Wo wir nicht sind

Das Aufflackern des Lichts

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
13.07.2021. Zwei formidable Schriftsteller zeigen die Bandbreite von Kolumbiens Literatur: Juan Gabriel Vásquez sucht in seinen politischen Erzählungen den Nullpunkt der kolumbianischen Gewaltgeschichte. Tomás González folgt in seinen melancholischen Geschichten Menschen, die fortgehen, ohne aufzubrechen.
Gleich zwei Erzähler stehen gerade im Ruhm, die wichtigste literarische Stimme Kolumbiens zu sein: Juan Gabriel Vásquez und Tomás González. Die beiden scheinen geradezu konträr zueinander zu stehen, doch groß sind sie beide.

Der 1973 geborene Juan Gabriel Vásquez floh wie so viele Kolumbianer in den neunziger Jahren vor der eskalierenden Gewalt im Land nach Europa, erst nach Frankreich, dann nach Spanien, 2012 kehrte er nach Bogotá zurück. Mit seinem Schreiben gräbt er sich durch die kolumbianischen Geschichte und divergierenden Geschichtserzählungen, auf der literarischen Suche nach dem Nullpunkt der Gewalt, der Bürgerkriege, politischen Verbrechen und Drogenkriegen. Auch die Erfahrung des Exils ist in seiner Literatur präsent, das prekäre Leben in Paris und Barcelona.

Seine Erzählungen kreisen wie auch schon sein großer Roman "Die Gestalt der Ruinen" um zwei politischen Morde, die Kolumbien jeweils in tiefe Krisen stürzten: 1914 wurde der General und liberale Parteiführer Rafael Uribe Uribe von zwei Handwerkern erschlagen, die ihm die Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit gaben. 1948 wurde der charismatische linke Politiker Jorge Eliécer Gaitán erschossen. Seine Ermordung führte zu schweren Ausschreitungen, Plünderungen und Brandschatzung in Bogotá. Der Aufruhr, genannt El Bogotazo, wurde vom Militär niedergeschlagen, am Ende gab es Tausende von Toten.

Bis heute ist Gaitáns Tod von Legenden umrankt wie die Ermordung John F. Kennedys. War sein Mörder ein Einzeltäter? Wurde er wirklich spontan von einer aufgebrachten Menge erschlagen? Niemand Geringeres als Gabriel García Márquez hatte mit seinen Erinnerungen "Leben, um davon zu erzählen" Spekulationen Futter gegeben. Angeblich lehrte dieses Ereignis Fidel Castro auch die Unmöglichkeit eines städtisches Aufstands. Doch Vásquez bezieht sich nicht nur explizit auf Márquez, den Titan der kolumbianischen Literatur, sondern auch auf Jorge Luis Borges, den argentinischen Meister der literarischen Spiegelung: Im Mittelpunkt des "Ruinen"-Romans steht ein Schriftsteller, der von einem manischen Bekannten dazu gebracht wird, einen Roman über die Morde zu schreiben. Dieser Schriftsteller, der auch der Erzähler des Romans ist, sieht dem Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez verblüffend ähnlich. So vertraut erscheinen einem nur Menschen, würde Vásquez sagen, "die einander täuschen wollen".

Mit seinen Erzählungen "Lieder für die Feuersbrunst" knüpft Vásquez thematisch und literarisch an seinen Roman an. Auch sie erkunden die Macht- und Gewaltverhältnisse des Landes, stürzen einen ohne Umschweife in die großen tragischen Verwicklungen. In der titelgebenden Erzählung stößt der Erzähler, ein Schriftsteller, auf die spanische Grammatik, die eben jener ermordete General Uribe Uribe 1887 verfasst hatte, als er nach dem verlorenen Bürgerkrieg im Gefängnis saß. Anhand dieses Buches verfolgt er die Geschichte der Familie de León, auf deren Ländereien Uribe einst als Verwalter arbeitete und der er die Grammatik widmete. Es ist eine herrschaftliche, aber liberale Familie, die viele Jahre in Europa verbrachte und deren Sohn im Ersten Weltkrieg für Frankreich fiel. Einige Jahre nach dessen Tod bringt ein Unbekannter die kleine Tochter des gefallenen Sohns auf die Hacienda der Leóns, die Mutter ist auf der Schiffspassage von Le Havre nach Cartagena an einem schweren Fieber gestorben. Dort, in der abgeschiedenen Kaffeeregion um Medellín, wächst Aurelia zu einem freien Geist heran und zu einer Unterstützerin des Politikers Gaitán.

Der Stoff hätte für einen ganzen Roman gereicht, in voller Breite auserzählt wäre er zu einer Saga geraten. Aber in der nur angedeuteten Form, mit wenigen Strichen und ein paar Schraffierungen gezeichnet, wird diese flüchtige Erzählung zu einer Parabel auf ein zerrissenes Landes, dessen Konflikte sich von Generation zu Generation forttragen: Ein politisches Leben geht in Kolumbien mit Härte und Ausgrenzung einher, Freiheit ist nur zu haben um den Preis der Sicherheit.

In "Die Frösche" fantasiert Vásquez eine grandiose Szene: Zum fünfzigsten Jahrestag treffen sich die Veteranen eines Krieges, die Offiziere und Diplomaten, die Gattinnen und die Generalstöchter, alle in feinem Tuch und behangen mit Orden oder goldenen Ketten. Unter diese Stützen der Gesellschaft haben sich allerdings auch zwei heimliche Verweigerer gemischt, die seit Jahrzehnten den Moment eher ersehnen als fürchten, in dem sie sich zu erkennen geben müssen. Tieftraurig ist die Geschichte "Die Jungen", die in den neunziger Jahren spielt, als der Drogenfürst Pablo Escobar seinen Krieg gegen den Staat entfachte und in unvorstellbarer Hybris Polizisten, Richter und Staatsanwälte umbringen ließ. Ihre Tragik entfaltet diese Erzählung aus der Zwangsläufigkeit, mit der die Kinder der Opfer nicht zusammenfinden, sondern in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und kindlicher Grausamkeit den Zirkel der Gewalt fortsetzen.

Nicht alle Erzählungen in diesem Band haben dieselbe Kraft, manche scheinen zu konstruiert, manche zu intendiert. "Die Frau am Ufer" erzählt etwa von einer Fotografin, die bei einem Wochenende in den Bergen einem unbarmherzigen Machtpolitiker in die Quere gerät, der mit seinem Tross auf derselben Hacienda logiert. "Schlechte Nachrichten" handelt von einem amerikanischen Hubschrauberpiloten, der einem Gefährten untreu wird. Beides sind Geschichten von Lüge und Verrat, von missbrauchter Macht und unterdrückter Trauer, aber sie finden nicht ganz die Form für die Wuchten, die sie thematisch entfalten. Immer ist jedoch spürbar, wie gewissenhaft Vásquez an der Erinnerung arbeitet, wie ernst er die Gewalterfahrung nimmt und wie unermüdlich sein Projekt fortschreibt, sich literarisch der historischen Wahrheit zu nähern.

Die Erzählungen von Tomás González sind dagegen frei von Raum und Zeit, in ihnen ist alles psychologische Tiefe. Der 1950 in Medellín geborene Autor ging bereits in den achtziger Jahren in die USA, er lebte in Miami und in New York, kehrte aber bereits 2002 nach Kolumbien zurück. Über seinen Geschichten hängt die Melancholie so schwer wie der Dunst über den Kordilleren. Menschen gehen fort und verlieren sich, kommen nicht an oder können nicht zurückkehren. Doch bei González sind es nicht politische Motive, die die Menschen ins Exil treiben, sie fliehen vor sich selbst, ihrer unrühmlichen Vergangenheit oder einer tristen Zukunft.

Die Geschichte "Ein unwahrscheinliches Grün" erzählt von einem namenlosen Künstler, der von einer nur angedeuteten Tragödie, wahrscheinlich dem Tod des Kindes, aus der Bahn geworfen wird. Er hört auf zu malen und beginnt zu trinken. Er geht fort aus Bogotá und reist mit seiner Frau durch die USA den Mississippi hinauf, bis auch sie ihn verlässt, abgestoßen von seiner Mischung aus Apathie und Grausamkeit. Allein zurückgelassen in New York, taumelt er einem kranken Ochsen gleich durch die Stadt, versunken in seiner Trauer, und verdient sich in den Bars ein bisschen Geld mit Bildern, die er im Düsteren von der Düsternis zeichnet: "Wie Dunkel kann es werden, dass man nur noch das allerletzte Aufflackern des Lichts erkennen kann?"

González erzählt von diesem Leben, das sich selbst keine Gnade gewährt, ohne jede Sentimentalität. Seine Prosa ist von großer Eleganz, aber von einer fast asketischen Strenge. Gerade die Nüchternheit seines Stils, der Ernst und die Klarheit seines Blicks machen die Anteilnahme mit dieser ungetrösteten Seele umso größer und die Momente der Großherzigkeit, die ihr wider Erwarten zuteil werden, umso erhebender.

In der Erzählung "Victor kehrt zurück" sitzt ein Mann auf gepackten Koffern, wartet in New York am Boardwalk auf seinen Rückflug nach Bogotá, das er fünfzehn Jahre zuvor verlassen musste, in die Flucht geschlagen von den Brüdern seiner Frau. Den Atlantik vor Augen kommen ihm die Erinnerungen hoch an das beschämende Ende seiner Ehe, "stinkend wie ein toter Hund im Mangrovensumpf". Er ahnt, dass man vor allem dann zurück will, wenn man nicht zurück kann.

"Der König vom Honka-Tonka" handelt von einem erfolgreicher Geschäftsmann, William, der sich mit einer Autowerkstatt ein beachtliches Vermögen erarbeitet, ein großes Haus in der Stadt, eine Finca in den Bergen, eine Jacht, eine anspruchsvolle Familie und eine heimliche Geliebten, mit der er die Leidenschaft fürs Salsa-Tanzen teilt. William kommt hervorragend mit den Menschen klar, mit Trinkern ebenso gut wie mit Esoterikern und Lyrikern. Er führt sein Leben in Saus und Braus, und als alles über ihn zusammenbricht, beginnt er von vorn. Ein ums andere Mal startet er neu, in Medellín und in Miami, in Cartagena und Cali, er verkauft Parfüm, Bratpfannen oder Parfüm, und wenn er alles verloren hat, kann er immer im Salsa-Club tanzen gehen. "Der König vom Honka-Tonka" ist ein Gegenentwurf zu Hiob, ein Aufsteiger, der seinen Niederlagen, Fehlschlägen und Missgeschicken einfach keine Tragik beimessen will.

Sehr berührend ist die "Reise an die Küste", in der eine Tochter für den dementen Vater eine Zugfahrt nachstellt, weil er jedes Jahr aus Neue darauf pocht, die längst verstorbenen Großmutter zu besuchen. Die Tochter baut das Wohnzimmer um, malt Schilder für die Bahnstationen, die sie auf dem Weg aus den Bergen an die Karibik passieren, verkleidet sich als Schaffnerin und verkauft am Bahnsteig Arepas und Guavenpaste. Dass diese liebevolle Tochter nicht nur ihrem Vater in seinem Wahn folgt, sondern für alle Beteiligten - die Mutter und die Geschwister spielen auch ihren Part - zu einem großem Vergnügen gestaltet, macht die Geschichte zu einem Lehrstück der Treue und Großzügigkeit.

Juan Gabriel Vásquez: Lieder für die Feuersbrunst. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Schöffling & Co, Frankfurt 2021, 240 Seiten, 22 Euro. (Bestellen)

Tomás González: Die stachelige Schönheit der Welt. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Peter Schulze-Kraft und anderen. Edition 8. Zürich 2021, 240 Seiten, 21,20 Euro. (Bestellen)