05.11.2018. Dissidentinnen des Feminismus und des Patriarchats, Genderwechsel eines Orbanverehrers, Sklaverei in Europa, Dauerbrenner Integration, russische Trolle und chinesische Software.
FeministischesJessa Crispin ist bereits als Autorin des leider eingestellten
Blog of a Bookslut mit sehr prononcierten Ansichten in Erscheinung getreten. Mit ihrem Manifest
"Warum ich keine Feministin bin" hat sie dem
Mainstream-Feminismus den Fehdehandschuh hingeworfen. Sie attackiert darin eine Lifestyle-Ideologie, die es beim reinen Bekenntnis belässt und die es eher honoriert, wenn sich
Beyoncé oder Ivanka Trump mit Frauenpower-Attributen schmücken, als wenn eine Musikerin wie
Björk ihren einen eigenen Weg geht, sich aber nicht als Feministin bezeichnen möchte. Und da hat sie noch nichts über das Stricken von schicken
rosa Pussyhats gesagt! Im Interview mit der
Jungle World spricht Crispin über ihr Buch. In der
taz kommt Nina Apin die Breitseite gegen den
unpolitischen Feminismus nicht nur sehr gelegen, sie hat sie auch mit Vergnügen gelesen: "Crispins Suada hat nicht nur verbal Schmackes, sondern auch intellektuellen Charme." Im
Guardian bespricht Susanne Moore Crispins Manifest mit Begeisterung, es erinnerte sie daran, wieder größer, kritischer und utopischer zu denken. In
Eurozine feiert Aloma Rodriguez Crispins Intervention. Ihr ist besonders wichtig, wie Crispin gegen ein
narzisstisches Frauenbild anschreibt, das sich selbst immer ins Recht setzt. Solange der Feminismus solche
Dissidentinnen hat, kann es ihm nicht schlecht gehen!
Für ihren Roman
"Dann schlaf auch Du" erhielt die französisch-marokkanische Schriftstellerin
Leila Slimani vor zwei Jahren den Prix Goncourt, in diesem Jahr schlug ihr Buch
"Sex und Lügen" ein wie eine Bombe. Slimani schreibt in dem Essay über die
Sexualität von Frauen in der arabischen Welt, über Verbot, Unterdrückung und die totale Sex-Obsession der Islamisten.
L'Obs und
Télérama widmeten der Autorin nicht nur Titel, sondern ganze Dossiers.
France Info sah nach dem Buch die marokkanische Gesellschaft als Geisel in der Hand von
Religion und Patriarchat. Online findet man eine
hymnische Besprechung im
Figaro. In der
taz war Edith Kresta sehr beeindruckt davon, wie Slimani die sexuelle Frustration einer Gesellschaft erforscht, die aus dem religiösen Konservatismus herrührt. Im
Zeit Magazin porträtiert Khuê Phạm die aufregende Autorin und zitiert dabei auch viele Stimmen von
Frauenärztinnen,
Radiomoderatorinnen oder Vergewaltigungsopfern, die Slimani in ihrem Buch zu Wort kommen lässt.
Unbedingt lesen sollen wir auch
Annett Gröschners "Berolinas zornige Töchter" (das man nur direkt beim FFBIZkann), in dem die immer sehr lesenswerte Autorin die Geschichte der
Berliner Frauenbewegung erzählt, und zwar in Ost und West. Grandios findet Heide Oestreich in der
taz Gröschners
Rechercheleistung und versichert, dass sie mit ihrem sympathisierenden Blick wirklich beiden Seiten gerecht wird. In der
SZ bewundert Jens Bisky, wie Gröschner die
Gelassenheit der Historikerin mit dem
Zorn der Zeitgenossin unter einen Hut bringt. Nachdrücklich empfehlen die KritikerInnen auch die von
Lina Muzur herausgegebene Anthologie
"Sagte sie" in der Autorinnen wie Nora Gomringer, Helene Hegemann, Margarete Stokowski oder Anke Stelling von Übergriffen, Demütigungen und Machtmissbrauch berichten. Ersetzt unzählige Leitartikel, meint Gerd Matzig in der
SZ.
In die
"Die Perlenohrringe meines Vaters" hat die amerikanische Feministin
Susan Faludi (
"Backlash") die Geschichte ihres
ungarisch-jüdischen Vaters niedergeschrieben, der sich nach der Trennung von seiner Familie
in eine Frau umwandeln ließ und als feine Dame ins tolle neue Ungarn des Viktor Orbán zurückkehrte. Allein schon die Geschichte ist in ihrer Komplexität unfassbar, aber wie Faludi dabei auch den Begriff der
Identität ad absurdum führt, hat
SZ-Kritikerin Marie Schmidt umgehauen. Der
Guardian feierte das Buch als schlichtweg brillant und bewegend, mutig und fair. Bemerkenswert findet Patricia Hecht in der
taz auch
Erica Millars "Happy Abortions" Aber keine Bange, so provokant wie der Titel ist das Buch nicht, beruhigt die Kritikerin, sondern eine fundierte Erkundung des Themas und Geschichte weiblicher Selbstbestimmung.
Migration Die Sozialanthropologin
Jeanette Erazo Heufelder erzählt in ihrem Buch
"Welcome to Borderland" die Geschichte des
mexikanisch-amerikanischen Grenzlandes, das sich nicht mal darauf einigen kann, wie der Fluss heißt, der die beiden Länder trennt - geschweige denn verbindet: In den USA heißt er
Rio Grande, in Mexiko
Rio Bravo "Fulminant" findet etwa Volker Breidecker in der
SZ das Buch, weil Heufelder darin nicht nur die Lebenswelten südlich und nördlich der Grenze erkundet, sondern auch Mythologie und Historie. Aber auch in der
FAZ ist Michael Hochgeschwender voll des Lobes für die Autorin, die in ihrem facettenreichen Buch Film, Theater und Romane ebenso sachkundig behandele, wie Drogenkriminalität und die Gewalt der Kartelle oder den nie verwundenen Konflikt um
Texas,
Arizona und
New Mexiko.
Bereits im Bücherbrief vorgestellt haben wir den Band
"Bittere Orangen" in dem der in Innsbruck lehrende Ethnologe
Gilles Reckinger die Arbeitsbedingungen afrikanischer Migranten im Süden Italiens beschreibt. Dort, auf den
Orangenplantagen Kalabriens, sah er das
neue Gesicht der Sklaverei in Europa. Afrikanische Arbeiter schuften dort für gerade mal 20 Euro am Tag, anders gerechnet bekommen sie für ein Kilo Orangen zwei Cent. Meist sind es Männer, rechtlose Frauen werden eher in die Sexarbeit gedrängt. Im Interview mit Tanya Lieske
spricht der Ethnologe im
Deutschlandfunk über
sein Forschungsprojekt und weist auch auf eine schockierende Tatsache der italienischen Verteilungspolitik hin, die natürlich auch eine Koinzidenz sein kann: "Die meisten Lager, in denen Männer untergebracht sind, werden sich eher im Süden befinden, während die Lager, in denen gemeinsam reisende Familien oder eben Frauen untergebracht sind, tendenziell
am Rande der Großstädte sich befinden und mehr im Norden. Es liegt der Verdacht nahe, dass hier sozusagen diese
Arbeitsmärkte eben gezielt bespielt werden." Hingewiesen sei auch noch einmal auf
William T.
Vollmanns Reportageband
"Arme Leute" in dem der amerikanische Schriftsteller und Journalist
William T. Vollmann von Begegnungen mit
armen Menschen in aller Welt berichtet, in Thailand, Mexiko, Afghanistan, Kolumbien, Kenia, China oder Japan. Mit einer so schönen wie klugen Besprechung
empfiehlt Angela Schader in der
NZZ den Band, von dem sie nicht nur viel übers
Reporterethos lernte, sondern auch über die Armut. "Armut heißt, dass einem ein Teil
dessen zusteht,
was ich besitze", zitiert sie etwa eine doppelbödige Formulierung Vollmanns.
In Frankreich wurde der frühere Afrika-Korrespondent von
Libération und
Le Monde Stephen Smith stark kritisiert für sein Buch
"Nach Europa!" in dem er gewaltige Wanderungsbewegungen von Afrika nach Europa prognostiziert. Und auch in der
SZ möchte Judith Raupp die Vorhersagen des Autors mit Vorsicht genießen, demzufolge in dreißig Jahren 140 Millionen Afrikaner in Europa leben werden. Erhellend und wichtig findet sie allerdings, was Smith über die Lebensbedingungen in vielen afrikanischen Ländern berichtet. Im
Zeit-Interview
spricht Smith über die Bevölkerungsentwicklung, den wachsenden Migrationsdruck und die eigentlich
unlösbaren Aufgaben, vor denen das
postkoloniale Afrika steht. In
Libération wehrte sich Smith gegen den Vorwurf, die Debatte zu "
verlepenisieren", in
La Vie des idées widersprach der Migrationsforscher François Héran sehr rigoros Smith' Zahlen und Schlussfolgerungen.
Wendy Browns Studie
"Mauern" erschien bereits im Frühjahr, in den USA sogar schon 2010. Die in Berkeley lehrende Star-Intellektuelle verfolgt darin die These, dass Mauern Zeichen
schwindender Souveränität sind, dass sich Menschen abgrenzen, wenn sie ihr Vertrauen in Dialog und Freiheit verlieren und dass Mauern mehr als offene Grenzen Gewalttätigkeit, Drogen- und Menschenhandel befördern.
SZ,
NZZ und
Zeit fanden das Buch überzeugend, hellsichtig und aufschlussreich. Die
FAZ dagegen reagierte geradezu allergisch auf Browns
kritischen Theorie-Sound. Der britische Reporter
Tim Marshall erkundet in seinem Buch
"Abschottung" das Zeitalter der Mauern und Grenzen. Die
NZZ folgt ihm fasziniert, solange er konkret von den Trennlinien der Welt berichtet, zwischen
Indien und Pakistan etwa oder
Südafrika und Simbabwe. Mit Skepsis betrachtet sie jedoch seinen Versuch, die Abschottung zur Signatur unserer Zeit zu stilisieren. Die
Financial Times fragt zudem, ob Mauern in früheren Zeiten nicht eine viel größere Rolle spielten.
Deutsch-Deutsch-DeutschesÜberaus wertvoll finden die Rezensenten den Gesprächsband
"Wer wir sind" in dem sich die eher linke Autorin
Jana Hensel und der eher konservativen Soziologen und Direktor der Ernst-Busch-Schauspielschule
Wolfgang Engler über ostdeutsches Leben austauschen. Nicht nur weil die Kritiker darin viel über
Umbruchserfahrungen lernen, sondern auch weil die beiden so gewinnbringend miteinander streiten. Wohltuend findet das die
FR, die
taz nimmt es als "geistige Übung", und auch die
SZ findet vorbildlich, wie Hensel und Engler agieren: im Gespräch bleiben, Positionen überdenken.
Viel Aufmerksamkeit bekommen hat
Max Czollek mit seiner Kampfschrift
"Desintegriert Euch!" in der er wüst gegen
Integrationszwang, erstarrte Erinnerungskultur und deutsche Fremdenfeindlichkeit polemisiert. Die meisten Kritiker attestierten Czollek einige scharfsinnige Beobachtungen.
FAZ,
SZ,
Zeit und
NZZ war der Rundumschlag aber zu brachial und zu wirr. Nur die
taz fand das Buch stringent. Deutlich moderater und überzeugender erschien den Kritikern dagegen
Ahmad Mansours Schrift
"Klartext zur Integration" Wenn der Psychologe Fortschritte und Hindernisse zu gelungener Integration analysiert, bescheinigen ihm
FAZ und
taz Sachkenntnis und einen wohltuend differenzierenden Blick. Allein schon mit ihrem Titel
"Integriert doch erst mal uns" bringt die sächsische SPD-Politikerin
Petra Köpping ostdeutsche
Diskriminierungserfahrung auf einen Punkt, für die
taz ist das Buch aber auch ein Glücksfall, weil Köpping in erlittener Ungerechtigkeit keine Entschuldigung für die eigene Verbohrtheit sieht.
Globalpolitisches
Der amerikanische
Osteuropa-Historiker Timothy Snyder kann in seinem Buch
"Der Weg in die Unfreiheit" den Wendepunkt in der Geschichte des Westen ziemlich klar datieren. Für ihn begann der Zerfall zwischen 2013 und 2015. In jener Zeit wurde
Russland zur aggressiven Macht, die mit einer Politik der Destruktion die westlichen Länder destabilisierte, die Ost-Ukraine besetzte, die Krim annektierte, die Syrer aus ihrem Land bombte und Donald Trump als ihren Kandidaten aufbaute. Für den
taz-Kritiker Andreas Fanizadeh hat Snyder das wichtigste Buch der Saison geschrieben, denn es zeigt ihm, wie Wladimir Putin mit seinen
Söldnern, Bombern und Trollfabriken Russland gegen das
offene System des Westens in Stellung brachte. Bei Jens Bisky
klingt in der
SZ auch Skepsis gegen manch überzogene Deutung durch, aber wie Snyder die neuen russische Informationskriege analysiert, muss man gelesen haben, meint er: Hier agiere der Kreml wie "
ein böser Arzt", der alles dafür tut, dass es seinem Patienten schlechter geht. In der
FAZ findet Herfried Münkler Snyders Kombination aus Reportagen und Reflexion sehr suggestiv, aber nicht überzeugend. Ihm kommen die Eigendynamiken der westlichen Gesellschaften zu kurz. In der
New York Times will die Historikerin Margaret MacMillan Snyder nicht in allem folgen, aber sehr erhellend
erscheint ihr, wie Snyder Putins obskure Ideologie aus
Nationalismus, Maskulinität und Desinformation auf den russischen Faschisten
Iwan Iljin zurückführt. Wie immer bestens informiert und gewohnt detailliert schildert die alte Reporterlegende
Bob Woodward in
"Furcht" wie der gesamte Stab im Weißen Haus um einen unberechenbaren Präsidenten herumtanzt. Schaurig liest sich das, versichert Matthias Kolb in der
SZ, aber wie auch Jan Jekal in der
taz konnte er dem Buch
nicht wirklich neue Erkenntnisse über Donald Trump entnehmen.
In seinem Buch
"Wer hat Angst vor Deutschland?" widmet sich der Historiker
Andreas Rödder dem alten Dilemma deutscher Größe, demzufolge Deutschland entweder Führungsschwäche oder Hegemoniestreben vorgeworfen werde. In der
SZ empfiehlt Gustav Seibt das Buch
gegen historische Blindheit von links und rechts, in der
FAZ findet Günther Nonnenmacher besonders Rödders Einsichten zu Fremd- und Selbstwahrnehmung interessant. Routiniert besprochen wurde auch
Wolfgang Ischingers "Welt in Gefahr" Der Spitzendiplomat und transatlantische Netzwerker umreißt darin seine Vorstellungen einer europäischen Sicherheitsarchitektur und plädiert für eine stärkere Rolle Deutschlands in der internationalen Politik. Mit Verve erhoben
taz und
SZ dagegen Einspruch gegen
Josef Joffes Polemik
"Der gute Deutsche" die Deutschen sollten aufhören sich als moralische Supermacht aufzuführen und "erwachsen" werden. Ein interessantes Gegengewicht zu diesen Studien der Realpolitik bildet
Perry Anderson kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der
"Hegemonie" der unter Rückgriff auf
Gramsci von Links wie Rechts gern im Mund geführt wird.
Digitales
Vor Aufschneidern müsste man keine Angst haben. Wenn Kai Strittmatter in seinem Buch
"Die Neuerfindung der Diktatur" beschreibt, wie weit
Chinas Digitalindustrie ist, dann schlackern den Rezensenten bei der Lektüre die Ohren. In der
Welt las Johnny Erling mit Schaudern, welche enormen Fortschritte das Land in
Sprach-, Haltungs- und Gesichtserkennung gemacht hat und wie weit die KP die Überwachung des Landes vorangetrieben hat. Im
DLF Kultur erinnert sich Florian Felix Weyh mit Wehmut an Zeiten des Netzoptimismus, der glaubte, das Netz würden autoritären Systemen das Wasser abgraben. Aber nein: "
Die KP liebt das Internet." Auch Angela Nagles Buch
"Die digitale Gegenrevolution" sieht die Ideen einer emanzipatorischen
Gegenkultur im Netz gekapert, von Rechtsextremen und obskuren Gruppen. In der
Zeit findet Martin Eimermacher Nagles Buch zwar ein wenig detailversessen, aber sehr informativ und aufschlussreich. Hingeweisen sei schließlich auch noch auf
Catrin Misselhorns Buch
"Grundfragen der Maschinenethik" das sachkundig moralische Fragen der Robotik behandelt.