ringen, er verschwendet keine Zeit mit Nebensächlichem. So erfasst er das Unaussprechliche. Zum Beispiel träume ich relativ oft, dass ich in einem Pool schwimme, in dem sich nur ein Fingerbreit Wasser befindet. Es dauert absurd lange, bis ich es bemerke, und als ich es endlich bemerke, schwimme ich einfach weiter. Dieser Traum fängt ein Gefühl ein, das mir zutiefst vertraut ist, eine spezielle Verdichtung vieler verschiedener Emotionen, die ich nicht richtig artikulieren kann. Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Hartnäckigkeit spielen dabei eine Rolle, und keine andere Metapher könnte diese Gefühlslage besser zum Ausdruck bringen. Wäre ich beim Schreiben auf der Suche nach einem Bild für genau diese Mischung genau dieser Gefühle in genau dieser Verteilung, würde ich die Pool-Metapher benutzen und mich darüber freuen.
So ist das. An manchen Tagen steigt das, was ich schreibe, ohne Einmischung des Bewusstseins direkt aus dem Unterbewusstsein auf. Und die Sedimente meines Unterbewusstseins, einige von ihnen golden oder doch goldfarben, strömen durch die Wörter.
Mein Geist ist eine Kakophonie. Er denkt brauchbare Gedanken, und für jeden brauchbaren Gedanken denkt er vierhundert nutzlose, sich wiederholende Gedanken; und von diesen nutzlosen, sich wiederholenden Gedanken ist eine nicht geringe Anzahl toxisch. Gebote und Verbote. Selbstzerfleischungen. Fremdzerfleischungen. Schrecken. Bedauern. Vorwürfe. Alte Auseinandersetzungen. All das strömt als unredigiertes Gebrabbel auf mich ein, Feuerwerkskörper, die fortwährend explodieren und dann verpuffen, explodieren und verpuffen. Unredigiert, unlesbar und unverdaulich. Nur dieses ständige Knistern und Zünden und Explodieren der Gedanken.
Wenn der Geist eine Kakophonie ist, dann ist das Unterbewusstsein ein stummes Theater; hier finden sich die Figuren des Bewusstseins wieder, die Ängste, Sehnsüchte, Verbote und Gebote, doch wurde das Ensemble auf die Kernbesetzung reduziert, außerdem treten sie in Kostümen auf. Sie sind mit Farbe, Substanz, Gefühl, Ton und Muskulatur ausgestattet; sie präsentieren sich als Chiffren, Symbole und Verzerrungen und deuten alle auf die Essenz dessen, was ich bin, was auch immer das ist. Was auch immer das sein soll.
Gebote und Verbote. Selbstzerfleischungen und Verurteilungen und Angst und Wut und Bedauern. Der Verstand ist ein Tyrann; er sagt dir, was du hättest tun sollen und was nicht, und natürlich entspricht das nie dem, was du getan oder nicht getan hast. Der Verstand ist ein Ninja. Doch wenn ich schreibe, ist das alles nicht wichtig, denn dann gibt es keine Gebote oder Verbote, nicht einmal ein richtiges Selbst. Da gibt es scheinbar nur einen Ort des Bewusstseins, Hände tasten sich durch eine kleine Landschaft aus Buchstaben, die das Geschehen in diesem gespenstischen Bewusstsein auf rätselhafte Weise nutzbar machen.
Schreiben hat mir das Leben gerettet. Im letzten Jahr war mir Schreiben fast so wichtig wie Schlafen. Mitunter sogar wichtiger. Wenn ich schreibe, bin ich bei Sinnen, meine Nerven beruhigen sich. Ich bin bei Sinnen, ganz und gar bei Sinnen. Ich werde glücklich. Wenn ich schreibe, ist alles andere egal, auch wenn das, was ich schreibe, sich als schlecht herausstellt. Ich beginne in einer schwer fassbaren, unterbewussten Formlosigkeit im Nirgendwo meines Ichs, in einer Stille, durch die sich verschiedene Formen bewegen. Dann kommen die Worte. Machen die Dinge nutzbar. In der Ordnung liegt Trost, es geht darum, das Chaos zu hüten, nicht es abzuschaffen, es an seine Grenzen zu führen und so dem Problem der Unendlichkeit und Entropie etwas entgegenzusetzen. Eine Illusion von Vollkommenheit herzustellen. Und langsam beginne ich, mich in den Worten zu sehen, die ich geschaffen habe, in ihren vielen Welten, weit verstreut und frei.
Eines Nachts kam mir aus dem Nichts eine Formulierung: Wildwuchs der Liebe. Aus irgendeinem Grund hallt sie immer noch in mir wider, sie klingt für mich wie eine Definition des Schreibens. Der Verstand bringt so viele Gedanken und Glaubenssätze in so vielen Permutationen und Konfigurationen hervor, die Produkte unseres eigenen Hirns halten uns gefangen. Der Verstand ist ein Gefängnis. Beim Schreiben wird der Lärm destilliert und verfeinert, und das Selbst kann einen Ausweg finden. Das, denke ich, ist Liebe - wenn das Selbst dem Selbst entkommt.
∞
"Bleiben Sie im Bett, wenn Sie nicht schlafen können?"
"Manchmal stehe ich auf, aber das macht's nur noch schlimmer, weil ich dann sauer werde. Ich will ja nicht aufstehen, ich will schlafen. Im Wohnzimmer lebt eine große Spinne, die kommt nachts raus. Ich will nicht mit einer großen Spinne im Wohnzimmer sein. Ich will schlafen."
"Sie sollten nicht im Bett liegen, wenn Sie wach sind. Ist Ihnen Schlafhygiene ein Begriff?"
"Ja."
"Bei der Schlafhygiene geht es darum, ihre Schlafroutine so ruhig und regelmäßig wie möglich zu gestalten - zu geregelten Zeiten ins Bett zu gehen und aufzustehen, vor dem Einschlafen nichts mehr am Computer oder Smartphone zu machen."
"Ja, ich weiß, was Schlafhygiene ist."
"Sorgen Sie für Dunkelheit und Ruhe in ihrem Zimmer - "
"Das ist ja schön und gut, aber mein Zimmer ist weder dunkel noch ruhig, eine Straßenlaterne scheint direkt herein, und draußen ist immer Verkehr."
"Haben Sie schon mal über die Anschaffung eines Verdunkelungsrollos nachgedacht?"
"Ich hab eins."
"Also, über Verdunkelungsrollos sollten Sie wirklich mal nachdenken. Ohrstöpsel?"
"Ob ich über Ohrstöpsel nachgedacht habe?"
"Wenn der Lärm Sie stört - "
"Vielleicht ist das ja mein Problem, dass ich nicht genug über Ohrstöpsel nachdenke."
"Außerdem dürfen Sie nicht länger als zwanzig Minuten wach im Bett liegen bleiben - das Bett ist nur zum Schlafen oder für die Intimität da. Nicht fürs Wachliegen. Essen Sie nicht zu spät am Abend, kein Alkohol, nach dem Mittag kein Koffein mehr, lassen Sie den Zucker weg. Außerdem keine anstrengende körperliche Betätigung nach neunzehn Uhr, vor dem Zubettgehen können Sie ein schönes, warmes Bad nehmen, aber nicht zu heiß und nicht zu kurz vorher! Und Sie sollten immer gut lüften und ihr Schlafzimmer kühl halten."
"All das mache ich ja, aber es bringt nichts."
"Mit der Zeit wird das schon."
"Wie viel Zeit denn noch? Ich bin ein hoffnungsloser Fall."
"Sind Sie nicht."
"Doch."
"Es gibt keine hoffnungslosen Fälle."
∞
Mit freundlicher Genehmigung des Hanser Berlin Verlags
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