Bücher der Saison

Kindheiten gibt es überall

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2019. "Das ist unser struppiges, lärmendes, hinreißendes Europa", rief Paul Ingendaay,  als er "Grand Tour" zuschlug, eine 47-sprachige Reise durch unseren guten alten Kontinent und ganz klar Buch der Saison. Wie einige hochinteressante Romane, die es nicht richtig sind, weil sie vom eigenen Leben erzählen, Philippe Lançons "Der Fetzen" natürlich oder Saša Stanišić' "Herkunft". Sachbücher wenden sich dem Musikleben in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Leonardo oder der Herkunft des Kapitalismus aus dem Geist des Roggens zu. Und in den politischen Büchern gibt es wenigstens einen, der hoffnungsfroh in die Zukunft schaut: den 88-jährigen Michel Serres.
Literatur / Politische Bücher / Sachbücher

Autobiografische Romane

Dass Schriftsteller für ihre Romane aus ihrem eigenen Leben schöpfen, ist natürlich nicht neu, aber zur Zeit gibt es so viele autobiografische Romane, dass man von einem Trend sprechen kann. Am interessantesten sind dabei die Bücher, die nicht nur autobiografisches Material verwenden, sondern auch in der Form zwischen Literatur, Erinnerung und Reflexion hin und her wechseln. Ein gutes Beispiel dafür ist Sasa Stanisics "Herkunft" (bestellen). Das Buch sei ein Abschied von seiner dementen Großmutter, erklärt der als Vierzehnjähriger mit seiner Familie von Bosnien nach Deutschland emigrierte Autor im Klappentext. Während er Erinnerungen sammle, verliere sie die ihren. Die Rezensenten sind sich zwar nicht ganz einig, in welches Genre dieses Buch denn nun eigentlich fällt, aber als Leseabenteuer dürften es wohl alle empfunden haben. Sprache, Literatur, Emigration, Ausgrenzung sind Themen, die Stanisic laut Helmut Böttiger (dlf Kultur) multiperspektivisch und mit Hang zum Fabulieren reflektiert. Das knirscht manchmal ganz schön, aber die Fähigkeit des Autors, an allen falschen Heimatdiskursen sicher vorbeizusegeln und sich seine Heimat dennoch erzählend zurückzuerobern, hat Dirk Knipphals (taz) mehr als beeindruckt. Ein zauberhaftes Anschreiben gegen das Vergessen, lobt Sandra Kegel in der FAZ.

Eigentlich würde man Philippe Lançons "Der Fetzen" (bestellen) wohl als autobiografischen Text einordnen. Der französische Autor erzählt, wie ihm bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo der Unterkiefer weggeschossen wurde und er in der langen Phase der Rekonstruktion und Rekonvaleszenz sein Leben zurückgewann. Es geht also nicht nur um das Attentat und den körperlichen Heilungsprozess. Lançon, der sich minutziös an das Attentat erinnert, beschreibt seinen Schock, als er feststellt, dass sich seine Erinnerungen nicht mit denen anderer decken, erzählt Alex Rühle in der SZ: "'Ich ertrage diese Verwirrung noch immer nicht', schreibt er drei Jahre später. 'Die Tatsachen sind das einzige Gepäck, das ich auf die folgende Reise gern mitgenommen hätte; doch wie alles Übrige verformen sie sich unter dem Druck. Die Gewalt pervertierte, was sie nicht zerstört hatte. Wie ein Sturm hatte sie das Boot versenkt.'" Niklas Bender nennt das Buch in seiner Kritik in der FAZ immer wieder einen Roman. Nicht, weil er die berichteten Tatsachen anzweifeln würde, sondern weil die literarischen Qualitäten des Buchs ihm außergewöhnlich erscheinen. Und die äußern sich hier ganz offenbar nicht in einem Stil, sondern in der "existentiellen Dringlichkeit, ein Leben zu flicken". FR-Kritiker Arno Widmann hatte erst Angst das Buch zu lesen, fand es aber bei der Lektüre dann außerordentlich anregend zum Nachdenken. Was Lançon schafft, meint FAS-Kritikerin Julia Encke, ist "ergreifender, dichter und literarischer" als so mancher Roman in dieser Saison.

Gelobt wurden außerdem Asli Erdogans "Haus aus Stein" (bestellen), ein Roman, in dem die türkische Schriftstellerin ihre Erfahrungen im Gefängnis Bakırköy-Istanbul quasi als Prosagedicht schildert, wie die beeindruckten Kritiker notieren. Außerdem Marco Dinics "Die guten Tage" (bestellen), ein Roman, in dem SZ-Rezensent Burkhard Müller den Schmerz spürt, den der Jugoslawien-Krieg bei dem 1988 geborenen österreichischen Schriftsteller hinterlassen hat, sowie Jakuta Alikavazovics "Das Fortschreiten der Nacht" (bestellen), auch dies eine Auseinandersetzung der in Frankreich geborenen Autorin mit dem Bosnienkrieg, der die Eltern versehrt hat, und Katerina Tuckovas Roman "Gerta. Das deutsche Mädchen" (bestellen), der vom Schicksal der Deutschtschechin Gerta erzählt, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den sogenannten "Brünner Todesmarsch" geschickt wird. In der FR lobt Susanne Lenz die gründliche Recherche der Autorin, die die späten Auswirkungen der Vertreibung deutlich werden lässt - gerade weil Gerta am Ende in Tschechien bleibt, wo sie bitter für die Sünden der Nazis bezahlen muss.


Expeditionen

Von Entdeckerlust erzählt uns die niederländische Autorin Marente de Moor in ihrem dritten Roman "Aus dem Licht" (bestellen), der dem vergessenen Filmpionier Louis Aimé Augustin Le Prince gewidmet ist. Le Prince, bei de Moor: Valery Barré, drehte lange vor Edison und den Brüdern Lumiere den ersten Film, verschwindet aber spurlos, als im Jahr 1890 nach Frankreich reist, um seine Erfindung zum Patent anzumelden. Wie sich die Autorin der erfindungs- und okkultismusreichen Epoche nähert, dabei reale Ereignisse und unheimliche Momente mit subtilem Witz und sanftem Gegenwartsbezug wie in einem "Schauerroman" verquickt, findet SZ-Kritikerin Meike Fessmann so brillant wie lehrreich. In der FAS lobt Peter Körte, wie die Moor mit allerlei Science-Fiction-Einfällen und Fantasie erzählt, wie sich die Wahrnehmung der Welt veränderte, als die Bilder in Bewegung gerieten.

Als erhellendes Buch zur aktuellen Raubkunstdebatte wurde Kenah Cusanits Roman "Babel" (bestellen) gefeiert, den wir bereits in unserem Bücherbrief des Monats Februar empfohlen haben. In der Zeit pries Ijoma Mangold Buch als so intelligente wie flirrende, an Ambivalenzen reiche Mentalitätsgeschichte über deutschen Wissenschaftsheroismus, Orientbegeisterung und Kulturimperialismus. Die Rezensenten in FAZ, FR, NZZ, taz und Dlf stimmten in den Lobgesang ein. Für SZ-Kritiker Thomas Jordan ging das Konzept, lexikalisches mit fiktionalem Erzählen zu verbinden allerdings nicht auf, ihm wird hier zu viel doziert. Und FAS-Kritikerin Julia Encke ging die Sprachakrobatik des Romans gewaltig auf die Nerven. Von einer wissenschaftlichen Expedition erzählt uns auch Hanya Yanagihara in ihrem 2013 im Original erschienenen und nach ihrem großen Erfolg "Ein wenig Leben" nun auch auf Deutsch publizierten Debütroman "Das Volk der Bäume" (bestellen): Die wahre Geschichte um den 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten und 1997 wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Mediziner und Virologen Daniel Carleton Gajdusek nimmt die amerikanische Autorin zum Ausgangspunkt, um ein reiches "fiktionales Gebäude" um Genie und Versagen, Ausbeutung und Kindesmissbrauch zu entwickeln, lobt in der NZZ Angela Schader. Sogkraft, bildreiche Naturbeschreibungen, ein Gespür für menschliche Abgründe und beste Kenntnis über die Kabale im Forschermilieu attestiert Dlf-Kritiker Christoph Vormweg der Autorin.

Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf neue Ausgaben der Tagebücher und Briefe von Alexander von Humboldt: In der SZ empfiehlt Bernhard Malkus das von Ottmar Ette herausgegebene, kommentierte und vor allem klug ausgewählte "Buch der Begegnungen" (bestellen), das auch Arno Widmann für den Perlentaucher bereits "Vom Nachttisch geräumt" hat. Und für die NZZ hat sich Cord Aschenbrenner mit Humboldt auf "Russland-Expedition" (bestellen) begeben: Während er dem Forscher anhand von Briefen und Berichten seiner Reisegefährten auf der Suche nach Gold- und Platinvorkommen im Ural folgt, zeigt sich der Rezensent fasziniert von Humboldts natur- und völkerkundlichen Beobachtungen und seinen Einblicken in die sozialen Verhältnisse in Russland.


Unter dem Brennglas

Provinz-Romane, meist getarnt als Abgesänge auf das gute alte Landleben, erfreuen sich in Deutschland größter Beliebtheit. In "Tierreich" (bestellen), seinem düsteren Roman über eine Bauernfamilie, die hundert Jahre lang am äußersten Rande der Existenz und des Elends auf dem Land lebt, erzählt uns der französische Autor Jean-Baptiste Del Amo indes, was ein Leben im "Einklang" mit der Natur tatsächlich bedeuten kann: Man schuftet, kriegt Kinder, leidet und kämpft, folgt den Instinkten wie die Tiere, die man züchtet und ausbeutet - und vor denen man sich ekelt, resümiert Dlf-Kultur-Kritiker Dirk Fuhrig, der den Roman nicht zuletzt seiner drastischen und mächtigen Sprache preist. Bildreichtum und Virtuosität attestiert auch Roman Bucheli in der NZZ dem Roman, der ihm auch von der Unterwerfung erzählt hat, die das Verhältnis zwischen Mensch und Tier im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Barbara Schulz lobt im Spiegel zudem die "plastische und lustvolle" Übersetzung von Karin Uttendörfer.

Anke Stelling hat mit ihrem Roman "Schäfchen im Trockenen" (bestellen) den Leipziger Buchpreis gewonnen. So wütend, rasant und "mit Wirklichkeit beschmutzt" hat lange niemand mehr das Berliner Selbstverwirklichungsmilieu auseinandergenommen, lobt in der SZ Jens Bisky nach seiner ebenso "atemlosen" wie "empörten" Lektüre der Geschichte um die im Stuttgarter Mief der Achtziger aufgewachsene Resi, die inzwischen mit Künstler-Mann und vier Kindern im Prenzlauer Berger lebt und nach der Wohnungskündigung mit Existenz- und Abstiegsängsten kämpft, während es sich ihre Freundinnen in ihren von den Eltern geschenkten Eigentumswohnungen gemütlich machen. Im Dlf liest Julia Schröder nicht nur ein durch und durch "desillusionierendes" Buch, sondern auch eine herrlich düstere Satire mit wunderbar charakterisierenden Dialogen und eine poetische Selbsterkundung. taz-Kritikerin Susanne Messmer sieht bei Stelling gar die Klassenfrage mit "präziser Wut" gestellt. Das kann Zeit-Kritikerin Iris Radisch partout nicht nachvollziehen: Wenn Bobos nach Berlin-Ahrensfelde ziehen müssen, ist das noch kein Klassenkampf, hält sie in einer schneidenden Kritik an diesem Roman fest, den sie auch literarisch unbedarft findet.

Von der prekären sozialen Wirklichkeit im Berliner Wedding berichtet uns Nicola Karlsson derweil in ihrem Roman "Licht über dem Wedding" (bestellen), der in parallel gereihten Geschichten von Alkoholismus, Drogen, Armut und Einsamkeit erzählt. Schonungslos, intensiv und wertvoll nennt Dlf-Kritiker Björn Hayer den Roman, für den er gleich das Genre der "neuen Ernsthaftigkeit" ausruft. In der FAZ lobt Hannah Bethke die klischeefreien und verstörenden Figuren. Von den KritikerInnen in FAZ, SZ, NZZ, FR, Zeit, taz, Dlf und Dlf-Kultur ohne Einschränkungen empfohlen wurde auch Matthias Nawrats Berlin-Porträt "Der traurige Gast" (bestellen), in dem ein namenloser Erzähler im Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche in verschiedenen Episoden Alltagsgeschichten über Angst, Verunsicherung und Einsamkeit aus dem Leben seiner Mitmenschen lauscht. Außergewöhnliche Sogkraft, nüchterne Bedächtigkeit, eigentümlichen Zauber und nachhaltige Wirkung attestieren die KritikerInnen dem Roman.


Kammerspiele

Als brillante und brandaktuelle Satire empfohlen wird Jörg Uwe Albigs Roman "Zornfried" (bestellen), der sich der Frage widmet, ob und wie man "mit Rechten reden" soll. Ein linksliberaler Journalist namens Jan Brock landet bei seinen Recherchen zu dem an Stefan George angelehnten Dichter Storm Linné auf Burg Zornfried, wo dieser mit anderen Vordenkern der Neuen Rechten lebt. taz-Kritiker Ulrich Gutmair und Zeit-Kritiker Johannes Franzen staunen allein darüber, wie Albig George-Gedichte so verdammt gut parodiert, dass sie als Originale durchgehen könnten. Auch weitere Anleihen, etwa an Götz Kubitschek und Co. und ihr auratische Brimborium seien unverkennbar. In der FAZ hebt Cord Riechelmann hervor, wie sparsam und diskret Albig Anspielungen streut. Vor allem aber bewundern die Rezensenten, wie der Autor ihre Zunft aufs Korn nimmt: Wenn Albigs Held auf der Suche nach der besten (Home-)Story die Distanz verliert, werde "die bedenkliche Nähe von Neurechten und Medien verhandelt, die vor allem dazu dient, die beiderseitig existierende Gier nach Aufmerksamkeit zu stillen", lobt in der Zeit Johannes Franzen, dem der "elegant" geschriebene Roman nur ein wenig zu kurz geraten ist. Im Dlf-Kultur spricht der Autor über sein Buch.

Makaber, grotesk und hochmusikalisch, also sehr sehr österreichisch nennt FAZ-Kritikerin Lerke von Saalfeld Evelyn Grills Roman "Der Begabte" (bestellen). Erzählt wird die Geschichte eines begabten kleinen Jungen, im Städtchen nur der "kleine Mozart" gerufen, der bei den Großeltern aufwächst, bis Opa ihn dazu bringt, die Oma zu töten. Aus dem Gefängnis blickt er auf die Ereignisse zurück. Saalfeld bewundert nicht zuletzt die Kunstfertigkeit, den absoluten Mangel an Pathos und Sentimentalität, mit denen Grill dieses düstere Geschehen aus einem tatsächlichen Vorfall herauspräpariert und die Provinzidylle langsam in eine präzise Gruselerzählung verwandelt. Bereits in unserem Bücherbrief des Monats März haben wir Katharina Mevissens Debütroman "Ich kann dich hören" (bestellen) empfohlen, in dem ebenfalls die Musik im Mittelpunkt steht: FR-Kritikerin Cornelia Geißler war ganz betört von dieser komplexen "Komposition für Kammerorchester" um einen türkischstämmigen Cellisten, der sich in Musik und Sprachlosigkeit zurückzieht, bis er zufällig ein Diktiergerät findet, dass ihn zum Ohrenzeugen einer fremden Beziehung macht. Mevissen gelinge es, nur Hörbares in Schrift und eine rhythmisch facettenreiche Sprache zu übersetzen, lobt Geißler.

Panoramen

Keiner geringeren Vorlage als Shakespeares "König Lear" bedient sich die britische Autorin Preti Taneja in ihrem Debütroman "Wir die wir jung sind" (bestellen) - und die KritikerInnen applaudieren: Wie Taneja aus den fünf Perspektiven der fünf Nachkommen eines indischen Großunternehmers und seines Geschäftspartners von einem Macht- und Geschlechterkampf erzählt und dabei die junge indische Upper-Class in ein traditionelles Königsdrama fasst, findet Katharina Granzin in der FR bewundernswert. Als literarische Entdeckung würdigt auch Johannes Kaiser im Dlf-Kultur die Autorin, die ihm hier ein wortgewaltiges, dramatisch und spannend gezeichnetes Sittenbild der indischen Gesellschaft liefert. Ein großes Familienpanorama beschert uns auch der französische Autor Pierre Lemaitre, der in "Die Farben des Feuers" (bestellen) die Geschichte des bereits aus seinem Roman "Wir sehen uns dort oben" bekannten Hauses Pericourt forterzählt: Der Roman über den Absturz einer Familie aus der Haute Bourgeoisie ins Kleinbürgertum während der Zwischenkriegszeit gehört laut FAZ-Kritikerin Lena Bopp zum Besten, was die Unterhaltungsliteratur zu bieten hat: Ein Arsenal von sündigen, psychologisch genau gezeichneten Figuren und ein kriminalistisches Finale!

Aura Xilonens Debütroman "Gringo Champ" (bestellen) feiert Roman Bucheli in der NZZ als wort- und klangmächtige Sinfonie von "urwüchsiger Schönheit". Erzählt wird die Geschichte des jungen Mexikaners Liberio, der in die USA flieht, sich zum Champion hochboxt und in einer Buchhandlung die Klassiker der Weltliteratur entdeckt. Bucheli bewundert Xilonens Vermögen in einer Mischung aus Pathos und Derbheit von Gewalt und Hoffnung, Scheitern und Neuanfang zu erzählen. In der SZ hebt Nicolas Freund vor allem die Übersetzung von Susanne Lange hervor, die Xilonens Kunstsprache aus archaischem Literaturspanisch, popkulturellem Amerikanisch und folkloristischem Mexikanisch gekonnt ins Deutsche übertragen habe. Für Dirk Fuhrig (Dlf-Kultur) hätten es allerdings einige Klischees weniger sein dürfen. Als atemberaubendes Panorama der Megacity Sao Paulo in den sechziger bis achtziger Jahren empfiehlt ebenfalls im Dlf-Kultur Marko Martin Luiz Ruffatos fünfteiligen Romanzyklus "Vorläufige Hölle", dessen vierter Teil "Das Buch der Unmöglichkeiten" (bestellen) soeben auf Deutsch erschienen ist. Wenn der Autor stilistisch kühn, "mit ethischem Kompass, doch ohne sozialromantischen Moralismus" die Schicksale seiner aufstiegswilligen Figuren schildert, die letztlich doch am Glücksversprechen der riesigen Stadt scheitern, fühlt sich Martin an James Joyce und John Don Passos erinnert.

Lyrik

Das polyglotteste, ja polylibidinöseste Buch der Saison ist die von Federico Italiano und Jan Wagner herausgegebenen "Grand Tour" (bestellen) durch das Europa der Poesie. In 47 Sprachen! Paul Ingendaay, Spanienkorrespondent des FAZ-Feuilletons, schwelgt in den Entdeckungen, die er in diesem Wimmelband macht. Wir schwelgen auch, gleich das erste zufällige Aufklappen des Buchs offenbart den weißrussischen Dichter Zmicier Vishniou mit den Zeilen: "Ich betrachte dich im Fernsehen. Du wirst älter, mein Diktator. / Deinen Kopf schmücken Falten und Geschwülste. Auch ich / werde älter, neige zu Schwellungen, nehme eine gelbliche / Farbe an. Beide ähneln wir überreifen Gurken. Bald werden / wir altersschwache Schildkröten sein. Das graue Haar wird wie / Blattwerk von uns abfallen. Gemeinsam werden wir sterben." Muss man Weißrusse sein, um dieses Gedicht zu verstehen, oder alt oder Europäer? Eben. Ingendaay hat das sofort verstanden: "Kindheiten gibt es überall, Schmerz auch, Jubel ebenso. Und die so verschiedenen Sprachen: Trennen sie? Verbinden sie? Am Ende tun sie beides. Weisheit wird gewässert von ursprünglicher Ahnungslosigkeit, dem griechischen Staunen, dem Anfang der Philosophie. Das ist unser struppiges, lärmendes, hinreißendes Europa, und vor dieser Doppelbewegung vibriert der ganze Band."

Nach der Lektüre angefixt, finden Sie mehr Stoff in der Tagtigall von Marie Luise Knott.

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