Im Kino

Monströser Querschläger

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Lukas Foerster
09.03.2016. László Nemes' Holocaustfilm "Son of Saul" strebt trotz der behaupteten radikalen Subjektivität in die Richtung einer hochästhetisch verdichteten "grand récit" von Auschwitz. Jay Roach beschreibt in "Trumbo" das antikommunistische "blacklisting" als Privatvergnügen einer Society-Reporterin.


Vom Bild zum Zeugnis: Schemenhaft und unscharf sind die ersten Sekunden von "Son of Saul". Am linken Bildrand, eher erahnt als tatsächlich zu sehen, scheinen zwei Personen in einer baumbewachsenen Umgebung in der Erde zu graben. Es dauert, bis sich eine Figur im Hintergrund abzeichnet, schließlich nach vorne und damit in den Fokus tritt. Der Mann heißt, das erfahren wir viel später, Saul Ausländer. Am Tor eines nationalsozialistischen Vernichtungslagers empfängt er als Mitglied des "Sonderkommandos" während der nächsten Minuten einen Transport Deportierter, deren Weg direkt in die Gaskammern führt. Im Gesicht Sauls, das den ihn umgebenden Horror betrachtet, aber kaum spiegelt, hat sich der Film ins Klare gesetzt, seinen Modus gefunden. Die Kamera wird es für rund zwei Stunden nicht mehr verlassen.
 
Der ungarische Regisseur László Nemes hat mit seinem ersten Langfilm eine Art monströsen Querschläger im Diskurs um die Darstellbarkeit des industriellen Massenmords an den europäischen Juden vorgelegt - und reüssiert innerhalb dieser Diskussion dennoch, als sei ausgerechnet "Son of Saul" ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Wichtiger als die nahezu maximale Preisausbeute des Films zwischen Cannes, Golden Globes und Oscars scheint dabei die Bewunderung, auf die sich selbst jene Protagonisten des Diskurses einigen können, die einander sonst kaum über den Weg trauen: Von Claude Lanzmann über den Kunsttheoretiker Georges Didi-Huberman bis hin zu Steven Spielberg. Sie alle loben in schwindelerregender Einmütigkeit eine Arbeit, die augenscheinlich zu tun wagt, was bisher für einen Spielfilm tabuisiert war: Die Hölle von Auschwitz aus der enggefassten Binnen-, das heißt: der Opferperspektive zu zeigen, und dabei nicht von der Ausnahme des Überlebens, sondern der Normalität bürokratisch organisierten Sterbens und Mordens zu berichten.
 


Weil aber László Nemes nicht von allen guten Geistern verlassen ist, bedient sich sein Film eines ästhetischen Kniffs, bestehend in der geschickten Simulation äußerster Subjektivität: Die Kamera in "Son of Saul" haftet förmlich am titelgebenden Protagonisten, sie wird allein durch ihn zu den unzähligen Gräueln und nicht selten auch gezielt an diesen vorbei geführt. Dabei ist es keinesfalls ein Gestaltungsdetail, dass Saul (Geza Rohrig) Mitglied des Sonderkommandos ist. Also einer jener Häftlinge, die von der SS gezwungen wurden, die Kleidung und den persönlichen Besitz der Deportierten einzusammeln, die Leichen nach der Ermordung aus den Gaskammern zu entfernen und ihre Verbrennung in den Öfen der Krematorien vorzunehmen. Primo Levi nannte die Erfindung der Sonderkommandos das "dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus". Wegen dieser herausgehobenen Stellung, die es ihnen ermöglichte, die geheime Funktionsweise der Vernichtungsmaschinerie aus nächster Nähe zu betrachten, gehören die wenigen Überlebenden der Sonderkommandos zu den wichtigsten Zeugen der Shoah.
 
Für Nemes' Film ist die Setzung von Saul als Sonderkommando-Häftling der Dreh- und Angelpunkt einer ebenso atemberaubenden wie zu weiten Teilen äußerst fragwürdigen Strategie. Einerseits versucht "Son of Saul" durch die ästhetische Fokussierung auf das Erleben einer Individualperson den Vorwurf abzuwehren, er strebe eine objektivierte Darstellung des Undarstellbaren an. Andererseits re-installiert Nemes die allwissende Erzählperspektive gerade durch Sauls Sonderkommando-Rolle: Der in seiner Bewegungsfreiheit im Lager beinahe uneingeschränkte "Geheimnisträger" legt die Herzkammern der menschengemachten Hölle von Auschwitz frei und die Nachgeborenen sollen so nah dran sein, wie nie zuvor. Saul führt die Kamera wie einen stummen Besucher durch die Todesfabrik. Die Ankunft der Deportierten im Lager, das Entkleiden und die Ermordung in den Gaskammern, das Verbrennen der Leichen, die Zermalmung der Knochen und die Entsorgung der Asche in einem Fluss: Saul sieht alles und wir sehen es mit ihm. Zusammenmontiert und abgespult in 107 schlanken, dauerbewegten Filmminuten.
 
Man könnte es dabei belassen, die hieraus resultierende und an alle modernen Sehgewohnheiten des Immersiven angepasste Auschwitz-Geisterbahn geschmacklos zu finden. Auch darf man sich wundern, wie oft entgegen der häufig zu lesenden Behauptung, der Film lasse das eigentliche Grauen zumeist am Bildrand ins Ungefähre verschwimmen, doch in aller Klarheit herkömmliche Schauspiel- und Dekorationsleistungen ausgestellt werden: Noch zuckende Schauspielerkörper auf den Bahren der Öfen, nackte Schauspieler beim Gang in die von Set-Designern akribisch nachgebauten Gaskammern, als "Juden" und "Nazis" verkleidete Schauspieler, die am Rande der Verbrennungsgruben Erschießungen simulieren. Aber die spezifische Ontologie dieser Bilder, das Verhältnis von Abbildung und Abgebildetem, steht im Einzelfall auf einem eigenen Blatt. Entscheidender ist der Absichtshorizont der Selbstauthentisierung, innerhalb dessen "Son of Saul" operiert.
 


Denn Nemes scheint mit staunenswerter Virtuosität die Aufhebung der individuellen Zeugnisse erster Ordnung in einer als authentisch ausgegebenen Metaerzählung anzustreben. Dazu gehört neben der 360-Grad-Perspektive auf das Lager, die Saul vermittelt, auch eine rege Implementation von Schlüsseldokumenten der Shoah-Zeugenschaft: "Kein Trinkwasser!", ein bloß sekundenkurzer Ausruf in der brillant montierten Tonspur rekurriert in der Nähe der Viehwaggons auf eine berühmte Passage in Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen". Die Erstellung von vier Fotografien durch Sonderkommando-Häftlinge vom August 1944, die Georges Didi-Huberman in seinem Buch "Bilder trotz allem" analysiert hat, wird aufwändig rekonstruiert. Und selbst das Schemenhafte der Anfangsszene erfährt nachträglich eine diskursive Einsortierung: Vergraben werden hier offenbar die "Rollen von Auschwitz", also jene gezielt für die Nachwelt bestimmten Notizen von Mitgliedern des Sonderkommandos. Auch die schmale Rahmenhandlung des Films, die Saul für die Bestattung eines ermordeten Jungen, den er als seinen Sohn ausgibt, einen Rabbiner suchen lässt, authentisiert sich als Referenz an die von den Zeugen geleistete Reflexion über Schuld und Menschlichkeitswahrung.
 
Alles strebt in die Richtung einer hochästhetisch verdichteten "grand récit" von Auschwitz, eines emphatischen So-ist-es-gewesen. Kein Zufall scheint schließlich, dass das Lager nicht benannt, der (anzunehmende) Name Auschwitz nicht geführt wird. Denn "Son of Saul" will nicht vom geschichtlichen Ort Auschwitz handeln, sondern von "Auschwitz" als Begriff, als Chiffre für das Verbrechen an sich. Damit aber unterläuft Nemes entweder permanent seine eigene, als radikal subjektiv gesetzte Ausgangsästhetik. Oder er hat schlicht ein fürchterlich ahistorisches Holocaust-Mashup gedreht, das sich nicht weniger herausnimmt, als das heterogene Erinnerungsgeflecht der Zeugenstimmen zu homogenisieren, es servierfertig zu machen für die Klassenzimmer und die Education-Programme von Gedenkstätten und Museen. Vielleicht ist "Son of Saul" darin unverkennbar ein Film unserer Zeit.

Janis El-Bira

Son of Saul - Ungarn 2015 - Originaltite: Saul fia - Regie: László Nemes - Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Tocc Chamont, Jerzy Walczak, Gergö Farkas - Laufzeit: 107 Minuten.

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Jay Roach war lange ein Komödienspezialist, mit den Austin-Powers- und den Fokkers-Farcen feierte er große Erfolge. Sein aktueller Film "Trumbo" allerdings schließt, dem Mitwirken einiger hochbegabter Comedians wie Louis C.K. und John Goodman zum Trotz, eher an eine andere Linie im Werk an: In den Dokufiktionen "Recount" und "Game Change" hatte der Regisseur Episoden der US-Präsidentschaftswahlen 2000 beziehungsweise 2008 verarbeitet. Jetzt blickt er etwas weiter zurück. "Trumbo" ist ein geradliniges und weitgehend uninspiriertes Bio-Pic, das entlang der Leidensgeschichte seiner Hauptfigur eine historische Engführung von Politik und Ästhetik aufrollt: Das "blacklisting" linksradikaler Umtriebe verdächtigter Filmschaffenden, das in den 1950er Jahren im Zuge der Kommunistenparanoia des frühen Kalten Kriegs zahlreiche Existenzen zerstörte und ideologische Gräben sichtbar werden ließ, die teilweise bis heute nicht geschlossen sind.

Die Probleme des Films beginnen schon mit dem Fokus auf Dalton Trumbo - dargestellt von Bryan Cranston, der einen der theatralischeren Kinoschnurrbärte der letzten Jahre durch den Film trägt und der seine Rolle als eine eher niedliche Variation auf den Drogendealer Walter White in "Breaking Bad" anlegt. Der Schriftsteller und Drehbuchautor ist zwar zweifellos das prominenteste Opfer der blacklist, gleichzeitig aber auch einer von sehr wenigen unter den damals Verfemten, die ihre Karriere nach und (das steht im Mittelpunkt des Films) teilweise sogar während der blacklisting-Periode mit halbwegs vollem Schwung fortsetzen konnten, und die außerdem in der Gegenwart soliden Nachruhm genießen.

Das dramatische Potential des Films, für den sich der Regisseur Jay Roach entschieden hat, leidet unter dieser perspektivischen Verengung: Trumbo hat selbst während seines kurzen Gefängnisaufenthalts stets eine all-american-Musterfamilie im Rücken, die ausschaut wie aus der Orangensaftwerbung entsprungen (überhaupt sehr teakfarben, der Film...). Die irgendwann, damit hat sich die Fallhöhe bereits erschöpft, von einer weit ausladenden kalifornischen Ranch in ein immer noch geräumiges Stadthaus umziehen muss. Ein wenig Medikamentenmißbrauch, ein Hauch von Ehekrise, zwei, drei schöne Szenen mit der widerspenstigen Tochter (Elle Fanning) - damit ist Trumbos Privatleben auch schon auserzählt. (Das mag ein leicht zynisches Argument sein, denn selbstverständlich war Trumbos Schicksal schlimm genug, seine Existenzängste real; allerdings hatte ich beim Sehen doch den Eindruck, dass hinter fast jeder Plotabzweigung, die Roach nicht nimmt, ein weitaus interessanterer Film lauert.)



Und das Berufsleben? Trumbo heuert, nachdem sich die Studiotüren hinter ihm geschlossen haben, bei einem von Goodman mit viel Herzblut verkörperten B-Movie-Produzenten an, dem Ideologie gestohlen bleiben kann, solange nur "the money and the pussy" stimmen. Und der die selbsterklärten Patrioten zur Not mit dem Baseballschläger aus seinem Büro vertreibt. Glaubt man dem Film, war die blacklist im Großen und Ganzen ohnehin nur das schrullige Privatvergnügen der antikommunistischen, antisemitischen und wer weiß vielleicht auch frigiden Society-Kolumnistin Hedda Hopper (aufdringlich: Helen Mirren), die den jüdischen Studio-Magnaten ihren eigenen Misserfolg als Schauspielerin heimzahlen wollte. Die Beteiligung von heute noch klingenden Namen wie Disney oder auch nur deMille und Kazan an der Hetzjagd wird strategisch ausgespart. Eigentlich ist das eine noch abstrusere Konstruktion als in dem Coen-Brüder-Film Hail, Caesar!, der die Geschichte der blacklist jüngst in einem ebenfalls nicht überzeugende, aber wenigstens halbwegs lustvoll drauflos fabuliernde Räuberpistole übersetzte.

Wenn "Trumbo" zwischendurch doch ein wenig Spaß macht, dann als eine Retro-Showbiz-Nummernrevue, deren hier von Peter Bowen zusammengefasste Produktionsgeschichte um einiges spannender ist als der Film selbst. Denn natürlich ist das "as it actually happened", auf das Filme wie dieser stets zielen, ein genau kalkulierter Effekt, und die audiovisuelle Ingenieurskunst, die ihn herstellt, bewundernswert. Die Stars Humphrey Bogart und Lauren Bacall sowie der Politiker Richard Nixon tauchen nur auf historischem Archivmaterial auf; die Schauspieler Kirk Douglas und John Wayne, der Regisseur Otto Preminger und natürlich Trumbo selbst werden dagegen von Schauspielern verkörpert; einmal integriert Roach eine Originalszene des Films "Roman Holiday", die Szene aus dem Film "Spartacus" allerdings, die ebenfalls in "Trumbo" auftaucht, ist aus alten und neu aufgenommenen Elementen amalgamiert; und der John-Wayne-Film "Gung Ho", den die Kommis im Gefängnis zu sehen bekommen, hat historisch genauso wenig existiert wie einige Newsreels, die zwischendurch Zeitkolorit hinzufügen sollen und die vom Filmteam zuerst aus disparatem Material montiert und dann mithilfe von Bildbearbeitungstechniken zwangsgealtert wurden.

Freilich: Wenn man sich schon derart neugierig und ohne bei einem solchen Gegenstand grundfalsche Authentizitätsskrupel in den Steinbruch der Populärkultur begibt, dann sollte eigentlich fast automatisch etwas interessanteres herauskommen, als eine Verfilmung des Wikipediaartikels "Hollywood blacklist". Aber genau so wirkt der Film: Wie eine schwarmintelligenznivellierte, im Großen glattgebügelte, in Detailfragen allerdings ziemlich ungenaue (das teilt wiederum der Wikipedia-Artikel zu "Trumbo" mit: Edward G. Robinson hat keineswegs, wie von Roach dargestellt, vor dem HUAC "Namen genannt") Nacherzählung einer natürlich trotzdem faszinierenden Episode der amerikanischen Film- und Sozialgeschichte.

Lukas Foerster

Trumbo - USA 2015 - Regie: Jay Roach - Darsteller: Bryan Cranston, Diane Lane, John Goodman, Louis C.K., Elle Fanning, Helen Mirren, David James Elliott - Laufzeit: 124 Minuten.