Vorworte

Ein phantastisches Theater der Desillusionierung

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
18.08.2021. Repression, Rebellion, Bürgerkrieg, Kampf gegen den IS: Periodisch rückt die gewaltvolle Geschichte Irakisch-Kurdistans in den Fokus der Berichterstattung. Aber man kann sie auch ganz anders schreiben. So zum Beispiel, wie es Bachtyar Ali in seinen fesselnden, bildmächtigen Romanen gelingt. "Mein Onkel, den der Wind mitnahm" heißt die hintergründige Parabel, die am 23. August erscheint; wir stellen sie mit einer Leseprobe vor.
Bachtyar Ali. Foto: Foto Karim Khasraw
Ein junger Mann mit gläsernem Herzen, das nach der Zurückweisung durch eine kühle Schöne zerspringt. Eine Prostituierte, die sich nachts mit dem Schatten ihres eingekerkerten Geliebten trifft. Ein waldiges Tal, nur über eine lange Leiter zu erreichen, wo junge Paare Zuflucht finden, wenn keine geistliche Instanz ihren Bund gesegnet hat. Eine weit verzweigte unterirdische Aladins-Höhle der Kunst, wo sich Gemälde, Skulpturen, Bibliotheken reihen. Oder ein Mensch, dünn und leicht wie ein Flugdrachen, den jeder kräftige Windstoß in die Lüfte entführt.

An solchen Motiven gemessen, ist Bachtyar Ali ein orientalischer Märchenerzähler reinsten Wassers. Doch handelt es sich beim Romanwerk des irakisch-kurdischen Schriftstellers eher um eine beharrlich betriebene Inversion des Märchenhaften, ein - so paradox das tönt - phantastisches Theater der Desillusionierung.

Denn das Tal der Liebenden liegt zwischen Dörfern und Städten, wo religiöser Fanatismus das Zepter führt. Über dem subterranen Museum - in Wahrheit eher ein riesiger Schutzbunker - erstreckt sich eine von Kriegen umgepflügte Landschaft, die für Kultur und Gedankenfreiheit längst keinen Raum mehr bietet. Die nächtlichen Stelldicheins enden am Rand eines Höllenschlunds, der den Schatten des Geliebten zusammen mit Tausenden anderen verschlingt - Emblem für die Massengräber, in denen Saddam Hussein die zahllosen Opfer seiner Ausmerzungsaktionen verscharren ließ. Und der Mann, dem der Wind einen alten Menschheitstraum erfüllt? Er steigt nur auf, um abzustürzen und immer wieder am Nullpunkt anzufangen.

Bachtyar Ali, 1966 im nordirakischen Sulaimaniya geboren, gehörte zu der Generation junger Intellektueller, denen die 1991 erlangte Autonomie Irakisch-Kurdistans alle Türen aufzustoßen schien; Zeitschriften wurden ins Leben gerufen, Kulturprojekte aufgegleist. "Wir haben die kurdischen Parteien und auch unsere Traditionen und die kulturellen Hintergründe unserer Gesellschaft sehr scharf kritisiert", erinnert sich der Schriftsteller im Gespräch; Konflikte mit dem politischen Establishment waren demzufolge vorprogrammiert. Als Zwiste unter den großen Parteien 1994 in einen Bürgerkrieg mündeten, war die Hoffnung am Ende: "Das Töten wurde sehr einfach - man konnte jede kritische Stimme zum Schweigen bringen. Unser Leben war akut gefährdet, und wir konnten auch unsere Aktivitäten nicht mehr fortsetzen. Darum mussten wir das Land verlassen."

Erst in Deutschland, wo er seit Mitte der 1990er Jahre lebt, sind Bachtyar Alis Romane entstanden, ein gutes Dutzend mittlerweile. Ihr inhaltlicher Ankerpunkt ist das Schicksal der irakischen Kurden, und ihnen hat der Autor auch sprachlich die Treue gehalten: Er schreibt durchwegs auf Sorani, und mit Erfolg. In seiner Heimat erscheinen die Bücher in einer Erstauflage von zehntausend Exemplaren, die zweite folgt in der Regel, noch bevor ein Jahr verstrichen ist. Doch für dieses Idiom gibt es kaum literarische Übersetzerinnen und Übersetzer. So blieb Bachtyar Ali im deutschen Sprachraum zwanzig Jahre lang quasi unsichtbar, bis der Unionsverlag auf sein Schaffen aufmerksam wurde.

Klagen über das Exil aber hört man von ihm nicht. Denn die Distanz schärfte seinen kritischen Blick auf die eigene Gesellschaft und verschaffte ihm überhaupt erst die Freiheit, seinen Erkenntnissen Ausdruck und literarische Gestalt zu geben: "Wäre ich nicht in Deutschland gewesen, dann hätte ich alle diese Bücher nicht geschrieben. Ich hätte die Ruhe nicht gefunden, meine Gesellschaft so vertieft und auch kritisch anzusehen; und hier kann ich mich auch von der Selbstzensur befreien, die das Leben in unseren Gesellschaften mit sich bringt."

In seinem Essay "Der schöpferische Schrecken. Eine Analyse der Beziehung zwischen Migrant und Raum" entwickelt Ali die Thematik von Flucht und Exil weiter, indem er die mentalen Fluchtwege umreißt, die Menschen aus von Krieg und Despotie verheerten Ländern in der Fremde einschlagen. Das kann der totale Bruch mit Vergangenheit und Erinnerung sein, der jedoch auch die Besiegelung des erfahrenen Traumas bedeutet: Der Geflohene vollzieht ihn "nicht um zu retten, was es aus den Klauen der Tyrannei zu retten gälte, sondern um auszuradieren, was nicht einmal die Tyrannei aus seinem angstgelähmten Ich hat ausradieren können". Dieser Weg endet in der totalen Assimilation an die Gesellschaft im Gastland.

Für denjenigen aber, der die Erfahrung des Schreckens weiterhin mit sich tragen muss oder will, gibt es kein Ankommen und kein Asyl. Denn dieses ist lediglich ein äußerliches, "notgedrungenes Stehenbleiben, wo der Zufluchtsort kein weiteres Voranschreiten erlaubt. Der Akt des Fliehens ist demgegenüber ein fortwährender Prozess mit wechselnder Kostümierung. Für den Fliehenden gibt es nirgendwo einen Ort, der ohne Schrecken ist." Nicht alle halten diese Befindlichkeit als Dauerzustand aus. Sie kann den neuen Ort so negativ aufladen, dass ein geistiger Rückzug in eine geschönte Version der einstigen Heimat oder in eine idealisierte Vergangenheit einsetzt, der den Migranten schlimmstenfalls in die Arme extremistischer Gruppierungen treibt.

Wenn man sich jedoch dem "schöpferischen Schrecken" stellt, die Last der Erinnerung auf sich nimmt im Bewusstsein, sie nirgendwo ablegen und neue Wurzeln schlagen zu können, dann erobert man damit auch ein Stück Zukunft. Wer seine Heimat an Krieg, Diktatur oder Misswirtschaft verloren, wer auf der Flucht Grenzen überschritten und dabei auch ihre Willkürlichkeit erfahren hat, der lernt, dem Konstrukt der Nation zu misstrauen. Und seine Flucht, so Ali, kann als Versuch verstanden werden, "dem Raum wieder seine ursprüngliche Beschaffenheit zurückzugeben, seine Realität als ein Territorium des Lebens, die er in der Zeit vor dessen Fragmentierung in Staaten und Populationen besessen haben mag". So wird der Fliehende auch "eine Art Zukunftsdetektor, der Wegbereiter eines Menschentypus, der sich nicht in die existierenden Gussformen einpassen lässt".

Die Romane Bachtyar Alis sind - in der inhaltlichen Vielfalt, die er seinem Grundthema abgewinnt, wie auch in ihrer verstörenden Mischung aus Grauen und Schönheit - eine Manifestation jenes schöpferischen Schreckens. "Der letzte Granatapfel" (2002, dt. 2016) überblendet die brutale Repression durch das irakische Regime, der die Kurden in den 1980er Jahren ausgesetzt waren, mit einem vernichtend kritischen Blick auf die Akteure des innerkurdischen Bürgerkriegs; im Fokus steht die doppelt verlorene Generation derjenigen, die in diese Zeit hinein geboren wurden. Von Mal zu Mal wüster fällt die Realität in ihre Schicksale ein, bricht die schillernde Schutzschicht des magischen Realismus auf: Während der junge Mann mit dem gläsernen Herzen die surreale Welt nie verlässt, die der Autor zu Beginn des Romans für ihn entwirft, begegnen wir dem letzten der verlorenen Söhne in einer Institution, wo Jugendliche versorgt werden, die der Krieg versehrt, verstümmelt, geschändet hat. Am Ende der langen Flure, in der hintersten Halle liegt er, entstellt vom "geschmolzenen Gesicht" bis hinab zu den versengten Füssen - ein Opfer der Phosphatbomben, die Saddam Husseins Luftwaffe auf kurdische Dörfer regnen ließ.

Denselben historischen Bogen schlägt Ali in "Die Stadt der weißen Musiker" (2006, dt. 2017), rückt dabei aber näher an die Schlachtfelder des Ersten und Zweiten Golfkriegs heran. Diesmal fungieren drei Städte als Fixpunkte der Handlung. Eine im kurdischen Norden, schäbig und grau, wo die Gassen so eng sind wie die Herzen der Bewohner; eine im Süden, eine Bordellstadt, von Wüstenstaub durchweht und ephemer wie eine der "Unsichtbaren Städte" Italo Calvinos, den Bachtyar Ali unter seine literarischen Leitsterne zählt. Im Untergrund des Landes zieht sich die eingangs erwähnte Schutzanlage für gefährdete Kunstwerke hin; ihr visionäres Pendant ist die dritte, titelgebende Stadt, eine Mischung aus Paradies und Totenreich. Sie bietet Raum für Melodien, die zum Schweigen gebracht oder nie gespielt wurden, für Bücher, die ungeschrieben blieben, Gemälde, die der Zerstörung anheimfielen. Der immer wieder verhandelte Stellenwert der Kunst im Verhältnis zu Wahrheit und Menschlichkeit ist der eine Brennpunkt des Romans. In hartem Gegenschnitt dazu steht der zweite: das packende, auf mundgerechte Antworten verzichtende Tribunal, in dem einer der grausamsten Kriegstreiber sich dem Richtspruch seiner Opfer stellt.

"Perwanas Abend" (1998, dt. 2019) spielt zwar in Kurdistan, könnte aber ebenso gut in Iran angesiedelt sein oder in einem christlich-fundamentalistischen Staatswesen, wie es Margaret Atwood in "Der Report der Magd" entwirft. Die Titelheldin kehrt einer von religiösem Fieber geschüttelten Gesellschaft den Rücken und flieht mit ihrem Gefährten und anderen jungen Paaren ins "Tal der Liebenden", das am Grund einer unzugänglichen Waldschlucht liegt. Dass der Schriftsteller das von Reinheitswahn und unterdrückten Trieben geschwängerte Klima in den Häusern der Frommen in beklemmende Bilder zu fassen weiß, liegt nahe; aber wer hätte erwartet, dass auch im Liebestal gleich von Anfang an ein Herbsthauch der Zersetzung weht? Die kühle, bedachtsame Demontage der selbstgeschaffenen Utopie weist schon in diesem, Bachtyar Alis zweitem Roman den illusionslosen Blick aus, mit dem der Autor seine kühn entworfenen Bilderwelten kontrolliert.

Ungewohnt schmal reiht sich nun "Mein Onkel, den der Wind mitnahm" an die zuvor genannten Werke. Doch das Buch, das demnächst im Unionsverlag erscheint, steckt den zeitlichen Rahmen noch weiter als jene und berührt auch aktuelle Themen wie das Schleppergeschäft und den Aufstieg der digitalen Medien zur fünften Gewalt. Einen solchen Parcours auf 150 Seiten zu absolvieren, verlangt erzählerische Ökonomie, die der Autor durch die einheitliche Grundstruktur der Episoden und stellenweise radikale Raffungen des Geschehens erreicht.

Man mag hier die Bildkraft der anderen Romane ein wenig vermissen, aber zur Gestalt des Protagonisten passt der schlanke Duktus gut. Djamschid Khan, 1979 als Siebzehnjähriger wegen seiner kommunistischen Überzeugungen eingekerkert, schwand unter den immer perfideren Torturen der irakischen Schergen dahin, bis er, fadendünn und federleicht, von einer Bö aus dem Gefängnishof gerissen und in sein kurdisches Heimatdorf zurückgetragen wurde. Obwohl ihm fortan seine Neffen Salar und Smail zur Seite stehen, die ihn mithilfe eines Seils vor dem unfreiwilligen Abheben bewahren sollen, "verweht" ihn der Wind alle paar Jahre wieder; bei jeder unsanften Landung verliert er das Gedächtnis und wird in ein neues Leben geworfen. Mal glaubt er, in den Lüften Gott gesehen zu haben, und dient sich darauf einem fundamentalistischen Geistlichen an; mal weiht er sich der Liebe und fällt dabei gemein auf die Nase. Die irakische und die iranische Armee machen sich seine Flugkünste auf je eigene Art zunutze - die eine setzt ihn als Späher ein, die andere lässt ihn im Gewand des schiitischen Märtyrers Hussein aufsteigen, um den Kampfgeist der Truppen zu befeuern. Djamschid seinerseits wird lernen, aus der Not von Flüchtlingen ebenso seinen Profit zu ziehen wie aus den Lastern einer korrumpierten Elite.

Auf den ersten Blick mag Alis Held wie ein rückgratloser Wendehals wirken; doch das hieße, seine beachtliche Resilienz zu ignorieren, die Energie, mit der er sich - mal naiv und gutgläubig, mal kalt und abgebrüht - in die wechselnden Lebensentwürfe stürzt. Betont wird diese Dynamik durch eine Kontrastfigur: Salar, der dem Protagonisten wie auch dem Leser am nächsten steht, weil er im Roman als Ich-Erzähler fungiert. Im Gegensatz zum umtriebigeren Smail widmet er sich ganz dem Dienst am Onkel und verblasst dabei zu dessen Schatten: Sein eigenes Leben gewinnt nur mehr Kontur, indem er dasjenige Djamschids referiert. Am Schluss steht die Beziehung der beiden auf wunderbar pfiffige Weise Kopf: "Das Einzige, was mich jemals am Boden gehalten hat", erkennt Salar, "waren die Seile, an denen ich Djamschid Khan hielt."

Salars Aufopferung hat weniger mit Edelmut zu tun als mit innerer Schwäche. Djamschid dagegen will kein Opfer sein, auch wenn ihn das gelegentlich die Sympathie des Lesers zu kosten droht; und gerade diese Prägung des Protagonisten verleiht Bachtyar Alis Geschichtslektion die richtige, bitter-scharfe Würze.

Ist Djamschid mit seiner Gabe, sich immer wieder neu zu erfinden, auch eine Verkörperung des "schöpferischen Schreckens"? Seine Biografie ist ja nichts anderes als der "fortwährende Prozess mit wechselnder Kostümierung", von dem im Essay die Rede war, auch überquert er Grenzen, wie der Migrant - nach Iran, in die Türkei oder nach Europa. Allerdings wird er von diesen Destinationen nolens volens auch immer wieder an den Ausgangspunkt zurückbefördert und bleibt so bis fast am Ende im Bannkreis seiner Herkunftswelt. Und vor allem fehlt ihm die Quelle, aus welcher sich der schöpferische Schrecken nährt: die Erinnerung.

Der schöpferische Drang aber, der Wille, dem Leben Sinn und Gestalt zu geben, regt sich auch in diesem kaum mehr vorhandenen Leib, zündet da und dort Funken einer faustischen Neugier. Nach dem ersten Flug und Sturz wendet Djamschid sich der Natur zu und will sogar Darwins Lehre umkrempeln, auch seine Gottessuche ist zumindest am Anfang von echtem Wissensdrang befeuert; die Potenziale des Internets erkennt er schnell und nutzt sie virtuos. Aber seine Existenz untersteht einem perfiden Paradox: Die Folter vermochte zwar seinen Willen nicht zu brechen, er schwieg bis zuletzt; doch gerade deswegen war sie so lang und grausam, dass sein Leib zum Spielzeug blinder Kräfte wurde - den Wechselwinden der Geschichte anheimgegeben und immer wieder durch Absturz, Gedächtnisverlust und die erzwungene Rückkehr auf Feld Eins kaltgestellt.

Wie weit diese Parabel gespannt ist, zeigt sich im auf der Verlags-Webseite aufgeschalteten Interview, das Gerwig Epkes mit dem Schriftsteller geführt hat. Im Orient, erklärt Bachtyar Ali dort, sei das Vergessen in den letzten vierzig Jahren reine Überlebensstrategie geworden: "Im Allgemeinen würde ich meinen, dass der Mensch im Orient dazu verführt, ja gezwungen ist, seine Vergangenheit aus der Erinnerung zu vertreiben, da die nächste Katastrophe unausweichlich ist. Die Gegenwart ist derart mit Gefahren und Bedrohungen gespickt, dass sich der Großteil der Bevölkerung weder der Vergangenheit noch der Zukunft widmen will oder kann."

In diesem Sinne wäre Djamschid wohl auch als ein orientalischer Angelus Novus zu verstehen - blicklos zwischen undurchdringlichen Finsternissen schwebend, vom Sturm gebeutelt, welcher nach wie vor über die Länder des Nahen und Mittleren Ostens fegt. Und der weht mit Sicherheit nicht, wie es bei Walter Benjamin noch hieß, "vom Paradiese her".

Bachtyar Ali: Mein Onkel, den der Wind mitnahm. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawzeh Salim. Unionsverlag, Zürich 2021. 151 Seiten, gebunden, 20 Euro.

Erscheint am 23. August.

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