10.09.2019. Karina Sainz Borgo erzählt mit apokalyptischer Wucht vom Überleben in Venezuela. Damir Karakas flieht aus der archaischen Bauernwelt eines kroatischen Dorfes in eine Fantasiewelt. Tom Zürcher folgt dem grotesken Weg eines Muttersöhnchens zum Psychopathen, und Armin Nassehi erklärt die Verdopplung der Welt in Daten. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur
Karina Sainz BorgoNacht in CaracasRoman
S. Fischer Verlag. 224 Seiten. 21 Euro
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So ambivalent wie Karina Sainz Borgos Roman "Nacht in Caracas", der in 22 Ländern gleichzeitig mit viel Publicity lanciert wurde, werden Bücher selten besprochen. Die in Spanien lebende Journalistin ist selbst vor mehr als zwölf Jahren aus
Venezuela geflohen, nun verarbeitet sie die Geschichte ihres Landes und ihrer Flucht: "Bilder von apokalyptischer Wucht" entdeckt Peter Henning im
Dlf, wenn er die Geschichte einer jungen Frau liest, die im diktatorischen Übergangs-Venezuela von
Hugo Chavez zu
Nicolás Maduro ums Überleben kämpft. Wenn ihm die Autorin leuchtend und "beklemmend" zugleich von Repression, Gewalt und Unterdrückung der Meinungsfreiheit in ihrem Land erzählt, ist das für Henning
Literatur, "
die alles wagt". Etwas anders sehen das Ralph Hammerthaler in der
SZ und Dirk Fuhrig im
Dlf Kultur: Fuhrig empfiehlt das Buch zwar als
aufrüttelndes Zeitdokument über Venezuela, das im journalistischen Stil von den willkürlichen Brutalitäten im Namen der bolivarischen Revolution in Venezuela erzählt, doch findet er es
literarisch wenig überzeugend. Und in der
SZ warnt Ralph Hammerthaler: Nicht von den "ungelenken narrativen Mitteln" abschrecken lassen, sonst entgehe einem der Blick auf eine verrohte Gesellschaft, die sich ans Wegschauen gewöhnt hat. In der
Berliner Zeitung spricht Sainz Borgo über die Situation in Venezuela.
Hendrik OtrembaKachelbads ErbeRoman
Hoffmann und Campe Verlag. 432 Seiten. 24 Euro.
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Kryonik ist die Kryokonservierung von Organismen oder einzelnen Organen, um sie nach Möglichkeit in der Zukunft wiederzubeleben, verrät uns Wikipedia. Das sollte man in jedem Fall vor der Lektüre von Hendrik Otrembas zweitem Roman wissen, denn genau darum geht es: Otremba erzählt - laut
FAZ-Kritiker Philipp Theison überaus "scharfsinnig" - die Geschichte des deutschen Auswanderers Kachelbad, der in den Achtzigern in L.A. für ein Unternehmen Menschen einfriert, die der Gegenwart entfliehen wollen. Klingt dystopisch, ist aber laut
Dlf-Kultur-Kritiker Gerrit Bartels eigentlich ein Roman, der sich
mit Vergangenheit beschäftigt - ganz ohne Science-Fiction. Einfach realistisch ist er aber auch nicht, wendet in der
FR Katharina Granzin ein. Wie Otremba
in klarer Prosa Vorstellungen von der Apokalypse aufruft und sich dabei zu surrealen Bildern aufschwingt, scheint Granzin so rätselhaft wie reizvoll. Und wie der Autor Erzählformen wechselt, zwischen Traum und Realität, Krimi und Reflexion springt,
lobt Spon-Kritiker Jochen Overbeck als "fantastisch". Im
Tagesspiegel-
Interview spricht Otremba, Sänger der Band "Messer" und Münsteraner-Literarturdozent, über das Leben nach dem Tod und das Magische in der Kunst.
Tom ZürcherMobbing DickRoman
Salis Verlag. 288 Seiten. 24 Euro
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Der im kleinen Schweizer Salis Verlag erschienene neue Roman von Tom Zürcher hat es auf die Longlist geschafft - ist bisher aber nur von Jörg Magenau im
Dlf besprochen worden. Magenau aber hat die Story um den jungen Dick, der aus dem Gefängnis seines miefigen Elternhauses ausbricht, um
als Banker Karriere zu machen, sich in der Scheinwelt des Geldes verstrickt und schließlich in sein Alter Ego als Mobbing Dick flüchtet, bestens amüsiert. Überdreht, grotesk, wie eine Geschichte von "
Kafka auf Speed", verschnitten mit Monty Python, findet Magenau. Gut gefällt ihm, dass der Autor noch mehr will, nämlich anhand der irrwitzigen Wandlung seines Protagonisten vom Muttersohn zum Psychopathen aufzeigen, wie Wahn und Wirklichkeit Hand in Hand gehen. Eine "wahnwitzige Parabel auf die gesellschaftliche Wirklichkeit", die mit großem Vergnügen direkt
ins Entsetzen und zurück führt, meint Magenau. Wem dieser Roman Spaß gemacht hat, dem sei auch
Emma Braslavskys laut
NZZ-Kritiker Paul Jandl kluge Dystopie
"Die Nacht war bleich" (
Bestellen) empfohlen: Ein eindrucksvoller
Berlin-
Krimi, in dem es unter anderem um das Selbstverständnis von
Künstlichen Intelligenzen geht, lobt auch Andreas Platthaus in der
FAZ.
Ljudmila PetruschewskajaDas Mädchen aus dem Hotel MetropolRoman einer Kindheit
Schöffling und Co. Verlag. 312 Seiten. 24 Euro
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Die inzwischen 81jährige russische Autorin, Malerin und Sängerin Ljudmila Petruschewskaja wuchs selbst im legendären
Hotel Metropol auf. Davon, aber vor allem von einer
sowjetischen Kindheit unter brutalsten Umständen, vom Betteln, von Obdachlosigkeit bei Eiseskälte, Hunger, Gewalt und vom Leben in Heimen, aber auch von großer Überlebenskraft und Glücksmomenten erzählt sie uns so erstaunlich nüchtern, und zugleich "poetisch und sarkastisch", dass es nicht nur
SZ-Kritikerin Cathrin Kahlweit den Atem verschlägt. Kahlweit kann das Buch kaum aus den Händen legen: Nicht zuletzt weil die Autorin so fesselnd erzähle, als schreibe sie das
Drehbuch eines fremden Lebens. Wie Petruschewskaja den Auswüchsen von Stalins mörderischer Herrschaft immer wieder auch Groteskes oder gar Märchenhaftes abgewinnt, ohne zu fiktionalisieren, scheint Gregor Dotzauer im
Dlf-Kultur bewundernswert. Antje Leetz' Übersetzung der unprätentiösen, dennoch
farbigen Sprache findet er vorzüglich. In der
taz staunt Katharina Granzin, wie gegenwärtig die Autorin erzählt - trotz oder gerade weil sie sich um das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Erinnerung nicht kümmert. In der
SWR-
Mediathek steht die Kritik von Gisela Erbslöh online.
Damir KarakasErinnerung an den WaldRoman
Folio Verlag. 152 Seiten 20 Euro
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Nichts für schwache Nerven scheint dieser schmale Roman des kroatischen Autors Damir Karakas zu sein, der uns in eine
archaische Bauernwelt entführt, in der sich der kleine, herzkranke Sohn eines gewalttätigen Vaters und einer schwachen Mutter in eine
Fantasiewelt flüchtet.
FR-Kritiker Norbert Mappes-Niediek überzeugt der Roman mit einfacher und zugleich reicher Sprache und der Wucht einer antiken Tragödie. Die "Ruinen der Vergangenheit" und die "
Etappen des Fortschritts" bilden bei Karakas einen faszinierenden Hintergrund, findet der Rezensent. In der
taz muss Doris Akrap während der beklemmenden Lektüre an Camus' "Fremden" denken: Die an Beobachtungen reiche Schilderung der harten Parallelwelt der Hinterwäldler auf dem Balkan werde so zur "Parabel auf die Absurdität der menschlichen Existenz und die Unmöglichkeit väterlicher Liebe", lobt sie. In die französische Provinz der Neunziger geht es indes mit
Nicolas Mathieus sieben mal besprochenem und viel gelobtem Roman
"Wie später ihre Kinder" (
Bestellen) der von jungen
Globalisierungslosern erzählt und den
Dlf-Kritiker Christoph Vormweg als gelungene fiktionale Ergänzung von Didier Eribon und Co. würdigt.
SachbuchFrederick Taylor Der Krieg den keiner wollteBriten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939
Siedler Verlag. 432 Seiten. 30 Euro
(
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Wenn der britische Historiker Frederick Taylor anhand von Zeitungen, Tagebüchern, Stimmungsbildern und Erinnerungen vom
Alltag des Jahres 1939 kurz vor Kriegsbeginn in Deutschland und Großbritannien erzählt, stellt Dlf-Kritiker Carsten Hueck erschrocken fest, dass er mitunter vergisst, dass Taylor über den Vorabend des Zweiten Weltkriegs schreibt, nicht über die Gegenwart. In der
FAZ lobt Andreas Fahrmeir Anekdoten- und Kenntnisreichtum des Autors, der ihm zum Beispiel veranschaulicht, wie sich die Kriegsvorbereitungen auf
Fernsehen,
Kinoprogramm oder Urlaubsreisen in beiden Ländern auswirkten. Und in der
SZ erkennt Cord Aschenbrenner zwar die gewaltigen Unterschiede zwischen den Ländern - Deutschland diktatorisch-militaristisch regiert, Britannien demokratisch - doch findet er vor allem die Gemeinsamkeiten frappierend: Der
Wille zur Normalität, den beide Bevölkerungen behaupteten, der Glaube, die Lage werde sich schon wieder beruhigen. Eine ungemütliche, vor allem alarmierende Lektüre,
meint Susanne Kippenberger im
Tagesspiegel.
Claudia Weber Der PaktStalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz
C. H.Beck. 276 Seiten. 26,95 Euro
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Die Historikerin Claudia Weber hat neulich in der
NZZ beeindruckend dargelegt, wie verdrängt der
Hitler-
Stalin-
Pakt immer noch ist (
unser Resümee): Der antifaschistischen Lesart des Zweiten Weltkriegs widerspricht heute, dass der spätere Sieger über Hitler - Stalin - zunächst sein Bündnispartner war und zusammen mit Hitler historische Fakten schuf, die auch nach dem Krieg fortwirkten - Opfer waren im Krieg und nach dem Krieg vor allem die Polen und die baltischen Länder. Bis heute ist dieser Aspekt des Kriegs beim Vergangenheitsbewältigungsmeister Deutschland verdrängt, konstatierte die
taz (
unser Resümee). Der tief in die Mentalitäten eingesickerte Antifaschismus - der Begriff wurde schließlich von den Kommunisten ersonnen und propagiert - kann die ursprüngliche Kontaminierung des späteren Siegers bis heute nicht denken. Erstaunlich, wie unterschiedlich die Reaktionen auf Webers Buch ausfallen: Marko Martin nennt es in
Dlf Kultur einen
Skandal, dass in Polen längst Bekanntes in Deutschland bis heute nicht refklektiert wird - das Buch sei hier ein
Augenöffner. Sehr streng urteilt dagegen der Historiker
Jost Dülffer, ein Spezialist für Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, in der
FAZ, dem Weber nicht Neues zu erzählen vermag.
Armin NassehiMuster Theorie der digitalen Gesellschaft
C.H. Beck. 352 Seiten. 26 Euro
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Die Digitalisierung ist nicht als etwas Fremdes über die Gesellschaft gekommen (auch wenn hierzulande niemand mit dem Internet gerechnet hatte), sondern sie reagiert auf Bedürfnisse, die die Gesellschaft (zum Teil vielleicht ihr selbst unbewusst) entwickelt hatte. Schon im 19. Jahrhundert machte man die Erfahrung, "dass sich vieles tatsächlich nur digital, also zählend, statistisch, in Mittelwerten, in der Erkennung von Regelmäßigkeiten, in der Erfassung typischen Verhaltens für bestimmte Gruppen, Regionen und Klassen bestimmen lässt", schrieb Nassehi neulich in der
Welt (unser
Resümee). Der Münchner Soziologe zeigt, dass es sich bei der Digitalisierung nicht um eine Störung, sondern um eine
Verdoppelung der Welt in Daten handelt, dem Buchdruck vergleichbar, also nichts strukturell Neues und Beunruhigendes, schreibt Marc Reichwein in der
Welt. Ähnlich
argumentiert Jürgen Kaube in der Sonntags-
FAZ. Wie Nassehi selbst macht Kaube dabei keinen Unterschied zwischen Digitalisierung und Internet, als sei die Digitalisierung dem Netz nicht um Jahrzehnte vorausgegangen. Und wie Nassehi sieht er das Netz als "
Überhitzungsmaschine". Ob Nassehi auch reflektiert, welche Glaubwürdigkeitspotenziale das Netz - etwa in der Wikipedia - entwickelte, muss nach Lektüre der Kritiken offen bleiben.
Robert Macfarlane Im UnterlandEine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde
Penguin Verlag. 560 Seiten. 24 Euro
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Garantiert schattig ist es an den Orten, die Robert Macfarlane in zehnjähriger Recherche für sein neues Buch "Im Unterland" aufgesucht hat. Macfarlane, einer der Pioniere des
Nature Writing, ist nach England, Slowenien, Frankreich, Grönland in Stollen, Gletschermühlen, Katakomben, Gräber und Felsstürze abgetaucht - und schreibt davon so "plastisch", mitunter
gnadenlos, dass
FR-Kritikerin Sylvia Staude die
Beklemmung geradezu spüren kann. Zugleich lernt sie aber auch eine ganze Menge Neues über Abgründe: Zauberpilzen wie dem Hallimasch begegnet Staude hier, auch der
Kommunikation der Pflanzenwelt lauscht sie. Der Kenntnisreichtum und die philosophischen Reflexionen des Autors, etwa zur Zeit oder zum Todestrieb, haben Staude ebenfalls beeindruckt.
Welt-Kritiker Wieland Freund erlebt Macfarlane auf dessen Reisen nicht nur als Prosadichter und
belesenen Anthropologen, sondern auch als Abenteurer. Wie er die Schrecken der Umweltverschmutzung und des Raubbaus an der Natur mit der Schönheit der Gletscher, Geistesgeschichte, Investigation und Exploration verbindet, kann der Rezensent nur mit Bewunderung verfolgen.
FlexenFlaneusen* schreiben StädteVerbrecher Verlag. 270 Seiten. 18 Euro
(
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"Flexen" - das kann "trennschleifen", "biegen", "Sex haben", "Muskelanspannung" und eben Flaneuserie bedeuten, klärt uns der Klappentext dieses von Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer herausgegebenen Buches auf. Die 30 hier schreibenden Frauen treten an, den Blick ab vom männlichen Dandy und hin zur in der Kulturgeschichte
vernachlässigten Flaneuse zu wenden - wobei Mara Delius in ihrer
Welt-
Kritik mit Verweis etwa auf Mary Austin, Vivian Gornick, Martha Gellhorn, Lucia Berlin und Joan Didion ganz richtig anmerkt, dass Frauen schon oft ihren Blick durch die Stadt schweifen ließen. Unbeeindruckt vom theoretischen Überbau der Herausgeberinnen findet Delius die Texte der AutorInnen dann allerdings "
literarisch überraschend", weil sie in einem "
renitenten Expressionismus" Identität herausstellen, wie sie schreibt: Ob ein lesbisches Paar mit Kind dem Passantenblick begegnet oder eine Frau nachts allein durch Mumbai läuft - die doppelwertige Freiheit des Flaneurs ist in diesen Momenten für Delius auf anregende Weise spürbar. Ohne Einschränkungen begeistert ist Bettina Baltschev im
Dlf-Kultur von dem Band: Wie Frauen, queere Menschen und Migranten die Stadt gehend erleben, ist für sie ein völlig neues,
den Blick schärfendes Ereignis. Im
Dlf sprechen die Özlem Özgül Dündar und Lea Sauer über das Buch.