Marcel Beyer

Spione

Roman
Cover: Spione
DuMont Verlag, Köln 2000
ISBN 9783770154173
Gebunden, 306 Seiten, 20,35 EUR

Klappentext

Zu Spionen in ihren Familien werden die Jugendlichen Carl, Paulina und Nora, Cousin und Cousinen des Ich-Erzählers. Wo andere in den Fotoalben blättern, deren Aufnahmen die Eltern und Großeltern erinnern und Generationsgeschichte erzählen, stoßen sie auf Geheimnisse. Was war das für eine Liebesgeschichte um den Großvater, der im November 1936 verschwand, um sich der "Legion Condor", dem Geheimeinsatz der Deutschen Luftwaffe während des Spanischen Bürgerkriegs, anzuschließen? Wer war die scheinbar früh verstorbene Großmutter, die Opernsängerin mit den "Italieneraugen"? Hat die zweite Frau des Großvaters die Familienalben gesäubert und "Erinnerungsverbote" verhängt? Aus Fragen werden Verdächtigungen, aus Heimlichkeiten und Gerüchten entstehen Wahn und Überwachung. Die Gestorbenen entziehen den Lebenden die Aufmerksamkeit. Wie ein Spion bewegt sich der Erzähler zwischen den Generationen, zwischen den Lebenden und den Toten, Vergangenheit und Gegenwart. Im Ineinander von Tatsachenrecherche und Fiktion, im Wechselspiel von Verschweigen und Erzählen fragt Marcel Beyer: Kann man mit Worten töten?

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.12.2000

Offensichtlich findet Helmut Böttiger Marcel Beyers neuen Roman interessant und spannend, "auf der Höhe der Zeit" zudem. Den Autor nennt er "hervorragend", aber so richtig fesseln kann ihn bei aller Liebe "Spione" nicht - dazu ist hier doch zu viel Konstruktion und zu wenig Erzählung. Als Grundthema nennt er die Unmöglichkeit, ein Geheimnis zu lüften und ihm mit Hilfe von Sprache beizukommen. Warum wurde die Großmutter von vier Enkel die komplett aus der offiziellen Familienhistorie gelöscht? Nach Böttiger gleicht der Roman, der versucht, diese Geheimnisse zu lösen, allerdings weniger einer Erzählung als einem Mosaik - und da liegt für den Rezensenten auch seine Zwiespältigkeit: "Die Fakten sind nie recht greifbar, aber auf die Fiktion kann man sich ebenfalls nicht verlassen; sie beginnt sofort, ein bedrohliches Eigenleben zu führen".

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 18.10.2000

Dieses Buch, nicht Elfriede Jelineks `Gier` und auch nicht das Messethema Polen, wählte die `taz` als Aufmacher ihrer Buchmessenbeilage. In einer ausführlichen Kritik lässt sich Dirk Knipphals tief auf die `Spione` ein und berichtet zuerst von der Usprungsidee Beyers, der aus zufällig bei einem Flohmarkt entdeckten Fotos eine Geschichte konstruieren wollte. Genau so hat er diese Idee nicht verwirklicht, schreibt Knipphals, aber die detektivische Arbeit der `Spurensuche und Spurenerfindung` bleibt wohl doch grundlegend für dieses Buch. Fasziniert beschreibt der Rezensent, wie in Beyers Roman eine Gruppe Jugendlicher über die Erinnerungsarbeit an einem Fotoalbum der Großeltern ihr Geheimnis sucht und offensichtlich auch findet - als wichtig für diese Rekonstruktion erweisen sich gerade die Lücken im Album. Für Knipphals erschöpft sich das Buch allerdings nicht in der Nacherzählung dieser Geschichte. Beyer sei ein `Kind der poststrukturalistischen Theorien der achtziger Jahre`, und so werde ihm diese Geschichte auch zur Reflexion darüber, wie Wahrheit erzählt und verschwiegen wird, und wie sich die Generationen zueinander verhalten - nämlich mit einer symmetrischen `Kommunikationsstörung`. Weil die einen schweigen, entwickeln die anderen Symptome von Verschwörungswahn. Als einzigen Kritikpunkt an dem Buch macht Knipphals einen gewissen Mangel an Humor aus. Aber sonst: `Wichtiges Buch.`

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2000

Enttäuscht ist Stephan Krass vor allem deshalb von diesem Roman, weil er das Buch "Flughunde" vom selben Autor so ausnehmend gelungen fand. Dort nämlich wird in Bezug auf das "Medium des Geräuschs" als Erzählperspektive auf den Nationalsozialismus geleistet, was hier in Bezug auf das Sehen - emblematisch schon am Anfang: durch den Türspion - nach Meinung des Rezensenten nicht aufgegangen ist. Schuld daran ist nach Ansicht von Stephan Krass auch der ständige Wechsel der Perspektive in der Darstellung einer "beschwiegenen" Familiengeschichte, mit deren Erforschung sich die Enkelgeneration im Kontext der bedrohlichen Atmosphäre des RAF-Terrors befasst. Die Geschichte vom unterirdisch wachsenden Pilz, der ein ganzes Wohnviertel bedroht, hat Krass als Bild für die untergründige Vergiftung durch das Schweigen gut gefallen. Aber, er findet, dass es Beyer nicht gelungen ist, "zwischen seinen Figuren jene Abgründe eines Generationenkonflikts zu schildern, für die er in dem wuchernden Pilz des Beschweigens eine so treffende Metapher gefunden hat."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 23.09.2000

Eberhard Falcke ist von diesem Roman des Autors so wenig enttäuscht wie von dessen bereits erschienem. Wie gewohnt gelingt es Beyer, zu überraschen und durch unvorhersehbare "Kombinationen von Themen, Stoffen, Motiven" zu glänzen, lobt der Rezensent. Auch diesmal gebe der Autor seiner Geschichte durch die "hochspezialisierte Perspektive einen ungeahnten Dreh". Die Geschichte bewege sich zwischen "hellsichtiger Analyse und manieristischer Stilisierung", wobei die Handlung trotz aller Künstlichkeit plausibel bleibt, lobt Falcke. Zudem gewinne der Roman durch die Einarbeitung von Zeitgeschichte und medientheoretischer Überlegungen an Horizont.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.09.2000

Martin Lüdke fällt ein hartes Urteil: er sieht den Autor, den er für einen der talentiertesten Schriftsteller der jüngeren Generation hält, diesmal "gründlich gescheitert". Die Lektüre sei ziemlich "mühsam", denn in der Erzählung über das Geheimnis der Großmutter, dem der Enkel und Erzähler auf die Spur zu kommen versuche, werde "zu viel gedacht". Beyer spinne Geheimnis über Geheimnis aus und greife dafür in die Geschichte der Nazizeit zurück. Aber alle Rätsel führten letztlich wieder ins "Private" und lösten sich am Ende in nichts auf, so dass sich der Rezensent "auf den Arm genommen" fühlt. Außerdem stört ihn der stets gleichbleibende "dunkel raunende" Tonfall. Er wirft dem Autor "Halbherzigkeit" in der Beschreibung der Liebesgeschichte des Protagonisten mit einer Sängerin vor und bemängelt, dass die Zeitgeschichte seltsam unbestimmt bleibe. Trotzdem betont der Rezensent am Ende dieser eigentlich vernichtenden Kritik, dass er den Autor immer noch, trotz dieses Scheiterns, für eine große Begabung hält.
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