9punkt - Die Debattenrundschau
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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Dreißig Jahre Einheit. Die FAZ bringt eine Beilage. Joachim Gauck erinnert im Gespräch mit Reinhard Müller an das ungeheure Tempo der Ereignisse nach dem Mauerfall. Manches hätte man besser machen können: "Es ist ein generelles Manko dieser schnellen Vereinigung, dass die Ermächtigung der Akteure, die aus der Ohnmacht heraus plötzlich begriffen haben: 'Mensch, wir sind ja das Volk, und wir werden die Verantwortlichen sein', dass diese Phase so schnell zu Ende ging. Es hat etwas Tragisches, dass dieser glückhafte Moment des Aufbruchs und des Erkennens der eigenen Potentiale durch die zu Hilfe kommenden Spezialisten aus dem Westen, die wir übrigens brauchten und denen wir dankbar sind, dazu geführt hat, dass ein Teil der neu Aktivierten sich zurücklehnte und sagte, ach die können das ja besser."
Die taz bringt ebenfalls ein vielseitiges Dossier zur Einheit: Redakteure fahren in Provinzorte in Ost und West, um herauszufinden, was das Land zusammenhält. Es geht um Wirtschaft, Politik, Alltag - Kultur kommt praktisch nicht vor.
Hubertus Knabe erinnert in seinem Blog daran, wie komplett neben der Kappe die Grünen unmittelbar vor dem Mauerfall lagen: "Auch Joschka Fischer setzte sich noch im Sommer 1989 dafür ein, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen. Im Oktober forderte er: 'Vergessen wir die Wiedervereinigung! Warum halten wir nicht für die nächsten zwanzig Jahre die Schnauze darüber?' Und eine Woche nach dem Mauerfall erklärte er es auf einem Strategiekongress der Grünen 'für eine überlebensnotwendige Demokratenpflicht, für mindestens weitere 45 Jahre' auf alles Nationale 'panisch zu reagieren.'"
In Deutschland gilt längst der Rechtsextremismus als die größte Quelle für Terror und Gewalt. In Frankreich ist der Rechtsextremismus ebenfalls stark, aber der Islamismus, so scheint es in einem Bericht der FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel, ist noch stärker. Sie nennt furchterregende Zahlen. In Les Mureaux hat Emmanuel Macron nun einen Aktionsplan gegen "Separatismen" vorgestellt. Les Mureaux ist eine Banlieue bei Paris, wo man einst Arbeiter für Renault ansiedelte: "In einigen Vierteln der 32.000-Einwohner-Kommune lag die Arbeitslosenquote schon vor der Corona-Krise bei mehr als 50 Prozent. Die soziale Misere bildet den Nährboden, auf dem der radikale Islam prosperiert, hat Macron oft betont. Les Mureaux zählt zu den 15 Kommunen in der Banlieue, in denen seit 2019 mit einer verstärkten Polizeipräsenz 'experimentiert' wird. 133 Cafés und andere Gaststätten, 13 Gebetsräume, neun Vereine und vier Islamschulen wurden im Rahmen dieses Polizeiprojekts geschlossen. Beamte hatten nachweisen können, dass dort islamistische Propaganda verbreitet wurde."
Bei hpd.de stellt Hella Camargo den Entwurf des französischen Gesetzes gegen "religiöse Separatismen" näher vor. Unter anderem "soll die Einhaltung des Polygamie-Verbotes stärker kontrolliert und die Strafen bei Nichtbeachtung erhöht werden. Auch die Ausstellung von Jungfräulichkeitszertifikaten durch medizinisches Personal und Hebammen soll verboten werden."
Trotz strenger Maßnahmen verzeichnet Rumänien seit Juli einen "besorgniserregenden" Anstieg von Corona-Erkrankungen, notiert der Schriftsteller Jan Koneffke in der Berliner Zeitung - das liege auch an der teilweise "kulturellen Rückständigkeit" der Bevölkerung, erklärt er: "So meinten bei einer Umfrage vor zehn Jahren noch 42 Prozent der Befragten, die Sonne würde sich um die Erde drehen. Diese manipulierbare Masse ist für Verschwörungstheorien aller Art besonders empfänglich. Mehr als das: Die extrem individualistischen Rumänen zeichnen sich nicht nur durch ihr berechtigtes Misstrauen gegen Institutionen und Behörden aus - es fehlt auch vielen jener Gemeinsinn, der für die wirksame Bekämpfung einer Pandemie unabdingbar ist. Wo neben schierem Unwissen das Recht des Stärkeren - oder des Durchtriebensten - und nicht das Gesetz der Einsicht herrscht, ist ihr nur schwer beizukommen. Nicht zuletzt die weitverbreitete Korruption verringert die kollektiven Abwehrkräfte."
Politik
Susanne Knaul geht in der taz verschiedene Ansätze für eine Einstaatenlösung zur Lösung des Nahostkonflkts durch. Anlass ist ein New-York-Times-Essay von Peter Beinart, der in Israel Diskussionen auslöste (während sie Omri Boehm, dessen Buch hierzulande gefeiert wurde, nicht mal erwähnt). Aber sie bleibt skeptisch: "Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich bringen würde, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein Kinderspiel. Die Hunderten Siedlungen und Siedlerstraßen machten aus Palästina einen Flickenteppich, sagen Zweifler. Na und? Es gibt Transitstraßen, Brücken und Tunnel. Ideen über Ideen lagen auf dem Tisch, als man in guten Zeiten des Friedensprozesses gemeinsam über Verbindungsmöglichkeiten zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland nachdachte."
Dass die Vereinigten Staaten vereinigt sind, ist keineswegs so selbstverständlich, wie es lange schien. Die Union stand nicht nur im Bürgerkrieg auf der Kippe, erzählt Richard Kreitner, Autor des Buchs "Break It Up - Secession, Division, and the Secret History of America's Imperfect Union" in einem ziemlich instruktiven Gespräch mit Fabian Ebeling von der taz. Heute etwa könnte das liberale Kalifornien auf die Idee kommen, sich abzuspalten: "Politik in den USA ist wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Manche Menschen sind bereit, auf noch schärfere Mittel als den Diskurs zurückzugreifen. Das ist beängstigend in einem Land, in dem es fast mehr Waffen als Einwohner*innen gibt. Linke und Rechte sprechen relativ locker über die Spaltung der USA. Nach den Wahlen 2016 meinten Bekannte von mir, dass sie gern ein eigenes Land gründen oder nach Kanada ziehen würden. Hinter den Rechten versammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, die schon den nächsten Bürgerkrieg kommen sehen. Solche Abspaltungsgedanken gibt es in den USA schon immer. Allerdings wirkt das politische System immer unfähiger, unsere inneren Streitereien abzufedern."
Und dann erreicht uns heute noch diese Meldung:
Tonight, @FLOTUS and I tested positive for COVID-19. We will begin our quarantine and recovery process immediately. We will get through this TOGETHER!
- Donald J. Trump (@realDonaldTrump) October 2, 2020
Gesellschaft
In der Berliner Zeitung weiß auch Julia Haak: "Fragt man Funktionsträger in der Polizei nach den Ursachen, bekommt man jedes Mal ungefähr folgende Geschichte zu hören: Berufsanfänger bei der Polizei teilten mehr oder weniger dieselbe Grundhaltung. Sie seien Idealisten, die die Welt verbessern wollten. Sie wollten Bösewichte fangen und Unschuldige beschützen, Omas, Opas, Kinder. Im Berufsleben machten sie dann aber relativ schnell Erfahrungen, die sie prägen würden. In den Großstädten begegneten ihnen sehr viele Kriminelle mit Migrationshintergrund. Viele davon würden ihnen mit Verachtung und frech gegenübertreten, weil sie sehr genau wüssten, dass sie kaum verhaftet und schnell wieder auf freiem Fuß sein würden. Die Beamten fühlten sich machtlos und hilflos."
Im Mai verurteilte Daniel Kehlmann im SZ-Interview die Corona-Maßnahmen und warnte vor einer "radikalen Dystopie" (Unser Resümee). So schlimm ist es nun doch nicht gekommen, rudert er jetzt im Welt-Gespräch mit Andreas Rosenfelder zurück. Mit dem "Hygienetheater" und der Rigorosität der Maßnahmen kann er trotzdem nichts anfangen, auch die staatlichen Befugnisse möchte er zur Debatte stellen: "Dass etwa einfach hingenommen wurde, dass die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern nicht in ihre Zweithäuser durften. Das ist ein Skandal und ein Vorgang, der in keiner Weise rechtlich gedeckt ist. Eine andere Sache, die zu einer pittoresken Kleinigkeit erklärt wurde, ist das Betretungsverbot des öffentlichen Raums. In Österreich hat das Höchstgericht im Nachhinein entschieden: Das war gegen das Gesetz, den Menschen zu erklären, sie dürften nicht von Salzburg nach Niederösterreich fahren. Aber es gibt überhaupt keine Debatte darüber, dass man so extreme Dinge gemacht hat."
Vor zwei Jahren schilderte die Autorin Daniela Dröscher in ihrem Buch "Zeige deine Klasse" ihren Aufstieg vom Bürgertum ins Bildungsbürgertum. Den Begriff der "Aufsteigerin" mag sie allerdings nicht, lieber bezeichnet sie sich als "klassenquer", wie sie jetzt auf Zeit Online schreibt. Was es bedeutet, "klassenquer" zu sein, schildert sie auch: "Häufig leiden Klassenquere am Hochstapler-Syndrom. Man hat das Gefühl, nicht zu passen, einen Fehler im Bild zu markieren. (...) Es fehlt die berühmte Parkettsicherheit. Habe ich diese Parkettsicherheit jedoch erst einmal erlangt, können mir Etikette und Netiquette im besten Sinne gleichgültig sein. Mehr noch: Ich kann sie als patriarchalen Machtmechanismus entlarven, dessen einziger Sinn und Zweck Distinktion ist: Die, die nicht dazugehören, sollen sich falsch und lächerlich fühlen." In unserem Buchladen Eichendorff21 haben wir vor kurzem eine Liste mit "klassenquerer" Literatur zusammengestellt.
Religion
Medien
In der New York Times musste jüngst ein Meinungsredakteur gehen, weil ein Politiker den Einsatz von Militär gegen Demonstranten forderte (unsere Resümees). Nun findet sich auf den Seiten der Zeitung wieder ein Kommentar, der Empörung auslöst. Titel: "Hongkong is China, Like It or Not". Autorin: Regina Ip, eine Abgeordnete aus dem gleichgeschalteten Hongkong.
Darauf gabs diese Reaktion von Joshua Benton:
The Sudetenland Is Germany, Like It or Nothttps://t.co/9FGMQyUCi5
- Joshua Benton (@jbenton) October 2, 2020
Benton ist auch sonst zu pointierten Verknappungen fähig. Seinen jüngsten Artikel über Google und die Medien betitelt er bei niemanlab.org so: "Google is giving $1 billion to news publishers - to help convince governments not to take a whole lot more than that."