9punkt - Die Debattenrundschau

Derartige Triggerthemen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2024. Die antiisraelischen Studenten an den Unis in Europa und Amerika begnügen sich nicht mit ihren "From the River to the Sea"-Rufen, sie wollen, dass ihre Universitäten die Zusammenarbeit mit israelischen Unis einstellen - mehrere Artikel und 3sat-"Kulturzeit" thematisieren diese BDS-Forderungen. Das Trinity College in Dublin ist schon eingeknickt, berichtet die taz. In Harvard zirkuliert immerhin ein offener Brief von Professoren gegen einen solchen Boykott. In der FAZ kommt der Rechtsprofessor Jan Thiessen nochmal sehr kritisch auf den Berliner Dozentenaufruf zurück.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Die antiisraelischen Studenten in westlichen Universitäten begnügen sich nicht mit ihren "From the River to the Sea"-Rufen, sie haben auch handfeste Forderungen an ihre Unis. Vor allem drängen sie die Uni-Leitungen im Sinne der BDS-Organisation, die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten einzustellen. Uri Schneider berichtet in einem erhellenden Beitrag für 3sat-"Kulturzeit" über Erfahrungen israelischer WissenschaftlerInnen mit Boykott. Unter anderem spricht hier die israelische Araberin Mouna Maroun, die vor kurzem zur Vizepräsidentin der Uni Haifa ernannt wurde.



Eingeknickt gegenüber den Forderungen antiisraelischer Studenten ist zum Beispiel das berühmte Trinity College in Dublin, berichtert Ralf Sotschek in der taz: Man will israelische Unternehmen boykottieren, die in den besetzten palästinensischen Gebieten tätig sind, vor allem den Studentenaustausch mit Israel überdenken und statt dessen mehr palästinensische Studenten einladen. Die Iren handeln hier auch ökonomischen Motiven, vermutet Sotchek:  "Der Campus in Dublin, der im Herzen der irischen Hauptstadt liegt, war während des Protests für die Öffentlichkeit geschlossen, was die Hochschule viel Geld kostete, weil Touristen das Book of Kells nicht sehen konnten. Diese illustrierte Handschrift der vier Evangelien aus dem Jahr 800 ist in einem Glaskasten in einem abgedunkelten Raum der Universität ausgestellt. Es ist eine der größten Touristenattraktionen der irischen Hauptstadt und bringt dem College 350.000 Euro in der Woche ein. 'Ich denke, die Einnahmeverluste waren ausschlaggebend', sagte Ruby Topalian, eine Redakteurin der Studentenzeitung Trinity News. Sie begrüße die Vereinbarung, die weiter gehe als bei anderen Universitäten."

An der Harvard Uni kursiert nun zum Glück auch ein offener Brief von Dozenten, die vor Boykott warnen - allerdings meist Professoren aus den MINT-Fächern. Hier heißt es: "Akademische Freiheit ist nicht verhandelbar. Harvard sollte niemals die Rechte seiner Dozenten, Studenten und Mitarbeiter aufgeben, sich in der Forschung zu engagieren und wissenschaftliche Kooperationen einzugehen, die den Anspruch der Forschung fördern. Jedes Zugeständnis in dieser Hinsicht, einschließlich geringfügiger Anpassungen der derzeitigen Harvard-Verfahren oder der Zusage, diese im Lichte der Agenda der Demonstranten zu überprüfen, wird wahrscheinlich als Politisierung der Harvard-Verfahren ausgelegt werden."

Jan Thiessen, Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin kommt in der FAZ nochmal sehr polemisch auf den Berliner Dozentenaufruf (unser Resümee) zurück, der forderte, die antiisraelischen Studenten auf dem Campus der FU unbehelligt zu lassen und mit ihnen in den Dialog zu treten. Mit dem Argument der akademischen Freiheit sei dieser Brief nicht zu rechtfertigen, so Thiessen, denn "der Protest fordert akademische Freiheit für sich selbst, verlangt aber von den Universitäten, dass diese Israel akademisch boykottieren". Und übrigens kann eine Uni-Leitung nicht agieren wie ein Fürst auf seinem Territorium: "Polizeieinsatz und Strafverfolgung stehen nicht im Ermessen der Universitätsleitung, wenn es um mehr als einfache Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch geht. Wer Universitäten als öffentlich deklariert, muss damit rechnen, dass die Polizei dort von sich aus ihrer Aufgabe nachgeht, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu wahren. Wer Volksverhetzung begeht oder den Hamas-Terror öffentlich billigt, muss damit rechnen, von Amts wegen verfolgt zu werden."

Michael Bielicky, bis vor kurzem Professor für Medienkunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, erzählt in der FAZ die Geschichte seiner Eltern, die zuerst von den Nazis dann von Stalins Schergen in der CSSR verfolgt wurden - eine grausame Geschichte, die einen zum Verstummen bringt. Dann schreibt er über seine Arbeit am Karlsruher ZKM und der Hochschule, wo es viele jüdische Künstler gab. Aber leider: "Ein bizarrer Ideologiesturm hat das Haus erreicht, gepaart mit Intoleranz und Unterdurchschnittlichkeit. Das Einzige, was überdurchschnittlich dort wurde, ist die hohe Anzahl der BDS-Sympathisanten in diesem Haus." Er selbst, schreibt er dann, "wurde wegen einer angeblichen Verschwörung gegen die Hochschule aus dem Haus herausgejagt". In der NZZ hat sich Bielicky bereits im letzten Oktober geäußert, in einer Erklärung bei der NZZ verwahrt sich die HFG gegen Bielickys Vorwürfe.
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Medien

Früher war "Pallywood" die Inszenierung und Instrumentalisierung von palästinensischem Leid, um gute Bilder an die Presse zu verkaufen, erklärt Mirna Funk in der NZZ. Heute ist "Pallywood" zur Hamas-Propaganda-Maschine geworden. "Denn 'Pallywood' bedeutet nicht nur inszenierte Fotos und Videos. 'Pallywood' ist das strategische Geschichtenerzählen mit Fotos und Videos. Geklappt hat das besonders gut am 7. Oktober. (...) Während seit Monaten jüdische, aber auch israelische Nachrichten-Outlets mit Absicht die Veröffentlichung solcher Bilder vermeiden, um den Körper und den Menschen zum Körper zu schützen, kennen palästinensische Video-Creators keine moralischen Grenzen. Jeder Klick zählt. Die Massen sind süchtig nach dem Leid. Bekannte Instagram-Größen aus Gaza wie Motaz Azaiza, Wizard Bisan oder Plestia Alaqad liefern beinahe im Minutentakt Bildmaterial, das als Beweis für den 'Genozid' Israels in Gaza verkauft wird. Was davon inszeniert ist und was wahr, weiß kaum jemand mehr."
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Stichwörter: Pallywood, 7. Oktober, Hamas

Ideen

Im SZ-Interview mit Moritz Baumstieger glaubt die Historikerin Ute Daniel nicht, dass die Geschichte der Weimarer Republik sich gerade wiederholt. "Ganz abgesehen davon, ob die AfD wirklich mit der NSDAP zu vergleichen ist: Parallelen sind in dieser Form schon deshalb nicht sinnvoll, weil es nicht die Nationalsozialisten waren, die Weimar zerstört haben. Das haben andere getan - und die Nazis haben profitiert." Trotzdem sollte man "Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge" erkennen und aus ihnen lernen. "In Weimar erschien das Problem der Reparationen jahrelang als nicht lösbar. Heute ist es die Migrationsfrage. Derartige Triggerthemen, die zuverlässig Ressentiments abrufen, können ganze Gesellschaften hysterisieren: Nämlich wenn sie, wie damals die Reparationen und heute die Migrationsfrage, die Politik vor sich hertreiben, weil sie keine Lösung aus dem Ärmel schütteln kann. Die politische Klasse müsste dann den Mut haben zu sagen: 'Liebe Leute, wir leben in einer Zeit, die ist nicht mehr wie früher. Unsere Lebensweise macht uns abhängig von offenen Grenzen - beziehungsweise: Wir haben 1918 den Krieg verloren. Wir müssen damit umgehen, ohne den Kopf zu verlieren.'"
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Religion

Der emeritierte Rechtsprofessor und ehemalige Präsident der Goethe-Universität Frankfurt Rudolf Steinberg beleuchtet in der FAZ das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland und bleibt beim Befund der "hinkenden Trennung", die irgendwie eher einer Aufteilung von Kompetenzen gleicht, in der der Staat den Kirchen ihre Position sichert - auch wenn die Gläubigen millionenfach abfallen. Die Kirchen, so Steinberg, funktionierten inzwischen vor allem als "Sozialkirche" über ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie, den größten Arbeitgebern nach dem öffentlichen Dienst. Steinberg kommt dann trotz seiner kritischen Position zu der seltsamen Aussage: "Vor allem bei der Übernahme von sozialen Aufgaben sind die Kirchen auf die Kirchensteuer als sichere Einnahmequelle angewiesen. Sie setzt die Kirchen in die Lage, Aufgaben, die der gesamten Gesellschaft dienen, tatsächlich dauerhaft übernehmen zu können: Schulen, Kitas, Beratungsstellen, Krankenhäuser, Altenpflegeheime. Genau aus diesem Grund steht auch kaum zu erwarten, dass der Staat an einer grundlegenden Änderung des Staatskirchenrechts interessiert sein könnte." Und da sind sich die Politiker aller Parteien laut Steinberg mit den Kirchenfürsten einig.

Schüchterne Frage des Bürgers: Werden Caritas und Diakonie wirklich aus der Kirchensteuer finanziert? Die Caritas selbst sagt jedenfalls auf ihren Seiten, dass sie zum großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziert wird, die mit der Kirchensteuer nichts zu tun haben. Die Wikipedia hat sogar einen Artikel über die "Caritas-Legende", die von den Kirchen lange aufrecht erhalten wurde. Mehr als ein paar Prozent kommen bei Caritas und und Diakonie nicht aus Kirchensteuern, das meiste aus den Steuern der Allgemeinheit.
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Europa

Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack liest für die taz Umfragen und beobachtet ein zwiespältiges Verhältnis der Deutschen zum Islam - aber auch der Muslime zu ihrer eigenen Religion und ihrer Rolle in Deutschland. Die Deutschen sehen den Islam einerseits sehr kritisch, aber "so schlecht das Image des Islam in der deutschen Bevölkerung ist, die meisten hierzulande wollen, dass Muslime fair behandelt werden. Sie fühlen sich durch den Islam zwar bedroht, aber wollen ihm wie allen Religionen mit Offenheit und Verständnis begegnen." Die Muslime vertreten zu einem besorgniserregend hohen Teil fundamentalistische Einstellungen, bestätigen also deutsche Vorbehalte, so Pollack. Zugleich "lassen sich unter den Musliminnen und Muslimen viele Haltungen ausmachen, die einem rigiden Fundamentalismus widersprechen. Demokratische und rechtsstaatliche Werte sind weithin akzeptiert. So fällt die Bejahung der Demokratie als Staatsform unter ihnen genauso hoch aus wie in der deutschen Gesamtbevölkerung."

Nach russischem Vorbild soll in Georgien ein "Agentengesetz" in Kraft treten, das Nichtregierungsorganisationen ins Exil zwingen und eine Mitgliedschaft in der EU ausschließen würde, berichtet Can Merey in der FR. Deshalb demonstrieren Zehntausende gegen dieses Gesetz und gegen den russischen Einfluss: "Tatsächlich ist in Umfragen regelmäßig eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Georgien für einen EU-Beitritt (und in etwas geringerem Maße für eine Nato-Mitgliedschaft)." Die prorussische Einstellung von Ministerpräsident Iwanischwili vor den anstehenden Neuwahlen für das Parlament "scheint da eigentlich keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er selbst argumentierte Ende vergangenen Monats, durch den Konflikt über das Gesetz zwinge man die Opposition, ihre Energie schon vor den Wahlen auf der Straße zu 'verschwenden'. In einer beängstigenden Rede drohte er der Opposition eine schonungslose Abrechnung nach der Wahl an."

Der (seit heute) 90-jährige Schriftsteller Adolf Muschg fordert im NZZ-Interview mit Roman Bucheli einen sofortigen Stopp des Ukraine-Kriegs. "Dass jetzt Menschen aus dem fernsten Sibirien sterben müssen für das heilige Russland, das ist unappetitlich, aber mit Verlaub, es ist genauso unappetitlich, wenn man den Ukrainern unterstellt, sie müssten siegen. Es gibt keinen Sieg dort. Es sterben einfach jeden Tag mehr Leute." An alten Ideen des Pazifismus hält er dementsprechend fest: "Natürlich müssen wir viele Illusionen über uns als Homo sapiens aufgeben. Aber eine kriegerische Welt ist unter gar keinen Umständen eine akzeptable Alternative. Was man suchen muss, sowohl im Nahen Osten wie auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion, ist eine verhandelbare Welt. Ein Staatsmann oder eine Staatsfrau wäre für mich jemand, der oder die den Weg dazu findet." Wer das in dieser Situation sein soll, lässt er unbeantwortet.

Der Ukraine-Krieg ist quasi zum Erliegen gekommen, der Kreml prahlt zwar, nochmal 500.000 Soldaten mobilisieren zu können, der Außenminister Sergei Lawrow deutet im Interview mit Kreml-nahen Medien aber eine andere Lösung an, konstatiert der australische Schriftsteller Howard Hunt in der FAZ. So soll die Ukraine in zwei Teile gespalten werden. "Angesichts der Munitionsknappheit der Ukrainer und einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump legen sich Putins Trollfabriken inzwischen mächtig ins Zeug und verbreiten eine mehrsprachige Fantasielandkarte der Ukraine, die von einem vergrößerten Dnipro säuberlich in zwei Hälften geteilt wird. Links des Flusses eine kleinere (aber noch immer ziemlich große) Westukraine mit ein paar Ortschaften am Schwarzen Meer, rechts davon eine mächtige russische Ukraine, der ihr heiliges Territorium zurückgegeben wurde. Wäre der Westen bereit, sich darauf einzulassen?"
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