Vorworte

"Wenn man schreibt, verschwindet man."

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
07.03.2022. Verschwinden - das bedeutet für Adania Shibli nicht nur die völlige Hingabe ans entstehende Werk. Für die 1974 geborene Autorin reflektiert es auch eine Alltagserfahrung, der sie als in Israel lebende Palästinenserin ausgesetzt ist. In ihren Romanen nähert sie sich dieser Situation auf innovativen Wegen an; mit "Eine Nebensache" ist ihr der internationale Durchbruch gelungen.
In loser Folge stellt Angela Schader wichtige Neuerscheinungen vor - immer einige Zeit, bevor sie herauskommen." D.Red.

=======

Adania Shibli 2020. Foto: National Book Foundation / Wikipedia unter cc-Lizenz
Das wirkliche Horchen beginnt in der Stille. Ist dies der Grund, dass die palästinensische Autorin Adania Shibli die Stille eigentlich interessanter findet als das Schreiben? Und was hört sie, wenn sie in die Stille lauscht?

Sie hört, zum Beispiel, "ein Wort, das man nicht sagen sollte", wenn man - wie sie - als Araberin innerhalb der Grenzen Israels geboren wurde: das Wort "Palästina". Sie hört Namen arabischer Dörfer, die auf keiner israelischen Landkarte mehr zu finden sind. Sie hört das Zögern, bevor Ihresgleichen den Mund auftut - denn "du musst genau nachdenken, bevor du ein Wort Arabisch sprichst, weil du dann sofort anders behandelt wirst".

Und dennoch liebt Adania Shibli die Stille. Denn diese ist für sie mehr als nur ein Ausdruck der Tilgung oder Negation palästinensischer Präsenz. "Mit der Stille zu leben bedeutet nicht die Abwesenheit von Worten", sagt sie im Gespräch mit David Naimon, "vielleicht ist sie eher ein Element. Es geht also nicht um eine Absenz, nicht um etwas Fehlendes, sondern vielmehr um etwas anderes, das sich enthüllt und lebt." Etwas, dem sie dann im Prozess des Schreibens Gestalt zu geben versucht.

Das literarische Œuvre der 1974 in einem Dorf in Obergaliläa geborenen Autorin ist einstweilen überschaubar. Drei schmale Romane liegen vor, daneben hat sie Kurzgeschichten, Theaterstücke und Essays verfasst. Zudem unterrichtet die studierte Medien- und Kulturwissenschaftlerin nach Dozenturen in Nottingham und Paris seit 2012 regelmäßig an der palästinensischen Universität Bir Zait.

Wenn Adania Shiblis Romanwerk nicht schneller wächst, liegt der Grund wohl auch darin, dass sich die Schriftstellerin nicht an gängigen Mustern und Wegen orientiert; vielmehr steckt sie eigene literarische Landschaften aus, die sich erst allmählich dem brüchigen, verminten Terrain annähern, das sie (vielleicht) Heimat nennt. Dieser Ansatz trug ihren Büchern von Anfang an Aufmerksamkeit ein. Ihr 2002 erschienener Erstling "Misaas" ("Touch") wurde mit dem Young Writer's Award Palestine ausgezeichnet, ebenso das zwei Jahre später veröffentlichte "Kulluna Baʿid bi-Dat al-Miqdar ʿan al-Hubb" (englisch "We Are All Equally Far from Love"). Die zwölf Jahre, die sie dann in ihr nächstes Werk investierte, lohnten sich: "Minor Detail", die englische Ausgabe von "Tafsil Thanawi" (2017) schaffte es auf die Longlist des International Booker Prize und die Shortlist des amerikanischen National Book Award für übersetzte Literatur. Auf Deutsch erscheint der Roman demnächst unter dem Titel "Eine Nebensache" in einer von Günther Orth besorgten Übertragung bei Berenberg.

Shiblis erster Kurzroman ist bis dato auch ihr eigenwilligster. Eher Bilderbogen als Geschichte, entfaltet sich "Touch" um ein kleines Mädchen, dessen Sinne und Empfindungen andere Schwingungen aufnehmen als die der Menschen rundum. Die vier Abteilungen des Buches sind jeweils einem Leitmotiv - Farbe, Stille, Bewegung, Sprache - unterstellt und in je acht kurze Szenen oder Episoden gegliedert; Ereignisse scheinen auf, gewinnen in manchen Fällen Kontur, bleiben in anderen irritierend in der Luft hängen.

Auch die Zeit hält die Autorin weitgehend in der Schwebe. Um die fünf Jahre alt dürfte die Protagonistin in den frühesten Episoden sein, das Buch endet mit ihrer Hochzeit, auf die schon in den ersten drei Sektionen vorausgewiesen wird. Dazwischen liegt eine fragmentierte Lebensspur, die immer weiter ins Abseits führt. Das Mädchen, das sich als jüngstes von zehn Geschwistern scheu am Rand der Familie bewegt, erkrankt an einer schweren Virusinfektion, die "in den Ohren beginnt und im Gehirn aufhört". Der Bruder kommt um, die Mutter verkraftet den Tod des einzigen Sohnes nicht, und das schwierige Kind bleibt draußen vor der Tür, hinter der Mutter und Schwestern ihr Leid zelebrieren. Es sucht Zuflucht bei der kleinen Bibliothek der Eltern, liest sich von Dostojewski und Dumas bis zum Türkischlehrbuch durch die Regale. Das Mädchen beginnt auch, heimlich in den Tagebüchern der Schwestern zu stöbern, und sieht dabei den scheinbar geschlossenen Mikrokosmos der Familie in widersprüchliche Welten zerfallen.

Nicht alle Episoden fügen sich gleichermaßen organisch in die offene, stark verknappte Struktur des Romans, insbesondere der steile Einstieg in die Weltliteratur wirkt nicht überzeugend. Aber geordnetes, lineares Erzählen ist Adania Shibli im Innersten zuwider. "In den letzten Jahren", erklärt sie im Interview, das Mireille Jucheau 2020 für das Bomb Magazine führte, "verwandelte sich mein genuines Desinteresse an der narrativen Form, das sich wohl schon früh in meinem Schaffen ausdrückt, in eine tiefe Abscheu. Ich sage Abscheu, weil ich wirklich körperlich auf lineare Strukturen reagiere. In solchen Strukturen, meine ich, kann eine 'große Erzählung' existieren wie eine Diktatur - unverrückbar, wie der ärgste Tyrann."

So war es denn vor allem die Begegnung mit experimenteller Poesie, an der sich Shiblis Faszination für die Sprache entzündete - und dieses Licht erhellt auch "Touch". Das Farbenspiel des ersten Teils, die gelegentlich fast surreale, dann wieder von präziser Beobachtung zeugende Bildsprache reflektieren die besondere Sensibilität der Protagonistin; die Leerräume und Unschlüssigkeiten der Erzählung können mancherorts die anregende oder verstörende Wirkung entfalten, die der Lyrik eignet. Da ist etwa das seltsame Spiel, das die Kleine mit einem erwachsenen Nachbarn treibt: Ein heimlicher Austausch von Zärtlichkeiten, von dem man nicht ganz weiß, ob er so liebevoll und unschuldig ist, wie er sich darstellt. Oder die traumartige Szene, in der die Protagonistin, mit ihrem Brautkleid angetan, im bleichen Abendlicht das Haus verlässt und durch eine Straße geht, wo Bremsspuren und zersplittertes Glas von einem Unfall zeugen. Wie in einem Kaleidoskop schließen sich die Partikel dieses eigenartigen Debütwerks zum Bild einer versehrten und dennoch magischen Welt zusammen.

Shiblis nächstes Buch, "We Are All Equally Far from Love", bewegt sich auf den ersten Blick näher an bekannten literarischen Formen und Normen. Aber auch dieser aus acht Kurzgeschichten bestehende Zyklus spielt mit lyrischen Strukturen. Aus den lapidaren Titeln der ersten und der letzten Story, "The Beginning" und "The End", entsteht im Lauf der sechs dazwischenliegenden Texte ein Gedicht, in dem sich Anfang und Ende verschränken: "As if every beginning is an end" beginnt es, und spricht vom quälenden Scheitern, das der Liebe von Beginn an eingeschrieben ist. Mit jeder Erzählung wächst das Gedicht um eine weitere Zeile, deren Aussage dann in die Handlung des betreffenden Texts eingesponnen wird. Zudem lässt sich in der Komposition des Bandes eine Art inhaltliches Reimmuster ausmachen, indem jeweils zwei aufeinanderfolgende Geschichten durch Motive, Figuren oder Handlung miteinander verbunden sind.

Dem Titel zum Trotz variiert die Distanz, welche die Figuren von der Liebe - und auch von sich selber - trennt, beträchtlich. Begegnet uns in der ersten Geschichte eine scheue Romantikerin, die aus der flüchtigen Berührung eines hängenden Zweigs oder den kurzen Briefen eines Fremden ihre Seelennahrung zu ziehen vermag, so ist die Ich-Erzählerin in der letzten zwar attraktiv und von allen bewundert - aber das Säurebad ihrer Hassgefühle hat ihre Seele zersetzt und dringt nun lähmend in ihren getrimmten Body ein.

Nur gerade ein Text verortet das Buch klar in den palästinensischen Gebieten, und dabei spannt Shibli auch eine Art Hintergrund für ihren Totentanz der Liebe auf. Dürr lässt sie die junge Protagonistin resümieren, was Liebe und Ehe hier für ihre perspektivlose Generation bedeuten: Man(n) spart Geld für ein Häuschen an, sobald das Fundament gelegt ist, wird ein anständiges Mädel gesucht, also eins, das nicht lacht und züchtig weder nach links noch nach rechts schaut - "und so, Hand in Hand, beginnen er und seine Beute ihre endlose Reise in die Langeweile". Wer anderes will als dieses powere Rollenspiel, oder wer - wie der weltfremde Antiheld der vierten Geschichte - nicht einmal auf dieses aspirieren kann, der oder die stirbt ab, lange bevor der Tod eintritt: "Nichts mehr kam aus seinem Mund außer dem Atem", heißt es von jenem glücklosen jungen Mann.

Die direkte literarische Auseinandersetzung mit der Realie, die für die Israeli "Staatsgründung" heißt und für die Palästinenser "Nakba" - "Katastrophe" -, nimmt Adania Shibli erst in ihrem jüngsten Buch an die Hand. Oder ist es vielmehr die Geschichte, im literarischen wie historischen Sinn, welche die Schriftstellerin bei der Hand nahm? Wann immer sie versucht habe, den Schreibprozess zu kontrollieren, so berichtet sie im Bomb Magazine, sei es grauenhaft schiefgegangen. "Ich kann nicht ausdrücken, wie das passiert ist; wie ich, als Verfasserin des Texts, eine derart geringe Rolle spielen konnte." Auch im Gespräch mit David Naimon kommt diese Erfahrung zur Sprache, und Shibli geht dort noch einen Schritt weiter: "Eigentlich ist es so", sagt sie: "Wenn man schreibt, verschwindet man."

Dieses "Verschwinden" der Autorin prägt insbesondere den ersten Teil von "Eine Nebensache" - und es ist schwer, sich der kalten Bannkraft des gerade durch seine radikale Entpersönlichung wirkmächtigen Texts zu entziehen. Was geschieht? Wir blicken zurück ins Jahr 1949; unter der sengenden Augustsonne schlägt eine israelische Militäreinheit im Nordwesten des Negev, nahe der ägyptischen Grenze, ihr Lager auf. Im Zentrum der Erzählung steht der namenlose Offizier, der das Kommando führt: Seine Truppe soll das Terrain von den verbleibenden Arabern und allfälligen Infiltranten "säubern". Nach drei Tagen stößt die Patrouille tatsächlich auf ein paar Beduinen, die gerade ihre Kamele tränken; bis auf ein junges Mädchen überlebt keiner von ihnen die Konfrontation. Das Mädchen wird ins Camp mitgenommen, mehrfach vergewaltigt, am Ende wieder in die Wüste gefahren und erschossen.

Was macht Shibli daraus? Nicht die flamboyante Opfer-Täter-Geschichte, die sich bei einem solchen Szenario aufdrängt. Das beginnt schon bei der Darstellung des Massakers: Wir hören das Gewehrfeuer losbrechen, sehen dann aber lediglich die in ihrem Blut liegenden Kamele, das ausgerupfte Grasbüschel, das einem von ihnen aus dem Maul gefallen ist. Am Rand der Szene das weinende Mädchen, in seine schwarzen Kleider verkrochen; im Zentrum der Offizier, der die Sandkörner studiert, die sich in den Wurzeln des Grasbüschels gefangen haben. Eine andere besonders quälende Szene - das Mädchen wird vor versammelter Mannschaft entblößt und einer kruden Reinigung unterzogen - behandelt die Autorin mit demselben beklemmenden Understatement. Erbarmungslos genau schildert sie das Prozedere, aber indem der Fokus ganz auf die Handgriffe und die Wahrnehmung des Offiziers fixiert bleibt, wird das dreckige Lachen der Soldaten ebenso auf Distanz gehalten wie die Pein der jungen Frau. Subtil bricht Shibli für einen Augenblick den fast mechanischen Ablauf der fünfeinhalb Seiten übergreifenden Szene: "Die Sonne hatte ihren Körper inzwischen getrocknet, nur noch ein paar Tropfen hingen hier und da an ihrer Haut und im Schatten ihrer rechten Brust. Er starrte die Stelle einen Moment lang an und blickte dann auf ihre Hand."

Dieses ratlose Starren, das die Brennpunkte männlicher Begierde meidet, setzt eine weitere Nuance im Charakterbild des Offiziers, mit dem die Schriftstellerin das konventionelle Rollenspiel auf faszinierende Weise unterläuft. Das Menschliche in der Figur wird quasi auf Eis gelegt, auch im Umgang des Mannes mit sich selbst. Gleich in der ersten Nacht im Wüstencamp beißt ihn ein giftiges Insekt, und von der notdürftig versorgten, eiternden Wunde aus verbreiten sich Schmerzen, Übelkeit, Krampf- und Schwindelanfälle im ganzen Körper. Der Offizier nimmt zwar die äußere Hygiene genauso ernst wie seine militärische Mission, seine Waschrituale ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den ersten Teil; das tobende Gift in seinem Inneren aber ignoriert er nach Kräften, versieht tagsüber seinen Dienst, schleppt sich nachts auf einsamen Kundschaftsgängen durch die Dünen. An die Stelle des klassischen Feindbildes setzt Shibli eine Figur, die sich - sei es durch Veranlagung oder in Erfüllung ihrer Pflicht - auf beängstigende Weise selbst verloren hat.

Die Ich-Erzählerin des zweiten, gegenwartsnahen Teils von "Eine Nebensache" kann diesem Charakter nicht ganz das Wasser reichen. Sie teilt mit ihm die obsessive Reinlichkeit, ist aber sonst konträr konzipiert: Unfähig, sich an die Grenzen zu halten, die ihre Lebenswelt kreuz und quer durchziehen, wechselt sie zwischen kopflosem Wagemut und ängstlichem Rückzug. Allerdings ist ihr Verhalten letztlich nur Spiegelbild einer widersinnigen politischen Situation. Wer will es ihr verdenken, dass sie in dem Irrgarten von Checkpoints und Zonen, Verhaltensregeln und Verboten manchmal nicht mehr weiß, "was man darf und was nicht, so dass ich am Ende nur noch mehr Grenzen überschreite".

An dem Zeitungsartikel eines israelischen Journalisten, der den im ersten Teil geschilderten Vorfall rekonstruiert hat, bleibt sie allein wegen der titelgebenden Nebensache hängen: Der Mord an der jungen Frau hat sich genau fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt ereignet. Da der Bericht die Geschichte und Erfahrung der jungen Beduinin ganz ausblendet, will sie eine eigene Spurensuche unternehmen; ein Vorhaben, das als Hürdenlauf beginnt und auf so unerwartete wie makabre Art zum Ziel führt. Zunächst muss - einmal mehr - das Problem der Grenzüberquerung gelöst werden, denn die Erzählerin darf sich lediglich in Zone A und B der palästinensischen Autonomiegebiete halbwegs frei bewegen; die Orte, die sie aufsuchen will - das Militärmuseum in Jaffa, der Kibbuz Nirim im Negev, an dessen ursprünglichem Standort die israelische Truppe 1949 ihr Camp errichtet hatte - liegen jedoch auf israelischem Territorium. Die ID einer Kollegin, die mehr Bewegungsfreiheit genießt, muss also geborgt, ein Auto gemietet werden, das auch außerhalb der palästinensischen Gebiete zugelassen ist; und schon beim Checkpoint Qalandia beginnt die Fremde, durch die sie ihren Weg finden muss.

Die Landschaft ist, neben den beiden Hauptfiguren, die dritte wichtige Akteurin im Roman. Die Wüste mit ihren im Sonnenglast flirrenden Luftspiegelungen, verstummt und lebensleer nach der Liquidierung der Beduinen, hinterfängt im ersten Teil die seelische Einöde, die sich in den monotonen Handlungsmustern, dem wie ferngesteuerten Agieren des Offiziers ausdrückt. Im zweiten Teil ist der Boden weiträumig überstellt: Auf ihrer Fahrt Richtung Jaffa passiert die Protagonistin Siedlungen, hebräisch beschriftete Plakatwände, Neubauten, ausgedehnte Felder, aber auch Checkpoints, Militärlager, Sperranlagen; nur "kleine Details, die hie und da an der Strecke aufscheinen, deuten verstohlen auf die Präsenz von etwas anderem hin: Wäsche, die hinter einer Tankstelle auf einer Leine hängt, der Fahrer eines langsamen Lastwagens, den ich überhole, eine einzelne Schirmakazie zwischen den Feldern, ein alter Mastixstrauch, ein paar Schafhirten mit ihren Herden auf einem fernen Hügel". Wie wenig, oder wie viel von der Vergangenheit diesem Territorium noch innewohnt - die Antwort auf diese Frage entwickelt Adania Shibli, gleichsam im Schatten ihrer zunehmend fahrig agierenden Protagonistin, mit fataler Konsequenz.

Adania Shibli: Eine Nebensache
Aus dem Arabischen von Günther Orth. Berenberg Verlag, Berlin 2022. 120 Seiten, gebunden, 22 Euro.

Erscheint am 15. März 2022

Mehr Infos beim Berenberg Verlag

Zur Leseprobe

(bestellen bei eichendorff21)


Zur Leseprobe