Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
08.08.2005. Widmann lässt sich von einem kleinen Erzählband von Rabindranath Tagore anfixen, widerspricht Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, erliegt dem Dichter Henry Luque Munoz, staunt über die Lieblingstugend von Karl Marx und verliert die Lust bei Candace Bushnell.
Kitschfrei tränentreibend

Wer in der Buchhandlung zu dem kleinen, sehr schönen Band greift, der unter dem Titel "Der Mann aus Kabul" verspricht, drei Erzählungen von Rabindranath Tagore zu offerieren, der wird getäuscht, aber ganz sicher nicht enttäuscht werden. Es handelt sich in Wahrheit um die Erzählung des bengalischen Nobelpreisträgers "Der Postmeister", um die Titelgeschichte und um die zwei ersten Teile des Kurzromans "Quartett". Der angefixte Kunde wird hungern nach der Fortsetzung und sich - so hofft der Verlag - die demnächst erscheinende einbändige Ausgabe von Lyrik, Prosa und Dramen Tagores kaufen, in der das Quartett vollständig zu finden sein wird.

"Der Mann aus Kabul" ist eine Geschichte, die vom ewigen Thema "Das Mädchen und der Fremde" handelt. Eine wunderbar heikle, doppelbödige Erzählung, bei der wir uns unentwegt bei bösen Gedanken erwischen, die uns doch an keiner Stelle der Wirklichkeit näher bringen. Der Schluss ist - ganz kitschfrei - Tränen treibend ergreifend. Wir werden die Gesammelten Werke lesen, um Tagore wieder zu entdecken, der uns offenbar hinter seinem langen weißen Bart und dem gütigen Lächeln, aus den Augen gekommen ist. Es wird eine Freude sein, ihm zu folgen durch die Klarheit seiner Perioden. Hans Harder hat Tagore aus dem Bengalischen neu übersetzt. Da kommen dann so schöne Sätze heraus wie der letzte der Erzählung "Der Postmeister": "Man kommt zu Bewusstsein und sehnt sich sogleich danach, der nächsten Enttäuschung anheimzufallen."

Rabindranath Tagore: "Der Mann aus Kabul. Drei Erzählungen." Ein Lesebuch zu den Gesammelten Werken, Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2005, 64 Seiten, 5 Euro. ISBN 3491904889.


Monologe

Der Cheftheoretiker des kommunikativen Handelns, Jürgen Habermas, und der Vorsitzende der katholischen Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, saßen am 19. Januar 2004 auf einem Podium der Katholischen Akademie Bayern in München und sprachen über "Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates". In der Presse war anschließend von einem "Gespräch", von einem "Dialog" die Rede. Auch im Vorwort des dieses Ereignis dokumentierenden Bandes spricht der Herausgeber Florian Schuller, Chef der Katholischen Akademie Bayern, von "Gespräch" und "Dialog". Es mag damals in München dazu gekommen sein. Zu lesen gibt es jetzt kein Gespräch, keinen Dialog, sondern zwei Vorträge. Direktor Schuller findet sie spannend, aber ganz sicher hätte auch er einen Dialog spannender gefunden. Schon um zu sehen, wie einer, dessen Aufgabe es ist, die Wahrheit, die einzig mögliche Wahrheit, zu vertreten, debattieren kann mit jemandem, dem sich die Wahrheit, so wird er jedenfalls nicht müde zu schreiben, erst erschließt in der Auseinandersetzungen mit den vielen Wahrheiten. Die "Anschlussfähigkeit" eines professionellen Dogmatikers wäre zu vergleichen gewesen mit der des Dogmatikers der Anschlussfähigkeit.

Dieses Vergnügen bietet uns das kleine Büchlein nicht. Dafür findet sich allerhand Rührendes. Habermas zum Beispiel schreibt: "Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen." Gegen wendet sich Habermas? Gibt es jemanden, der gefordert hat, gläubigen Christen den Mund zu verbieten? Wen oder was meint Habermas? Was heißt "Rolle als Staatsbürger"? Ist es nicht schon demokratietheoretisch äußerst fragwürdig im Falle des Staatsbürgers von einer "Rolle" zu sprechen? Und erst in der Praxis: Äußert sich ein Professor in einer Tageszeitung zu einem aktuellen politischen Problem in seiner "Rolle als Staatsbürger"? Tut er das nicht, wenn er dasselbe am Stammtisch sagt? Wann bin ich Staatsbürger, wann nicht? Redet Habermas in der Akademie als Staatsbürger oder als Wissenschaftler? Religiösen Weltbildern darf man nicht grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen? Was ist Wahrheit? Wenn sie etwas mit Forschung, mit Analyse und Untersuchung zu tun hat, dann muss man religiösen Weltbildern, sicher nicht in jedem Detail, aber doch grundsätzlich ein "Wahrheitspotential" - was ist das? - absprechen. "Wahrheitspotential" sagt doch nur: Wir müssen, wenn wir mit jemandem sprechen, davon ausgehen, dass er die Wahrheit sagen könnte. Das ist in jedem Fall vernünftig.

Vorausgesetzt man hat sehr viel Zeit. Wenn man freilich hört, das Gegenüber vertritt allen Ernstes die Auffassung, vor zweitausend Jahren habe in einem kleinen Ort im Nahen Osten eine Jungfrau - unter dem Jubel von den Himmel bevölkernden Engeln - ein Kind geboren, dann wird man - es sei denn man hat im Augenblick nichts Interessanteres zu tun - abwinken und nicht mehr lange über ein mögliches "Wahrheitspotential" dieser Auffassung nachdenken. Es sei denn, man ist in einem christlichen Milieu aufgewachsen, dann nimmt man derartige Äußerungen als das Natürlichste von der Welt, wie Regen oder Schnee. Sowie aber jemand kommt und behauptet am 18. Juni 1929 sei in Düsseldorf der Erlöser geboren worden, wird auch Habermas dem Vertreter dieser Religion das Wahrheitspotential absprechen.

Der Witz beim religiösen Weltbild ist nicht, dass es die Vernunft bezweifelt und daran erinnert, dass hinter dem Wenigen, das wir wissen, noch ganz und großartig Anderes zu vermuten ist. Das wäre kein Bild, sondern eine black box. Das religiöse Weltbild weiß oder behauptet zu wissen. Es behauptet nicht nur zu wissen, dass es einen Gott gibt, sondern auch zu wissen, was er will, was er mag, was ihm missfällt. Hätte Jürgen Habermas sich die Mühe gemacht, das Wahrheitspotential in einigen der seit Jahrtausenden herrlich ausgepinselten Ansichten vom al di la des Katholizismus - zum Beispiel bei der Jungfrauengeburt, bei der Schöpfungsgeschichte oder beim Jüngsten Gericht - uns plausibel zu machen, er hätte unsere Bewunderung, oder wir wüssten doch wenigstens, was er sich vorstellt, wenn er vom Wahrheitspotential religiöser Weltbilder spricht.

Man darf, meint Habermas, auch religiösen "Mitbürgern nicht das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen". Mir ist nicht ein Fall bekannt, in dem jemand Redeverbot bekam, weil er in "religiöser Sprache" sich äußerte. Aber, was heißt "religiöse Sprache"? Und was heißt, "das Recht bestreiten"? Ist "das ist der Wille Gottes" religiöse Sprache? Ich habe das oft gehört. Damit sollten Diskussionen abgebrochen, beendet werden. Die Pastoren, die so sprechen, haben alles Recht der Welt so zu reden. Nur dürfen sie von mir nicht verlangen, das als ein Argument zu akzeptieren. Ich habe, die Öffentlichkeit hat, das Recht, das zu hinterfragen. Sie hat sogar die Pflicht dazu. Habermas' Ausführungen sind fast so unklar wie die des damaligen Kardinals und heutigen Papstes. Dabei hat niemand Habermas gezwungen, zwei Herren zu dienen.

Herr Ratzinger ist in dieser Disziplin seit Jahrzehnten im Training. Seine Aufgabe war, die Lehre rein zu halten. Also alles zu verdrängen, zu bannen und zu ächten, was ihr widersprach oder ihr - zu Ende gedacht - doch hätte widersprechen können. Das ist eine niemals endende Arbeit. Die Anfechtungen sind riesig. Sie kommen vom Gefühl und vom Verstand. Wer nicht an die Jungfräulichkeit der Maria glaubt, liegt verkehrt, wer aber an sie glaubt, statt an den dreieinigen Gott, der ist auch zu verdammen. Es ist eine Welt, die nur aus Fallstricken besteht, und jeder käme darin zu Fall. Da ist es schon besser, man bestimmt selbst, wie die Strippen zu ziehen sind. Wer die jüngsten Eskapaden des Wiener Kardinals Christoph Schönborn in Sachen Evolutionstheorie für dessen Steckenpferd hielt (mehr hier und hier), der wird nach einem Blick in Ratzingers Rede eines Besseren belehrt: "Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt."

Man versteht diese Sätze Ratzingers nicht, wenn man nicht begreift, dass er gerade nicht die Vernunft als etwas Natürliches sehen möchte - das wäre die Sicht eines Evolutionisten -, sondern vielmehr die Natur als etwas der Vernunft, die er in eins setzt mit seinem Gott, Gehorchendes, ihr Unterworfenes oder doch zu Unterwerfendes betrachtet. Darüber zu streiten, macht freilich keinen Spaß, weil der Kardinal an keiner Stelle seiner Ausführungen - er ist dem deutschen Soziologiepapst da nicht unähnlich - sich in die Niederungen überprüfbarer Ansichten begibt. Besonders erheiternd ist diese über alles mehr verfügende als sich mit ihm auseinandersetzende Sicht auf die Welt, wenn Kardinal Ratzinger das Weltethos-Projekt seines einstigen Kollegen Küng mit der Begründung ablehnt, die "kulturellen Kontexte" seien zu unterschiedlich als dass die Menschheit sich darauf einigen könnte. Die eine allumfassende, die katholische Kirche - mit ihrem 824seitigen Katechismus - soll möglich sein, der Einigung darüber aber, dass man einander nicht umbringt, der stehen die Unterschiede der Kulturen im Wege!

Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger: "Dialektik der Säkularisierung - Über Vernunft und Religion". Mit einem Vorwort herausgegeben von Florian Schuller. Herder Verlag, Freiburg 2005. 64 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 3451288699.


Kompass

In manchen Büchern blättert man ahnungslos und plötzlich schlagen sie zu. Man ist mit einem Male wehrlos vor Begeisterung. So ging es mir bei diesem Gedicht: "Kompass Vom Grund des Ozeans / Nach der Stärkung durch die Transparenz / Der nachtwandlerischen Wurzeln, / Nach der Umarmung des Steinhorns / Und dem Klopfen an der Tür der versunkenen Götter, / Sobald die Sonne auf Befehl des Windes strandet, / Ohne im Schädel / Die Sanftheit des himmlischen Bildes zu verlieren, Auch nicht die in den Mulden erblühte Orchidee / Mit ihrem Kompassinstinkt, / Während sie das Wasser schneidet wie eine Papaya und / Fingernagel an Fingernagel ihr Wort geschrieben steht, / Wird der Ertrunkene wiederkehren / Vor unseren furchtlosen Augen."

Wie heißt der Dichter? Henry Luque Munoz. Er wurde 1944 in Bogota in Kolumbien geboren. Am 1. März dieses Jahres starb er. Ich war erschrocken. Kaum lerne ich einen Autor kennen, ist er tot. Eine blödsinnige Empfindung. Aber ich hatte mich so sehr identifiziert mit diesen furchtlosen Augen, die das Geheimnis betrachten und selbst im Schrecklichen das Schöne erkennen, dass es für den winzigen Bruchteil einer Sekunde so war als erführe ich meinen eigenen Tod als ich von dem des Dichters erfuhr. Diese Verse hatten mich empfindlich gemacht, eine Lauge, in der ich eingeweicht worden war. Die schützende Hornhaut war abgefallen. Nun war ich wehrlos. Ich erkannte die Liebe: "Ich wollte andere Welten entdecken / Und baute eine Karavelle. / Nach langen Jahren kehrte ich, / Wie Marco Polo, zu meinen Ursprüngen zurück. / Daheim lief ich an einem grünen Sandstrand ein. / Da befand sich das Land, das ich suchte. / Da lag dein Körper, / Gebadet in den Gewässern des Traums."

Und zum Abschied noch einmal das erste Gedicht. Diesmal auf Spanisch: "Brujula Desde el fondo del oceano / Luego de nutrirse de la transparencia / De las raices sonambulas / Despues de abrazar el cuerno de la piedra / Y llamar a la puerta de los dioses sumergidos / Apenas el sol encalle por orden del viento / Sin perder en el craneo / La caricia de la imagen celeste / Ni la orquidea florecida en las cuencas / Con su instinto de brujula / Mientras corta el agua como a una papaya / Escrita ya una a una su palabra / Volvera el ahogado / Ante nuestros impavidos ojos."

Henry Luque Munoz: "Alchimist der Träume". Herausgegeben, ausgewählt und aus dem kolumbianischen Spanisch übersetzt von Juana und Tobias Burghardt, zweisprachig. Verlag im Wald, Rimbach 2005. 96 Seiten, 15 Euro. ISBN 3929208741.


Schilys Rosen und Dornen

Nun, da niemand mehr weiß, wer Karl Marx war oder gewesen sein soll, erscheinen die Lebensdokumente. Solange er auf einem Podest stand, interessierte nur, was ihn erhöhen oder erniedrigen konnte. Jetzt scheinen wir entspannt genug, um uns in Ruhe die Foto- und Fragebogen-Alben seiner Töchter Laura und Jenny anzusehen. Da niemand davon ausgeht, dass es eine massenhafte Nachfrage danach geben wird, erscheint der Band einigermaßen prachtvoll in aus der Mode gekommener Opulenz. Vom Foto-Album der Laura Marx sehen wir nicht nur die darin enthaltenen Aufnahmen, sondern auch den Einband und den weißen, völlig schmucklosen Inneneinband. Wir haben es mit einer kommentierten Faksimile-Edition zu tun. Die Initiative zu diesem Band ging aus von Izumi Omura an der Graduate School of Economics der Tohoku Universität Sendai. Die Ausgabe erscheint gleichzeitig in Tokio und Berlin. Für den großen Theoretiker der Globalisierung ist das das Mindeste, das man erwarten darf.

Laura Marx' Fotoalbum enthält 41 Aufnahmen von Familienmitgliedern und Freunden. Die einzigen Fremdkörper sind die Abbildungen von Hegel und Whiskey. Letzterer war der Haushund der Familie Marx, ersterer der Hausphilosoph des Hausherrn. Die Fotos sind alle akribisch erläutert, nicht nur, was Format, Datierung und den Fotografen, sondern auch, was den Dargestellten angeht. Das andere, von Jenny geführte Album, sammelte neben einigen Gästebuch-Eintragungen vor allem Fragebogen. Es war im Haus Marx ein beliebtes Gesellschaftsspiel, Familienmitglieder und Besucher Fragebogen ausfüllen zu lassen. Karl Marx zum Beispiel beantwortete die Frage nach seiner Lieblingstugend mit "Einfachheit". Darauf wären wohl nur die wenigsten seiner Leser gekommen. Man versteht die Fragebögen allerdings nicht, wenn man sie ganz Ernst nimmt. Sie wurden spielerisch und ironisch ausgefüllt und so müssen sie auch gelesen werden.

Bei den folgenden Fragen geht es wieder um die Lieblingstugend, aber diesmal nach Geschlechtern sortiert. Als seine Lieblingstugend bei einem Mann bezeichnet Marx "Stärke" und bei einer Frau "Schwäche". Das leicht Zotige daran, sollte auf keinen Fall überhört werden. Dass Marx im März 1865 den Weg von der Utopie zur Wissenschaft bereits gegangen war, wussten wir schon, aber dass er so ganz und gar unblochisch die Frage nach seiner Idee von Glück unbeantwortet lässt, das überrascht dann doch. Seine Ehefrau setzte "Gesundheit" an diese Stelle.

Der Fragebogen des Hundes wurde natürlich auch ausgefüllt und da steht dann: "Ein Spaziergang nach dem Essen". Der Marx-Freund und Otto-Ahn Victor Schily - er lebte nach seiner Flucht aus Deutschland als Anwalt in Paris - schrieb im Oktober 1862 in Jennys Album folgende Widmung: "Seid wie die Mutter, und sollt's Euch auch, wie ihr, mitunter Dornen bringen: Rosen bleibt ihr doch, und darum grad erst recht. Drum frisch voran, auf der Bahn der Rosen und - der Dornen; seid und bleibt die Freude und der Stolz, und der Trost der Eurigen, Gegenwärtiger und Zukünftiger. Per aspera ad astra!" Wenn man Marx' Brief an Engels glauben kann, dann handeln diese Zeilen an die 18jährige Jenny und die 16jährige Laura in erster Linie von Schily selbst: "Schily war hier während 8 Tagen, er sieht sehr elend und leidend aus." Leider ist in Lauras Fotoalbum keine Aufnahme von Victor Schily erhalten.

"Familie Marx privat - Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx' Töchtern Laura und Jenny". Herausgegeben von Izumi Omura, Valerij Fomicev, Rolf Hecker und Shun-ichi Kubo. Mit einem Essay von Iring Fetscher. Akademie-Verlag, Berlin 2005. 457 Seiten, 150 farbige Abbildungen, 69,80 Euro. ISBN 3050041188.


Ich habe kein Geld

Candace Bushnell ist die Autorin einer der erfolgreichsten Serien der Fernsehgeschichte der USA: "Sex and the City". Jetzt ist ihr neuestes Buch auf deutsch erschienen. "Raufschlafen" heißt es und es handelt von einer Heldin, die eben das sehr erfolgreich tut. Bushnell formuliert witzig, brillant. Aber ich konnte nicht einmal einhundert der 575 Seiten lesen. Es wäre interessant zu wissen, warum. Aber ich fürchte mich auch ein wenig, diesem Desinteresse auf den Grund zu gehen. Sicher, ich könnte sagen: Mich interessiert das Frauenzeitschriftenmilieu nicht. Oder: Ich mag keine Bücher, in denen Männer "ausschreiten mit dem Selbstvertrauen eines jungen Gottes". Selbst wenn diese Argumente stimmten, sie sind nicht die entscheidenden Gründe. Die Wahrheit ist: Ich mag keine Männer, die sind wie junge Götter. Ich ertrage nicht die Minderwertigkeitsgefühle, die sich einstellen, wenn man sich ausschließlich zwischen schicken und reichen, schönen und witzigen Menschen bewegt. Selbst wenn ich zwanzig Kilo weniger wöge, wäre ich immer noch der mit Abstand Fetteste und Unansehnlichste in diesem Personal.

Das stimmt nicht ganz. Männer wie ich kommen bei Bushnell vor. Aber sie sind reich oder wenigstens einflussreich. Wahrscheinlich habe ich das Buch nur deswegen nicht lesen können, weil Männer wie ich dauernd vorkommen. Sie werden mit einer Schärfe beobachtet, mit einer Genauigkeit beschrieben, die man lange suchen kann. Candace Bushnell weiß alles über uns: "Es kam ihr vor, als sei sie ihr ganzes Leben lang immer gezwungen gewesen, mit reichen Männern zu schlafen - um zu überleben - kleinen, dickbäuchigen Männern mit Glatzen und Haaren in den Ohren und Nagelpilzen auf den Zehen, Männern mit Zahnlücken und einem Pelz auf dem Rücken, Männern, deren Penis nie richtig steif wurde, kurzum Männern, mit denen keine Frau mit einem Minimum an Selbstachtung je Sex haben würde, es sei denn sie hatten Geld." Ich habe kein Geld.

Candace Bushnell: "Raufschlafen". Roman. Aus dem Englischen von Marlies Ruß. Ullstein Verlag, Berlin 2005, 575 Seiten, 14 Euro. ISBN 3548258719.