9punkt - Die Debattenrundschau

Die Uhren wieder auf Null

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2019. "Ein Affront gegen die Demokratie", titeln Financial Times und Guardian gleichlautend: Mit einem Verfahrenstrick hebele Boris Johnson die britische Demokratie aus. Werden die Proteste in Hongkong durch Kappung des Internetzugangs begraben, fragt Techcrunch - aber auch für die Pekinger Zentrale stünde hier enorm viel auf dem Spiel. Vor achtzig Jahren überfiel Hitler zusammen mit seinem Kumpel Stalin Polen. In Deutschland kräht kein Hahn danach, konstatiert die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.08.2019 finden Sie hier

Europa

Boris Johnson lässt das britische Parlament pausieren, damit es ihm seinen schönen Brexit nicht kaputtmacht. Formal hat er durchaus das Recht, die Sitzungsperioden des Parlaments zu beenden, schreibt Ralf Sotschek in der taz. Aber "es wäre das erste Mal seit 1948, dass die Prorogation angewendet wird, um die Kontrollfunktion des Parlaments auszuhebeln. Damals griff die Labour-Regierung zu diesem Mittel, um die Lords im Oberhaus daran zu hindern, die geplante Verstaatlichung der Stahlindustrie zu verzögern."

"Boris Johnsons Aussetzung des Parlaments ist ein Affront gegen die Demokratie", heißt es im glasklaren Editorial der Financial Times zu Johnsons Coup. "Es gibt keine gesetzliche oder administrative Rechtfertigung für eine solche fünfwöchige Einstellung parlamentarischer Aktivität vor einer Queen's Speech. Johnson benutzt konstitutionelle Schikanen, um ein Parlament zu torpedieren, dessen Mehrheit er gegen sich weiß." Über diesen Link ist der Artikel zu lesen. Der Guardian-Leitartikel hat dieselbe Überschrift wie der der Financial Times: "Ein Affront gegen die Demokratie." Was die "Prorogation" im Detail heißt und welche Verfahrenstricks Johnson benutzt, schildert Alex Wickham in Buzzfeed.

"Johnson lässt seine Maske endgültig fallen", schreibt auch Deike Detering im Tagesspiegel: "Tatsächlich stellt die bevorstehende Kaltstellung des Parlaments einen undemokratischen Akt dar, der in der jüngeren britischen Geschichte einzigartig ist. Johnson nutzt kaltblütig die Tatsache aus, dass Großbritannien über keine geschriebene Verfassung verfügt. Ob die vom Premierminister verfügte Zwangspause möglich ist oder nicht, ist unter Juristen umstritten. Eine Aussetzung von Parlamentssitzungen, wenn auch von kürzerer Dauer, hat es in britischen Geschichte bereits gegeben - allerdings niemals zu einem derart entscheidenden Zeitpunkt wie heute."

Und in der SZ meint Cathrin Kahlweit: "Die unterschwellige Botschaft funktioniert, man kennt das mittlerweile aus anderen Ländern: Wir sind das Volk, die Abgeordneten sind Volksfeinde. Das aber ist Populismus pur. Eine Regierung, die dem Volk Rechenschaft schuldig ist, demontiert aus Kalkül die gewählten Volksvertreter. Johnson mag diesen Machtkampf gewinnen. Aber der Preis ist sehr hoch."

In der Zeit unterhalten sich vier HistorikerInnen, die in der DDR aufwuchsen über Erinnerung und Identität. Annette Schuhmann vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam beschreibt die DDR als "Übergangsgesellschaft": "Denn genau das war die DDR: ein Übergang vom 'Faschismus', der nie wirklich aufgearbeitet wurde, zum Kommunismus, der eine Zukunftsverheißung blieb. Die DDR war das Niemandsland dazwischen, eine Gesellschaft, die sich von Feinden umstellt sah, innen wie außen. Alles Mögliche ließ sich mit diesem transitorischen Zustand rechtfertigen. Dass es keine Reisefreiheit gab, dass man bestimmte Bücher nicht lesen durfte. Das hatte, überspitzt gesagt, zur Folge, dass es das Leben in der Gegenwart kaum gab und Verantwortlichkeiten permanent verschoben wurden."

Weiteres: Mit dem undifferenzierten Bild, das die SPD aktuell von "den Reichen" zeichnet, fällt sie hinter Marx zurück, konstatiert Matthias Heine im Welt-Feuilleton und blickt auf die Geschichte der Bewertung von Reichtum zurück.
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Medien

Seit einigen Monaten geht die syrische Regierung auch gegen Journalisten und Influencer vor, die bis vor kurzem noch als regimetreu galten, es aber wagten, vorsichtige Kritik zu äußern, meldet Moritz Baumstieger in der SZ: "Dass das Regime nun gegen seine eigenen Propagandisten vorgeht, liegt paradoxerweise in den militärischen Erfolgen begründet, die es mit Unterstützung Irans und Russlands erringen konnte. Damaskus hat wieder die Kontrolle über fast alle einst von Aufständischen beherrschten Gebiete, nur in Idlib im Norden des Landes wird noch äußerst heftig gekämpft. Und aus dem selben Grund, aus dem das Regime in zurückeroberten Städten die gestürzten Statuen von Hafiz al-Assad wieder errichten lässt, dem Vater und Vorgänger des heutigen Diktators, versucht es auch in der Medienlandschaft die Uhren wieder auf Null zu stellen: Wir mögen eine Krise durchlebt haben, so die Nachricht, geändert hat sich im Land jedoch nichts."
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Politik

Werden die Proteste in Hongkong durch Kappung des Internetzugangs begraben? Die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam hat vorgestern mit dem Notstandsgesetz gedroht, berichtet Catherine Shu bei Techcrunch: "Das seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr angewendete Gesetz gibt der Regierung umfassende Befugnisse, einschließlich der Möglichkeit, Veröffentlichungen und Informationen einzuschränken oder zu zensieren. Im Gegensatz zu Chinas 'Great Firewall' und der routinemäßigen staatlichen Zensur von Internetdiensten ist das Internet in Hongkong derzeit offen und weitgehend unbeschränkt." Gegen die Einschränkung protestiert schon jetzt die Provider- Und Datenindustrie - und macht durch ihre Argumentation deutlich, wie groß die Bredouille ist, in der die Pekinger Zentrale steckt: Der Branchenverband HKISPA schreibt in einer Protestnote: "Hongkong ist der größte Kernknoten des asiatischen Glasfasernetzes und beherbergt den größten Internetknoten der Region. Hier befinden sich heute mehr als hundert Rechenzentren, die von lokalen und internationalen Unternehmen betrieben werden, und es werden mehr als 80 Prozent des Datenverkehrs für das chinesische Festland übertragen." Der Guardian berichtet unterdessen über verdächtige Truppenbewegungen an Hongkongs Grenze.

Weiteres: Die Obama-Regierung hatte beschlossen, die schwarze Bürgerrechtlerin Harriet Tubman auf den 20-Dollar-Schein zu drucken, unter Trump wird dieser Beschluss nun ausgesetzt, melden Anja Steinbuch und Michael Marek in der NZZ:  "Die offizielle Begründung: Man wolle die Fälschungssicherheit garantieren. Aber hier handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Umgestaltung einer gewöhnlichen Banknote. Es geht um die Wahl zwischen dem Ex-Präsidenten und Sklavenhalter Andrew Jackson (der den jetzigen 20-Dollar-Schein ziert) und der Freiheitskämpferin Harriet Tubman."
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Stichwörter: Hongkong, Tubman, Harriet

Gesellschaft

Die Jungen verlassen den Osten und die Alten bleiben einsam zurück, schreibt Sebastian Turner im Tagesspiegel. Die Einsamkeit "grassiert im Osten, wie sich Westdeutsche das nicht vorstellen können. Mit dem Bankrott der DDR ging nicht nur ein großer Teil der DDR-Betriebe unter, sondern mit ihnen auch zahllose Orte der Gemeinschaft und Geselligkeit, weil sie - anders als im Westen - betrieblich organisiert waren. Als im Westen strukturbestimmende Großbetriebe wie die AEG, Borgwart oder Triumph-Adler untergingen, verschwanden nicht gleichzeitig auch der Schützenverein, der Fußballklub und die Tanzgruppe. Ganz im Gegenteil, sie konnten den Entlassenen Halt und Gemeinschaft bieten. Im Osten ist dagegen mit den Firmen immer auch ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens erloschen. Mit dem Kombinat verschwand erst die Gemeinschaft und dann die nächste Generation."

Immerhin, es gibt bei den Grünen eine Diskussion um Multikulti. Jürgen Roth von den "Säkularen Grünen" wendet sich bei hpd.de gegen Positionen in seiner Partei, die das Problem einseitig bei der "Islamophobie" der Mehrheitsgesellschaft, aber nicht in totalitären Tendenzen im Islam und seinen Verbänden sehen: "Jede unkritische Verharmlosung - gerade auch orthodox-reaktionärer Umtriebe - führt fast zwangsläufig zu dem Fehlschluss, wir hätten es - ausschließlich - mit einem von der nationalen Rechten geschürten Konflikt zwischen dem Islam und der Mehrheitsgesellschaft zu tun. Die desintegrative Rolle - gerade - der muslimischen Verbände wird dabei konsequent ausgeblendet und verniedlicht. Es geht nicht nur um den Erdogan-Fanclub von Ditib."

Laut dem erst im Verlauf des heutigen Tages veröffentlichten Gutachten des Tübinger Verfassungsrechtlers Martin Nettesheim ist ein Kopftuchverbot für Mädchen an Grundschulen rechtlich möglich, meldet die Berliner Zeitung mit dpa: "Das Kopftuch sei ständig sichtbarer Ausweis der Religionszugehörigkeit. 'Derartige Bekleidung' führe zu Segmentierung und Trennung, lasse gerade bei jungen Menschen Vorstellungen von Unterschiedlichkeit aufkommen und führe gegebenenfalls auch zur sozialen Ausgrenzung und zur Diskriminierung. In der Schule geht es nach Ansicht von Nettesheim auch um 'Erziehung zur Freiheit'."

In der NZZ verteidigt der Kulturtheoretiker Jan Söffner das Erbe des Jahres 1969: Wo 1968 noch die "Weltrevolution" angestrebt wurde, setzte man ein Jahr später auf "Partizipation" und Inklusion, so Söffner: "Durch ihre neue, meist unreflektierte 'involutive' Strategie erreichten die '69er' indes die Verwirklichung fast all ihrer Anliegen. Pazifismus, Toleranz und Emanzipation, basisdemokratische Formen der Politik, kreative Formen der Selbstverwirklichung sowie der Abbau von Hierarchien und patriarchalen Strukturen setzten sich auf breiter Linie durch."  Aktuell aber "stößt das 'lange 1969' an Grenzen, seine Grundhaltungen schwinden. Es ist leicht zu erkennen, dass inklusive und partizipative Demokratien nicht mehr der natürliche Zielpunkt der Geschichte sind. Mehr noch: Es scheint ein erstaunliches Misstrauen gegenüber den inklusiv denkenden 'Eliten' entstanden zu sein - von Populisten werden sie bestenfalls als naive 'Gutmenschen' und schlimmstenfalls als Handlanger einer weltweiten Verschwörung angesehen."
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Geschichte

Achtzig Jahre Hitler-Stalin-Pakt. Achtzig Jahre Kriegsbeginn. Achtzig Jahre Zerstörung Polens.  Und in Deutschalnd, das sich seiner Vergangenheitsbewältigung rühmt, kräht kein Hahn danach, konstatiert Stephan Lehnstaedt in der taz: "Es gibt in Deutschland keine offizielle Veranstaltung von Bundestag oder Bundesregierung. Einzelne zivilgesellschaftliche Initiativen führen lokale Aktionen durch, es gibt vereinzelt Podiumsdiskussionen, und auch manche Gedenkstätte wird tätig. Mehr oder weniger ist damit allerdings die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kriegsbeginn abgehakt, denn tatsächlich findet hierzulande aus diesem Anlass keine einzige Konferenz statt. Der 'Polenfeldzug' ist sogar für deutsche Historiker*Innen kein Thema mehr."

Auf der Westerplatte soll ein Museum entstehen, das an jene Woche im September 1939 erinnert, als 217 polnische Soldaten auf der kleinen Halbinsel die Angriffe der Deutschen erfolgreich abwehrten, schreibt Florian Hassel in der SZ. Zuständig soll Mariusz Wojtowicz-Podhorski sein, patriotischer Militärfan und Hobbyhistoriker, der auch Führungsmitglied des umstrittenen Weltkriegsmuseums ist (Unsere Resümees): "Dort hat Paweł Machcewicz, der im April 2017 entlassene Gründungsdirektor und Co-Autor der Ausstellung des Weltkriegsmuseums, bis heute '18 tendenziöse Änderungen oder gar Fälschungen unserer Ausstellung' gezählt."
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