30.08.2005. Wozu Wahlen führen können, wie ein Engel in den Schrank kommt und was der 25. Klon denkt: alles und mehr in den besten Büchern des Monats, die der Perlentaucher nach unzähligen Wahlgängen ermittelt hat.
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Frankfurter Buchmesse.
Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Larmoyanter Klon
Michel Houellebecqs neuer Roman
"Die Möglichkeit einer Insel" () ist unbestritten das
literarische Großereignis des Monats. Innerhalb von vier Tagen (!) haben es alle Zeitungen besprochen, und alle erkennen schon in den ersten Zeilen den typischen Stil des skandalerprobten Autors. Die
SZ vermisst im Lebensekel des
25-mal geklonten Protagonisten Daniel allerdings die verzweifelte Wut von früher. Die
FR kann dem "Pseudo-Porno" nichts abgewinnen, während die
taz eben an den "
naturalistisch-sexistisch-abenteuerlichen Szenarien" ihre Freude hat. Houellebecq ist gar kein Provokateur, sondern ein unheilbarer Romantiker, stellt dagegen die
FAZ mit einer ungewohnten Milde klar, ein Romantiker, der die schleichende
Abschaffung des Menschen und die Unvermeidlichkeit des Alterns beklagt.
Antisemitisches Amerika"Atemberaubend eindrücklich", applaudiert die
FR lautstark, während die
Zeit sich still vor
Philip Roths "verehrungswürdiger Erzählkunst" verbeugt. 1940 erringt der Fliegerheld und Nazi-Sympathisant
Charles Lindbergh einen erdrutschartigen Wahlsieg gegen Franklin D. Roosevelt und wird Präsident der USA, die sich in den beiden folgenden Jahren zur
antisemitisch geprägten Diktatur wandelt. Die
"Verschwörung gegen Amerika" ist Roths "wohl bedeutendster politischer Roman", raunt die
taz. Die autobiografischen Elemente, die Roth in den achtjährigen Erzähler, ein jüdischer Junge gleichen Namens, einfließen lässt, sorgen für Bodenhaftung inmitten der
kühnen historischen Fiktion. Dass am Ende aber mit der Flucht Lindberghs alles wieder in bekannte Bahnen gelenkt wird, finden alle Rezensenten enttäuschend, die
FR spricht mit der aufrichtigen Empörung eines um einen guten Schluss betrogenen Lesers gar von einem "
abstrusen" Einfall.
Fußläufige Beobachtungen Wie in Trance versinkt die
FR in den Aufzeichungen
Peter Handkes, die er während seiner Wanderjahre zwischen 1987 und 1990 gemacht hat, in denen er keinen festen Wohnsitz hatte und vor allem zu Fuß quer durch
Europa, Ägypten oder Japan reiste. Mit der Bewunderung für
"Gestern unterwegs" ist die
FR nicht allein. Die
Zeit erfährt mit dem Pilger Handke eine
willkommene Verlangsamung und findet ein "Auge für das Unscheinbare und Schöne". Die
SZ berichtet ein wenig erleichtert, dass Handke alles außen vor lasse, was der
Poetisierung des Alltags im Wege steht: die eigene Person, die Gegenwartsliteratur und glücklicherweise auch die Politik. Dadurch kommt die "
ganze Kunst des Schriftstellers Peter Handke" ungetrübt zum Vorschein.
Die Leidenschaft der Achtziger"Als hätten
Bob Dylan und
The Clash zusammen einen Song geschrieben." Leidenschaftlich, wuchtig, ökologisch korrekt:
Jonathan Franzens schon 1992 in den USA erschienener Roman
"Schweres Beben" ist ein beeindruckendes Produkt der Achtziger, staunt die
taz. Sind die unerklärlichen Beben um Boston die Folge
ungezügelter Abwasserentsorgung? Auf 685 Seiten werden in einem großen Bogen von der Ausrottung der Ureinwohner bis zu den Machenschaften der Chemiekonzerne alle
Untaten des amerikanischen Establishments abgehandelt, was der
Zeit bisweilen zu komplex ist, die
SZ aber als genau beobachtetes Abbild der Wirklichkeit feiert.
Engel im SchrankWie jedes gute Buch ist
Cees Nootebooms "Paradies veloren" kurz, lobt die
Zeit (immerhin 159 Seiten). Die Szene, wie eine als Engel verkleidete Frau
in einem Schrank in Perth auf ihre Entdeckung wartet, wird ihr immer im Gedächtnis bleiben. Das bleibt aber gottlob nicht das einzige Kompliment der Kritiker an die Geschichte der beiden brasilianischen Freundinnen
Alma und Almut, die sich nach Australien aufmachen, um Traumata zu überwinden und Träumen nachzugehen. Die
FR vermutet hier ein Alterswerk und verortet Nooteboom
auf der Höhe seines Könnens. Befriedigt notiert sie, dass der niederländische Schriftsteller nicht moralisiert, sondern einfach nur beschreibt, "listig, immer sanft ironisch". Und die
NZZ gibt sich ganz und gar dem erfrischenden Wechsel von "
schwereloser Heiterkeit" und "großem Ernst" hin.
Die Jäger des verlorenen Buchs Schon im März hat die
SZ den "ebenso spannenden wie
schrägen Philologenkrimi"
"Die Blender" des Kolumbianers
Santiago Gamboa entdeckt, die restlichen Zeitungen zogen erst vor kurzem nach. Ein Schriftsteller, ein Journalist und ein Sinologe treffen in Peking aufeinander; alle drei sind auf der Suche nach der mysteriösen Gründungsschrift der
Boxer-Sekte. Der
NZZ gefallen die beklemmenden Schilderungen des heutigen Peking, die
FR lobt, wie Gamboa unter der Oberfläche eines schmissigen Philologen-Krimis existenzielle Fragen verhandelt. Nur der
FAZ ist das Geflecht aus Spionage, Verwechslungen und Verfolgungswahn zu
comichaft überzeichnet.
Di Fabios Reden an die NationEs rappelt im Karton! Die Aufforderung
Udo di Fabios, zu traditionellen Werten wie Verantwortungsbewusstsein und
Kinderliebe zurückzukehren, spaltet die Kritikergemeinde. Während die
SZ die
"Kultur der Freiheit" des Verfassungsrichters ob der libertären und religiösen Thesen fassungslos zurück lässt, verortet die
FAZ diese "nationalpädagogische Streitschrift mit
erkenntnistheoretischem Ehrgeiz" in der besten Tradition von Fichtes "Reden an die deutsche Nation". Die
taz sieht in di Fabio einen
kulturkritischen Romantiker mit immerhin flotter Schreibe, und die
FR freut sich ganz ungeniert über die Erschütterungen, die das Buch in unserer "
freudlosen Republik" seit seines Erscheinens auslöst.
Zweitausend Jahre MarketingerfahrungBruno Ballardini ist kein verbitterter Exkatholik, der Verschwörungstheorien über die katholische Kirche verbreitet, versichert die
taz. Vielmehr stellt
"Jesus wäscht weißer" anschaulich und amüsant die Marketingstrategien des
ältesten multinationalen Unternehmens der Welt vor. Von der Erzeugung des Schuldgefühls bei den potenziellen Kunden bis hin zum "ziemlich geschmacklosen" Trademark des Kreuzes: Ballardini erläutere "sinnesfroh", warum
Gott und Coca-Cola in mancherlei Hinsicht nicht allzuweit voneinander entfernt sind.
Die RücksichtsloseEine "
wunderbare Buchgeburt" kann die
FR mit
Friederike Mayröckers "Und ich schüttelte einen Liebling" () anzeigen. Neun Monate hat die Lyrikerin aufgeschrieben, was sie erlebt und gedacht hat. Dabei ist kein Tagebuch entstanden, sondern dank "
künstlerischer Rücksichtslosigkeit" ein Blick auf den Kern des Menschlichen. Stilistisch wie emotional ein "Höhe- und Tiefpunkt" des Mayröckerschen Werks, in dem ihre Technik des figuralen Schreibens in unbekannte Extreme vordringt. Die
eigenwillige Interpunktion, die abrupten Themenwechsel oder die ungeordnete Abfolge von Lyrik und Prosa stört sie nicht, versinnbildlicht es doch in vollendeter Weise das vielfältige und chaotische
Wesen des Menschlichen überhaupt".
Sonnenbrillen und Scheinehen"
Deutsch-türkische Post-Pop-Literatur", ein langes Wort für ein so rasantes Buch! Wohltuend bedeutungsleicht und gut geschrieben kommen
Imran Ayatas Geschichten über die Jugendlichen der türkischen "Parallelgesellschaft" in Deutschland daher, vermerkt die
FR. Im
"Hürriyet Love Express" geht es um
Liebe, Sex und Sonnenbrillen, aber auch um klischeeträchtige Sujets wie die Scheinehe, die Ayata aber erfrischend "unverkrampft" handhabt Die einzelnen Texte sind nicht immer rund, bemerkt die
taz. Genau das aber komme dem
fragmentierten Bewusstsein der türkischstämmigen deutschen Jugendlichen recht nahe. Ein Buch über das Leben in all seinen Facetten eben.