Vorgeblättert

Leseprobe zu Maria Barbal: Camfora. Teil 3

11.08.2011.
Nichts zu tun

Wenn Leandre in Barcelona aufsteht, fällt schon eine ganze Weile Licht, sei es nun trübe oder hell, durch die schlecht schließenden Fensterläden seines Zimmers.
     Hin und her gewälzt hat er sich im Bett. Eben noch mit dem Rücken zum Fenster, vielleicht klappt es ja so mit dem Einschlafen, dreht er sich im nächsten Augenblick schon wieder um, weil er genau weiß, dass es ihm doch nicht gelingen wird, noch eine Mütze Schlaf zu kriegen. Schließlich fängt er an, seinen Gedanken nachzuhängen, genug Zeit hat er ja, denn für ihn gibt es hier nichts zu tun.
     Er ist es nicht gewohnt, hinter einem Ladentisch zu stehen und Leute zu bedienen. Die Preise kann er sich beim besten Willen nicht merken und das Wechselgeld würde er garantiert falsch herausgeben, da ist er sich sicher. Ganz schön blamieren würde er sich! Die Kunden mit seinen haarsträubenden Geschichten zu unterhalten, das wäre schon eher was für ihn, die würden sich bestimmt nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen. Aber auch wenn er noch nicht lange in der Stadt lebt, eins ist ihm hier ziemlich schnell klar geworden, auf eine solche Gelegenheit kann er lange warten. Entweder haben es nämlich alle eilig, weil sie auf dem Weg zur Arbeit sind, oder aber es ist schon spät, und sie müssen schnell nach Hause, weil das Mittagessen auf dem Tisch steht, man könnte fast meinen, sich den Bauch vollzuschlagen sei weiter nichts als eine lästige Pflicht. Und abends sind eh alle müde. Aber ihm soll?s egal sein, schließlich sind sie es, denen etwas durch die Lappen geht. Und letztlich kommt es auch nur darauf an, dass die Jungen schaffen und das Geld in seine Taschen fließt. Münze für Münze, Schein für Schein lässt er sich die Einnahmen vorzählen, jeden Tag, damit sie ja nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Er ist der Herr im Haus und er teilt das Haushaltsgeld zu und das, was man so für die kleinen Freuden des Lebens braucht.
     Bei so viel Sinnieren findet er sich mit einem Mal auf beiden Beinen neben dem Bett wieder. Nur in Unterhemd und langen Unterhosen wirkt er noch schmächtiger als sonst, und wie er da steht, fallen einem Gesicht und Hals ganz besonders ins Auge, wettergegerbt von der sengenden Sonne, aber auch von der schneidenden Kälte, die mit Sturm und Eis zusticht, als wären es spitze Nadeln. Sein übriger Körper dagegen ist kalkweiß.
     Erst öffnet er die Fensterläden, dann schlüpft er in Hemd und Hose, die Socken kommen ganz zum Schluss, und schon fängt er an zu jammern, au, die Schuhe! Wie wird er sich je daran gewöhnen können, Schuhe zu tragen, morgens und abends, tagein, tagaus? Schließlich ist er so weit und mustert sich im Spiegel. Knochige Wangen, ein Netz von Falten um die kleinen blauen Augen, die recht spöttisch dreinblicken, in diesem Moment allerdings durchaus wohlwollend, betrachtet Leandre doch sein eigenes Gesicht. Auch den faltigen Hals betrachtet er, der wie von tiefen Furchen durchzogen scheint.
     Bevor er wie jeden Tag auf der Flucht vor der Arbeit die Wohnung verlässt, fährt er sich mit einer Hand über seine weißen, stacheligen Haare, das hat er sich so angewöhnt, und er beglückwünscht sich jedes Mal aufs Neue zu dem kurzen Stoppelschnitt, den ihm der Friseur im Dorf vor seiner Abreise nach Barcelona verpasst hat. Wie sonst würde er diese Hitze hier ertragen? Obwohl, so kurz geschoren, man könnte fast meinen, er hätte größere Ohren bekommen. Kaffeeduft steigt ihm in die Nase, auch wenn es nur Malzkaffee ist, und er geht rüber ins Bad, um sich übers Gesicht zu waschen und zu rasieren. Unterdessen macht sich mehr und mehr der Hunger bemerkbar.
     Kurz darauf setzt er sich an den Tisch und wie gewöhnlich schimpft er gleich über das Brot, das sei doch was für den hohlen Zahn, viel zu weich, eine Kruste wie Wachs. Die gesamte Bäckerinnung wird mit ein paar Flüchen bedacht, er kann es einfach nicht lassen, aber er rastet nicht mehr so aus wie die ersten Tage, der Schwiegertochter zuliebe zügelt er seine Wut. Er hat nämlich bemerkt, dass die Frau seines Sohnes, so ein Schlappschwanz, eine durchaus energische Person ist, die Arbeit nicht scheut. Natürlich würde er ihr das niemals sagen oder sonst irgendwie zu verstehen geben, dass sie nur ja nicht erst auf eine solche Idee kommt, aber irgendwie nötigt sie ihm schon ein wenig Respekt ab. Obwohl die Frauen ?, na ja, aber das ist schließlich nichts Neues, wieso also überhaupt noch einen Gedanken daran verschwenden. Doch gerade weil er die Frauen zur Genüge kennt, ist es ihm schon lieber, dass Palmira so ist, wie sie ist, ebenso eigensinnig wie er. Temperament hat sie ja genug und damit hält sie auch nicht hinterm Berg.
     Sie ist aus ganz anderem Holz geschnitzt als Madrona, die die Sanftmut in Person war! Sie beide hatten jung geheiratet, und die Frau hatte sich ihm von Anfang an gefügt, ihm jedes Wort von den Lippen abgelesen, aber jetzt ist er schon seit so vielen Jahren Witwer. Leandre wusste nicht, dass es im Dorf hieß, natürlich nur hinter seinem Rücken, die arme Madrona, möge sie in Frieden ruhen, habe ihr ganzes Leben damit verbracht, Ja und Amen zu sagen.
     Und dann frühstückt er schließlich. Was für ein scheußliches Brot! Und der Kaffee erst, das reinste Spülwasser.

Nachdem er seinen Sohn gefragt hat, jeden Tag fragt er ihn, ob er im Laden gebraucht wird, schaut er runter zu seinen Füßen, die in diesen verdammten Sonntagsschuhen stecken. Was wäre, wenn der Junge eines Tages sagen würde: "Ja, Vater, bleib heute bitte hier." Doch darüber denkt er gar nicht weiter nach, so sicher ist er sich, dass Maurici ihn niemals darum bitten wird. Und dann grüßt er noch einmal zum Abschied, dreht sich um und stolziert aus der Wohnung wie ein feiner Herr.
     So verlässt er jeden Morgen das Haus, sorgfältig zurechtgemacht, auch wenn Jacke, Hemd und Hose schon etwas aus der Mode gekommen sind, nirgends wird dies allerdings so deutlich wie bei seiner breiten, seidenweichen Krawatte, die in allen möglichen Farben schillert und sich ständig auf seiner Brust aufplustert. Hochzufrieden mit sich selbst spaziert er umher, schaut nach rechts und links, interessiert sich für alles und jeden. Für die Leute und wie sie gekleidet sind, für die Plätze, die Schaufenster, für Autos, Brunnen, Hunde und Häuser. Er hat keinerlei Hemmungen, ganz unvermittelt irgendwo stehen zu bleiben und nach oben zu schauen, weil er eine Hausfassade mit schmiedeeisernen Balkonen entdeckt hat und mit einem Erker auf jedem Stockwerk, der so reich verziert ist wie der Hochaltar in der Kirche von seinem Dorf. Wieso sollte ein Passant sich denn von ihm gestört fühlen? Auf so eine Idee käme er erst gar nicht, wo der Bürgersteig doch wahrlich breit genug ist, damit alle aneinander vorbeigehen können! Darum bleibt er auch schon wieder wie angewurzelt stehen, weil er sich eingehend einen Mann anschauen will, der über einer kurzen Hose ein blau-weiß geringeltes T-Shirt trägt und Leandre wie eine leibhaftige Karnevalsfigur vorkommt. Und kurz darauf tut er es ein weiteres Mal. Jetzt betrachtet er eine Frau, die ihre Knie herzeigt, unter einem eng anliegenden Rock quillt ein jedes hervor wie ein Pfundlaib Brot.
     Schon längst scheuern ihm die Schuhe an den Fersen und an den Zehen drücken sie. Er lässt sich auf die nächstbeste Bank fallen, und wer immer auch dort sitzen mag, wenn denn jemand dort sitzt, Leandre verwickelt ihn gleich in ein Gespräch. Es gefällt ihm zu reden und er tut es mit seltener Leidenschaft. Das vorausgegangene Wort ist gleichsam eine Einladung für das nächste, und so geht es in einem fort, wie Perlen auf einer Schnur reihen sich seine Worte aneinander. Er redet und redet, ohne eine Antwort zu erwarten. Egal worum es sich handelt, Leandre hat eine Meinung dazu, wenngleich nicht immer dieselbe, und die tut er kund, als sei es die einzig mögliche Wahrheit und noch dazu eine, die ganz allein auf seinem Mist gewachsen ist. Und überhaupt, in der Regel findet er eh keinen Gefallen daran, anderen zuzuhören.
     Auf seinen Spaziergängen nimmt er vor allem die Kneipen in Augenschein. Oftmals hängt ein mit grellen Farben bemaltes Blechschild über, neben oder mitten auf der Tür. Coca-Cola. Er wirft einen Blick hinein und sagt sich, dass hier bestimmt gezockt wird. Die Karten bringen ihn auf andere Gedanken, wenn er spielt, vergeht die Zeit wie im Flug, all die viele Zeit, von der er nicht weiß, wie er sie totschlagen soll und die zuweilen so schwer wiegt wie ein mit Getreidesäcken überladener Karren.

Seit kurzem hat er eine Lösung für sein Problem gefunden und weiß nun, wie er sich zumindest ein paar Nachmittagsstunden um die Ohren schlagen kann. Sobald Maurici sich anschickt, sein Nickerchen zu halten und die Schwiegertochter in der Küche das Geschirr abspült, verlässt er geschniegelt und gestriegelt das Haus und geht geradewegs vor dem Geschäft über die Straße. Da kann ihm sein Sohn, wenn er es denn mitbekommt, ruhig hinterherschreien, eines Tages würde noch ein Unglück geschehen, er überquert gleichwohl schnurstracks die Straße, um dann noch ein paar Schritte, nicht viele, auf dem Bürgersteig zu machen, bevor er schließlich bei Josep klingelt. Und der heißt ihn stets mit einem freundlichen Wort willkommen. Nie ist es Neus, die ihm die Tür öffnet, selbst wenn sie schon am Essen sind, ist es immer ihr Mann, der vom Tisch aufsteht. Da Josep als Nachtwächter in einer Garage arbeitet, schläft er für gewöhnlich bis zum Mittagessen, und nicht selten taucht Leandre bei ihnen auf, wenn sich die beiden gerade zu Tisch setzen wollen.
     Sie laden ihn immer ein, einen Happen mitzuessen. Er ist satt, würde keinen Bissen mehr runterbekommen, doch zu einem Kaffee und einem Gläschen sagt er nicht Nein. Daheim erzählt er allerdings kein Sterbenswörtchen davon, damit ihm ja keiner damit kommt, er hätte den feinen Mann zu markieren oder müsse sich wie eine Frau erst lange zieren. Holt Josep dann aus der Schublade der Anrichte die Karten hervor, ist das der erhebendste Moment für Leandre. Noch bevor Neus den Tisch abgeräumt hat, diskutieren sie bereits, ob sie Brisca spielen sollen oder Set i mig. Eigentlich wäre ihm ja eine Partie Botifarra bei Xauet lieber, zwei gegen zwei, umgeben von höllischem Qualm und dem Klirren und Klappern von Tassen und Gläsern, das nur noch vom Geschrei der Kartenspieler übertönt wird. In der Wohnung der Ginestas dagegen wird das Spiel einzig und allein vom Geräusch fließenden Wassers begleitet, das über das Geschirr hinweg ins Spülbecken rinnt, und kurz darauf vom Klappern des Bestecks, wenn es nach dem Abtrocknen Stück für Stück in die Schublade fällt.
     In der dunklen, stickigen Wohnung hallt alles nach wie in einer Büchse. Aber das ist nicht weiter schlimm. Kaum auszuhalten ist allerdings das ungebührliche Benehmen von Joseps Frau. Schon allein deshalb weiß er, was er an seiner Schwiegertochter hat. Neus sagt nie geradeheraus, was sie eigentlich will, und sie ist eine richtige Nervensäge. Irgendwann ruft sie garantiert nach ihrem Mann, es vergeht kaum ein Tag, an dem sie das nicht tut. Ganz egal, ob sie nun im Schlafzimmer ist, in der Küche oder wo auch immer. Und Leandre sitzt dann da, mit den Karten in der Hand, und wartet, denn der andre, so ein richtiger Pantoffelheld, springt gleich auf, er springt immer gleich auf, und nicht einmal schickt er Neus zum Teufel.
     Deshalb schwört sich Leandre, wenn er sich auf den Heimweg macht, ganz egal, ob sie nur ein paar Runden gespielt haben oder ziemlich viele, dass er am nächsten Tag nicht mehr wiederkommen wird. Gleich in der Früh wird er sich eine Kneipe suchen, in der sie Karten spielen. Heute, das war wirklich das letzte Mal, und wenn er ihre Wohnungstür hinter sich schließt, ist er davon überzeugt, sich für immer von den Ginestas verabschiedet zu haben.
     Doch dann kommt der nächste Tag, und er sagt sich: "Dieses eine Mal gehe ich noch hin, nur dieses eine Mal noch."


                                                             *

Mit freundlicher Genehmigung des Transit Buchverlages
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