Vorgeblättert

Lesesprobe Helen Pluckrose und James Lindsay: Zynische Theorien

Wer in der PDF-Version dieses Buchs "Steuerung F" drückt und das Wort "woke" sucht, wird es nicht finden: Als Helen Pluckrose und James Lindsay es vor nicht mal zwei Jahren auf Englisch veröffentlichten, war "woke" noch nicht zum Schlagwort geworden, das die Ideologie der neuen akademisch geprägten Linken umreißt - so rasant war zuletzt der Siegeszug dieser Ideologie, dass dieses Schlagwort, das ein zunächst recht struppig wirkendes Geflecht von Theorien und Ideologie in einem Begriff bündelt, erst erfunden werden musste. Pluckrose und Lindsay erzählen in ihrem Buch, wie sich aus den an sich melancholischen, ja zynischen und oft ironischen Ideen des alles dekonstruierenden Postmodernismus schlagkräftige Kampftheorien entwickelten, die eine politische Wende in den westlichen Ländern einleiteten und die Ideen des Universalismus, ob liberaler oder linker Prägung, gründlich desavouierten. Man mag es als einen Schwachpunkt begreifen, dass Pluckrose und Lindsay zwei für diese Theorien konstitutive Denkmuster - die Relativierung des Holocaust und die Verharmlosung des Islamismus im Zeichen des Postkolonialismus - kaum berühren, aber in Wirklichkeit ist auch dies eher nützlich, weil das Buch so die explosivsten Debatten meidet und Strukturen der Ideologie besser offenlegt. Wer sich über Antisemitimus in in postkolonialen und anderen "Social Justice"-Studien informieren will, der greife zu Steffen Klävers' Studie "Decolonizing Auschwitz?", die sich teilweise mit den gleichen Autoren auseinandersetzt wie Pluckrose und Lindsay.

(Thierry Chervel, Perlentaucher)


Auszug aus dem zweiten Kapitel: "Die Wende zum angewandten Postmodernismus - Repression sichtbar machen"

Der Postmodernismus gab Ende der Sechzigerjahre sein stürmisches Debüt auf der intellektuellen Bühne und wurde unter Linken und linksgerichteten Akademikern rasch populär. Mit zunehmendem Einfluss produzierten seine Anhänger große Mengen an radikal skeptischer Theorie, die das Wissen und den Wissenserwerb, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt als typisch für moderne westliche Gesellschaften gegolten hatten, unterschiedslos kritisierten und demontierten. Die alten Religionen – im weitesten Sinne des Wortes – mussten gestürzt werden, und so landeten unsere Vorstellungen von dem, was wir unter objektiver Realität verstehen, und dem, was wir als "Wahrheit", die sich auf diese Realität bezieht, bezeichneten, auf dem Hackklotz. Annahmen, auf die sich die Moderne gründete, packte man gleich noch mit dazu. Die Postmodernisten zielten darauf ab, unser Denken, unseren Zugang zur Welt und unsere gesellschaftliche Lebensweise für absurd zu erklären. Ihr Ansatz wurde immer einflussreicher, doch seine Lebensdauer war letztlich begrenzt. Unaufhörliche Demontage und Disruption – oder, postmodernistisch ausgedrückt, Dekonstruktion – führten sich am Ende ad absurdum; es war dieser Denkströmung eingeschrieben, irgendwann langweilig zu werden. (1)

Nihilistische Verzweiflung konnte für die Theorie auf lange Sicht also keine Option sein. Es musste etwas geschehen, damit sie handlungsfähig wurde. Ihre moralisch und politisch aufgeladenen Kernideen führten sie schließlich zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Problem, das sie als zentral für unsere Gesellschaft erkannt hatte: dem ungerechten Zugang zur Macht. Nach dem Urknall in den Sechzigerjahren war die große dekonstruktive Phase der postmodernen Theorie in den frühen Achtzigerjahren erloschen. Doch eine neue Gruppe von Theoretikern stieg wie Phoenix aus der Asche: Ihre Mission bestand darin, einigen Kernaussagen des Postmodernismus zur Praxistauglichkeit zu verhelfen und eine bessere Welt zu rekonstruieren.

Die gängige Meinung unter Akademikern ist, dass die postmoderne Theorie in den Neunzigerjahren ausgedient hatte. (2) In Wirklichkeit mutierte der Postmodernismus nach seiner dekonstruktiven Phase jedoch in eine neue Form. Aus seiner Ursprungsform entwickelte sich eine breite Palette von hochgradig politisierten und praktisch umsetzbaren Theorien. Diese Entwicklung bezeichnen wir im Folgenden als Phase des angewandten Postmodernismus. Sie wurde in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren durch einen neuen Zustrom von Theoretikern eingeleitet. Obwohl diese Denker des angewandten Postmodernismus ebenfalls aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen kamen, ähnelten sich ihre Ideen viel stärker als bei ihren Vorgängern, zumal sie deutlich benutzerfreundlicher waren. Während dieser Wende mutierte die Theorie zu einer Reihe von Theorien – postkoloniale Theorie, Queer-Theorie, Critical-Race-Theorie – , mit denen soziale Ungerechtigkeit dekonstruiert werden sollte.

Den Postmodernismus könnten wir uns daher als ein rasch mutierendes Virus vorstellen. In seiner ursprünglichen, reinen Form war ihm kein langes Leben beschieden: Das Virus zerstörte seinen Wirt und vernichtete sich dadurch selbst. Es war so schwer zu erfassen und schien derart entrückt von der sozialen Realität, dass es ohne Breitenwirkung blieb und niemals von den Universitäten auf die Bevölkerung überspringen konnte.

Doch in seiner neuen, zugänglicheren und praktikableren Variante lässt es sich von Akademikern mühelos auf Aktivisten und Durchschnittsbürger übertragen. Der Kern der Theorie mutierte in neue Formen, die kaum noch spielerische Züge tragen und die Geltung ihrer eigenen (Meta-)Narrative im Brustton der Überzeugung vortragen. Sie verfolgen ein neues, praktisches Ziel: Es geht um die Rekonstruktion der Gesellschaft nach dem Vorbild einer Ideologie, die sich selbst als "Social  Justice" bezeichnet.


Die Mutation der Theorie

Laut der postmodernen Theorie werden die Welt und unsere Fähigkeit, Wissen über sie zu erlangen, vom postmodernen Wissensprinzip und vom postmodernen politischen Prinzip exakt abgebildet. Entsprechend geht die Theorie von der Annahme aus, dass wir die objektive Realität nicht kennen können, dass "Wahrheit" ein soziales Konstrukt aus Sprache und Sprachspielen ist, das wiederum in einer bestimmten Kultur verortet werden muss, und dass Wissen dazu dient, die Interessen der Privilegierten zu schützen und zu befördern. Aus diesen Gründen ist es das erklärte Ziel der Theorie, herrschende Diskurse kritisch zu untersuchen. Damit ist etwas sehr Spezifisches gemeint: Mittels der kritischen Diskursanalyse sollen jene politischen Machtdynamiken offengelegt und unterbrochen werden, die Diskursen vermeintlich innewohnen; dieses Verfahren soll uns dazu befähigen, herrschende Machtungleichgewichte in der Gesellschaft zu beseitigen und eine ideologische Revolution einzuleiten.

Die Theorie setzte sich in diesem Sinne vom Ende der Achtziger- bis ungefähr in die Zehnerjahre hinein unter neuen Vorzeichen fort: Ihre grundlegenden Konzepte wurden in einem neuen Feld von wissenschaftlichen Disziplinen, die inzwischen weitreichenden Einfluss ausüben, zur Anwendung gebracht. Diese neuen Disziplinen, locker unter der Bezeichnung "Social-Justice-Forschung" zusammengefasst, haben den Begriff der sozialen Gerechtigkeit aus den Bürgerrechtsbewegungen und anderen liberalen und progressiven Theorien übernommen. Keineswegs zufällig kam diese Bewegung gerade zu einer Zeit auf, als dem antirassistischen, feministischen und LGBT -Aktivismus infolge der weitgehenden Verwirklichung rechtlicher Gleichheit der Wind aus den Segeln genommen worden war. Nachdem rassistische und sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz verboten wurde und Homosexualität in westlichen Gesellschaften nicht mehr als Straftat galt, lagen die Haupthindernisse für soziale Gleichstellung in unterschwelligen Vorurteilen, die sich nicht zuletzt in der Sprache zeigten. Wer sich mit diesen subtileren Problemen auseinandersetzen wollte, fand in der Theorie mit ihrem Schwerpunkt auf unterschwelligen Machtsystemen und Privilegien ein ideales Werkzeug – allerdings mit der Einschränkung, dass sich dieses ganz und gar destruktive, radikal skeptische und unangenehm nihilistische Werkzeug kaum
für produktive Zwecke eignete.

Die neuen Formen der Theorie entstanden im Postkolonialismus, im Black feminism (einer Variante des Feminismus, der von afroamerikanischen Wissenschaftlern propagiert wurde und gleichermaßen auf Aspekte von Race und Gender abstellte 3 ), im intersektionalen Feminismus, in der Critical-Race-Theorie (beziehungsweise den Critical Legal Studies) sowie der Queer-Theorie. Allen diesen Strömungen war gemeinsam, dass sie die Welt kritisch beschreiben wollten, um sie zu verändern. Wissenschaftler innerhalb dieser Disziplinen argumentierten in zunehmender Häufigkeit, der Postmodernismus sei zwar geeignet, Wissen als soziales Konstrukt und die damit einhergehenden Probleme aufzuzeigen, doch Aktivismus sei mit radikalem Skeptizismus schlechterdings unvereinbar. Man müsse einfach die Tatsache akzeptieren, dass bestimmte Gruppen benachteiligt oder ungerecht behandelt würden, weil sie sind, wer sie sind – ein Gedanke, der von radikal skeptischen postmodernen Denkern allerdings sogleich verworfen wurde.

Einige der neuen Verfechter der Theorie kritisierten ihre Vorgänger denn auch für ihren privilegierten Status, der sich, wie sie behaupteten, letztlich in deren Fähigkeit zeige, Identität und identitätsbasierte Unterdrückung zu dekonstruieren. Ein weiterer Vorwurf an die postmodernen Denker der vorhergehenden Generation lautete, sie könnten sich ihre Verspieltheit, ihre Ironie und ihren radikalen Skeptizismus leisten, weil sie eben weiß, männlich, reich und westlich seien und in einer Gesellschaft lebten, die sie in jeder Hinsicht bevorteile. Letztlich behielten die Anhänger der neuen Theorie zwar viele Elemente der ursprünglichen Theorie bei, lösten sich jedoch nicht gänzlich von Vorstellungen wie einer stabilen Identität und objektiver Wahrheit. Stattdessen nahmen sie beides in einer abgespeckten Form in Anspruch, indem sie die Behauptung aufstellten, einige Identitäten würden anderen gegenüber privilegiert, was wiederum objektiv ungerecht sei.

Während die ursprünglichen postmodernen Denker unser Verständnis von Wissen, Wahrheit und gesellschaftlichen Strukturen demontiert hatten, rekonstruierten die Anhänger der neuen Theorien es entlang ihrer eigenen Narrative von Grund auf; diese kamen oft aus dem politischen Aktivismus der Neuen Linken, der wiederum auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zurückging. Die ursprünglichen postmodernen Theoretiker verfolgten also kein richtiges politisches Ziel, sondern stellten Hierarchien durch Ironie und Verspieltheit in Frage oder legten das, was sie als ungerechte Macht- und Wissensstrukturen (oder MachtWissen) ansahen, durch Disruption offen. Den Vertretern der zweiten Welle, des angewandten Postmodernismus, ging es hingegen darum, Hierarchien aktiv abzubauen und Wahrheitsansprüche zu stellen. Im Verlauf dieser Wende machte sich die Theorie außerdem eine Reihe moralischer Überzeugungen zu eigen, was die Zulässigkeit und Unzulässigkeit von Macht und Privilegien betraf. Die ursprünglichen postmodernen Theoretiker hatten sich damit zufriedengegeben, diese Phänomene zu beobachten, zu beklagen und in ihr (Sprach-)Spiel einzubinden; ihre Nachfolger zielten auf eine Neuordnung der Gesellschaft ab.

Wenn soziale Ungerechtigkeit durch die Legitimierung moralisch schlechter Diskurspraktiken entsteht, so das Argument, kann soziale Gerechtigkeit erreicht werden, indem man diesen Diskursen ihre Legitimität abspricht und sie durch bessere ersetzt. Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich diesem Neuansatz der Theorie verschrieben, schlossen sich infolgedessen eher zu linken Gesinnungs- denn zu akademischen Forschungsgemeinschaften zusammen: intellektuelle Interessengruppen, die sich eher als Verfechter eines bestimmten moralischen Soll-Zustandes denn als distanzierte Betrachter des Ist-Zustandes verstanden – eine Haltung, die wir normalerweise eher mit Kirchen als mit Universitäten in Verbindungbringen.


Der neue Standard

Die neuen Theorien, die hauptsächlich Race, Gender und Sexualität thematisierten, waren explizit kritisch, zielorientiert und moralisierend. Die Kernideen der Postmoderne behielten sie jedoch bei: dass Wissen nur ein Konstrukt der Macht ist und dass die Kategorien, mit denen wir Menschen und Phänomene einordnen, im Dienst dieser Macht ersonnen wurden; dass Sprache inhärent gefährlich und unzuverlässig ist; dass die Wissens- beziehungsweise Geltungsansprüche und die Werte aller Kulturen gleichermaßen berechtigt und überhaupt nur im jeweiligen Kontext zu verstehen sind; und dass kollektive Erfahrung jedweder Individualität und Universalität überlegen ist. Als dominierendes Thema der neuen Theorien rückte nun die kulturelle Macht in den Vordergrund; es wurde als objektiv wahr angesehen, dass Macht und Privilegien heimtückische und korrumpierende Kräfte sind, die sich auf geheimnisvolle Weise selbst verstetigen. Die neuen Theoretiker erklärten unumwunden, ihr Ziel bestehe darin, die Gesellschaft nach ihrer moralischen Vision umzugestalten – und zitierten dabei ungeniert die ursprünglichen postmodernen Theoretiker. 4

Auch Brian McHale, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, der sich vorwiegend mit der Postmoderne beschäftigt hat, beobachtet diesen Wandel: "Die Ankunft des Poststrukturalismus in Nordamerika war die Geburtsstunde der – im weitesten Sinne des Begriffs – 'Theorie', die in den darauffolgenden Jahrzehnten so bekannt werden sollte: Keine bestimmte Theorie wohlgemerkt – beispielsweise keine Erzähltheorie wie von der strukturalistischen Narratologie angestrebt – , sondern Theorie im Allgemeinen, etwas, das in anderen Epochen möglicherweise als Spekulation oder sogar tatsächlich als Philosophie bezeichnet worden wäre." 5

An anderer Stelle hält er fest: "Die eigentliche 'Theorie' in jener spezifischen Bedeutung, die der Begriff ab Mitte der Sechzigerjahre allmählich annahm, ist selbst ein postmodernes Phänomen, ebenso wie Erfolg und Ausbreitung der "Theorie" ein Symptom des Postmodernismus sind." (6)

Während der Postmodernismus in seiner reinen, ursprünglichen Form in den späten Neunzigerjahren aus der Mode kam, lebte die Theorie unter veränderten Vorzeichen fort. Sie versorgte radikal gesinnte Aktivisten und aktivistische Wissenschaftler mit einem umfassenden Denken über die Welt und die Gesellschaft, das bis heute in die Geistes- und Sozialwissenschaften hineinwirkt und insbesondere die Soziologie, Anthropologie und Psychologie beträchtlich beeinflusst. (7) Der Postmodernismus wurde generalüberholt und ist seitdem zum Rückgrat bedeutender Formen von Wissenschaft, Aktivismus und professioneller Praxis rund um Identität, Kultur und Social Justice geworden.

Dennoch ist es nicht ungewöhnlich, dass Akademiker, die nach postmodernen Prinzipien arbeiten, sich abschätzend über den Postmodernismus äußern und darauf bestehen, dass er ihre eigene Arbeit nicht beeinflusst. Jonathan Gottschall, ein ausgewiesener Literaturwissenschaftler mit den Schwerpunkten Literatur und Evolution, bietet eine Erklärung für dieses Phänomen an. Aus seiner Sicht übt das, was er als "Befreiungsparadigma" (liberationist paradigm) bezeichnet – eine gesellschaftliche Auffassung, die das Wesen das Menschen von seiner biologischen Natur zu trennen versucht – , mittlerweile einen so weitgehenden Einfluss auf linksgerichtete Akademiker aus, dass es in vielen Disziplinen zum Standard gehört. "Gerüchte über den Niedergang der Theorie", so Gottschall, "sind eindeutig verfrüht." (8)

Es ist nicht ohne Ironie, wie viele Akademiker die Theorie inzwischen verinnerlicht haben, ohne es selbst noch zu bemerken, nicht zuletzt jene, die von sich behaupten, jener Denkströmung kritisch gegenüberzustehen und empirisch zu arbeiten. (9)

Brian McHale argumentiert: "'Theorie' hat bis ins neue Jahrtausend hinein überlebt. Wenn sie nicht mehr so augenfällig ist wie in der Blütezeit des Postmodernismus in den Siebziger- und Achtzigerjahren, ist dies lediglich darauf zurückzuführen, dass sie aufgrund ihrer Omnipräsenz einfach kaum noch bemerkt wird. Seit Ende der Achtzigerjahre prägt die 'Theorie' maßgeblich Diskurse über Feminismus, Gender- und Sexualitätsstudien und ist bestimmend für alle Disziplinen, die heute mit dem Begriff 'Kulturwissenschaften' bezeichnet werden." (10)

Ob wir es nun Postmodernismus, angewandten Postmodernismus, Theorie oder sonst wie nennen: Dieses Set von radikal skeptischen Ideen, wonach Wissen, Macht und Sprache lediglich soziale Konstrukte mit repressiver Schlagseite im Dienste der Herrschenden sind, ist nicht nur mehr oder weniger intakt geblieben, sondern hat gerade in den auf Identität und Kultur spezialisierten Studienfächern eine Blütezeit erlebt, allen voran in den sogenannten "Theoretischen Geisteswissenschaften" (Theoretical Humanities). Diese Disziplinen beeinflussen wiederum die Sozialwissenschaften und Studiengänge in Pädagogik, Rechtswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit und sind durch Aktivisten und Medien in breitere Gesellschaftsschichten eingedrungen. Aufgrund der allgemeinen akademischen Akzeptanz der Theorie wurde der Postmodernismus anwendbar und für Aktivisten und die breite Öffentlichkeit anschlussfähig gemacht.


Das Nichtanwendbare anwenden

Als sich das europäische Denken mit Beginn der Aufklärung im frühen 17. Jahrhundert revolutionierte, beschäftigte sich eine Reihe der damaligen Denker mit einem neuen Problem: dem radikalen Zweifel – also der Überzeugung, dass es keinen rationalen Grund gibt, irgendetwas zu glauben. Der berühmteste unter ihnen war der französische Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph René Descartes. Sein Diktum "Ich denke, also bin ich", das er 1637 in seiner Schrift Abhandlung über die Methode formulierte – und das in der lateinischen, später verfassten Version "Cogito ergo sum" noch berühmter werden sollte – , bildete das Fundament seiner Überzeugungen und seiner Philosophie. (11) Es war Descartes' Antwort auf die dekonstruktiven Kräfte, die der Skeptizismus der Aufklärung entfesselt hatte.

Etwas Ähnliches spielte sich rund 350 Jahre später in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts ab. Eine aufstrebende Gruppe von Kulturtheoretikern geriet angesichts der noch deutlich dekonstruktiven Kräfte des postmodernen radikalen Skeptizismus in eine vergleichbare Krise. Der liberale Aktivismus hatte unermessliche Erfolge gefeiert, der Aktivismus der Neuen Linken der vorhergehenden Jahrzehnte war weitgehend in Ungnade gefallen und galt als angestaubt, und der Antirealismus und die nihilistische Verzweiflung der Postmoderne erwiesen sich als ungeeignet, um Veränderungen herbeizuführen. Dieses Problem ließ sich nur lösen, indem man etwas ersann, das auf radikale Weise umsetzbar und wirklich war; Theorie und Aktivismus flossen daher zu einer neuen Idee zusammen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem cartesianischen Diktum hatte.

Die Fähigkeit zu denken implizierte für Descartes die Gewissheit der eigenen Existenz – die Gewissheit, dass etwas real sein musste. Für die aktivistischen Wissenschaftler der Achtzigerjahre setzte das durch Unterdrückung entstehende Leid die Existenz von jemandem voraus, der das Leid empfand, und einen Mechanismus, der das Leid auslöste. "Ich denke, also bin ich" wurde unter der axiomatischen Annahme eines neuen existenziellen Fundamentes neues Leben eingehaucht: "Ich erfahre Unterdrückung, also bin ich ... ebenso wie Dominanz und Unterdrückung sind."

Als sich der Postmodernismus auf dieser philosophischen Grundlage weiterentwickelte, entstanden bald eine Reihe neuer akademischer Felder. Sie orientierten sich an der Theorie und nahmen dabei vor allem in den Blick, wie und in welchem Ausmaß Sprache und Macht die Gesellschaft beeinflussen. Jede dieser neuen Disziplinen – postkoloniale Theorie, Queer- und Critical-Race-Theorie sowie Gender Studies, Disability- und Fat-Studies – werden wir in Einzelkapiteln gesondert erörtern. Die einzige, die ausschließlich mit Versatzstücken der postmodernen Theorie arbeitet, ist dabei die Queer-Theorie, aber das angewandte postmoderne Denken dominiert zunehmend auch alle anderen Felder. Die Theoretiker, die verschiedene Elemente des Postmodernismus übernahmen und sie auf spezifische Weise anzuwenden suchten, begründeten die Wende zum angewandten Postmodernismus und damit auch zur Social-Justice-Wissenschaft.

(...)


Die Verabschiedung von Begriffen des Individuellen und Universellen zugunsten von Gruppenidentitäten.

Der Fokus auf Identitätskategorien und Identitätspolitik hat das Individuelle und das Universelle weitgehend entwertet. Während der Liberalismus sich meist darauf konzentriert, universelle Menschenrechte und Chancen für alle zu garantieren und jedem Individuum die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zu geben, hegen die akademischen und aktivistischen Vertreter des angewandten Postmodernismus eine tiefe Skepsis gegenüber solchen Werten, ja stehen ihnen manchmal sogar feindselig gegenüber. Die angewandte postmoderne Theorie erkennt im Mainstream-Liberalismus eine gewisse Selbstgefälligkeit, Naivität und Gleichgültigkeit gegenüber tief verwurzelten Vorurteilen, die Menschen mit marginalisierten Identitäten in ihren Lebenschancen begrenzen. Das "Individuum" ist im angewandten Postmodernismus etwas Ähnliches wie die Summe aller Identitätsgruppen, zu denen die fragliche Person gleichzeitig gehört.


Das Aufkommen der Social-Justice-Wissenschaft

Diese Veränderungen mögen zunächst zu geringfügig erscheinen, um daraus auf eine echte Abkehr der Theorie vom Postmodernismus zu schließen – dennoch sind sie bedeutsam. Indem sie die ironische Verspieltheit und den Gestus der Verzweiflung aus der dekonstruktiven Phase des Postmodernismus hinter sich ließen und anfingen, Ziele zu formulieren, machten die Theoretiker der Achtziger- und Neunzigerjahre den Postmodernismus für öffentliche Institutionen und für die Politik anschlussfähig. Die Idee der Identität als etwas, das – wiewohl sozial konstruiert – Gruppenwissen bereitstellt und Empowerment ermöglicht, lieferte den spezifischen Formen der aktivistischen Wissenschaft vielerlei Entwicklungsmöglichkeiten. Die Theorie wandelte sich: Sie beschrieb nicht mehr, sondern sie schrieb vor – es war der Wandel vom Sein zum Sollen. Durch seine Anwendung veränderte sich der Postmodernismus von Grund auf. Er war nun kein Modell mehr, das zur Beschreibung der Gesellschaft diente und das Vertrauen in überkommene Vorstellungen von der Wirklichkeit untergrub: Er avancierte vielmehr zu einem Werkzeug der Social-Justice-Forschung. In den frühen Zehnerjahren sollte dieser neue Ansatz durch eine weitere Mutation des Postmodernismus schließlich Früchte tragen.

Die neuen Theorien, die der angewandte Postmodernismus hervorbrachte, ermöglichten es Akademikern und Aktivisten, eine postmoderne Konzeption der Gesellschaft unmittelbar in der Praxis anzuwenden, ja etwas damit anzufangen. Wenn Wissen ein Machtkonstrukt ist und sich dadurch formt, wie wir über Dinge reden, dann kann dieses Wissen verändert und können Machtstrukturen ausgehebelt werden, indem wir die Art und Weise ändern, wie wir über Dinge reden. Infolgedessen konzentriert sich der angewandte Postmodernismus darauf, Diskurse zu kontrollieren, insbesondere indem er sprachliche Äußerungen und Formen der Bildsprache problematisiert, die er als schädlich einstuft. Folglich werden Äußerungen aufgespürt und hervorgehoben, in denen sich der aus Sicht der Theoretiker problematische Zustand der Gesellschaft auf mitunter recht subtile Weise manifestiert, um so die "Unterdrückung sichtbar zu machen". Die daraus folgende peinlich genaue Überprüfung der Sprache und die Herausbildung von strikten Sprachregelungen in Bezug auf Fragen der Identität, bekannt als Political Correctness, hatte zunächst in den Neunzigerjahren Hochkonjunktur und ist seit Mitte der Zehnerjahre erneut allgegenwärtig.

Die Schlussfolgerungen aus diesem Denken ermächtigen zum politischen Handeln. Wenn das, was wir als Wahrheit akzeptieren, nur deswegen als wahr gilt, weil die Diskurse heterosexueller, weißer reicher westlicher Männer privilegiert werden, legt die angewandte Theorie im Umkehrschluss nahe, diese Wahrheit könne in Frage gestellt werden, indem man marginalisierte Identitätsgruppen stärke und deren Stimmen vorrangig Gehör verschaffe. Durch diese Überzeugung nahm die Identitätspolitik immer aggressivere Formen an und brachte schließlich sogar Konzepte wie "Forschungsgerechtigkeit" hervor. Damit ist gemeint, dass Akademiker bevorzugt Frauen und Angehörige von Minderheiten zitieren und Verweise auf weiße Männer auf ein Mindestmaß beschränken sollten, weil empirische Forschung, die sich auf evidenzbasierte und argumentative Wissensproduktion berufe, ein ungerechtes kulturelles Konstrukt privilegierter weißer Menschen aus dem Westen sei. So gesehen besteht eine moralische Verpflichtung, neben rigoroser Forschung auch "andere Formen der Forschung" zuzulassen; dazu zählen unter  anderem Aberglaube, spirituelle Überzeugungen, kulturelle Traditionen und Überzeugungen, identitätsbasierte Erfahrungen und Emotionen. (31)

Da sich derartige Methoden auf nahezu alles anwenden lassen, ist ungefähr seit Beginn der Zehnerjahre eine Flut von Arbeiten zu jedem denkbaren identitätsbasierten Forschungsfeld entstanden. Mit unumstößlicher Gewissheit wird hier die objektive Wahrheit eines sozial konstruierten Wissens und die Existenz von Machthierarchien behauptet. Die Entwicklung setzte mit dem angewandten Postmodernismus ein, dessen neue Postulate dann zu Wahrheiten erklärt wurden. Die Vielfalt an Werken umfasste Methodologien, darunter die "feministische Epistemologie", "Critical-Race-Epistemologie", "postkoloniale Epistemologie" und "queere Epistemologie", sowie breiter angelegte Arbeiten zum Thema "epistemische Ungerechtigkeit", "epistemische Unterdrückung", "epistemische Ausbeutung" und "epistemische Gewalt". (32) Häufig werden diese Ansätze miteinander kombiniert und ergeben das, was im Allgemeinen unter dem Begriff Social-Justice-Forschung bekannt ist. Trotz ihrer ausgesprochenen Vielfältigkeit beruhen sämtliche dieser Ansätze zur Legitimierung "anderen Wissens" auf der Vorstellung, dass Menschen mit unterschiedlich marginalisierten Identitäten jeweils über unterschiedliches Wissen verfügen, welches im Wesentlichen auf den geteilten, verinnerlichten und gelebten Erfahrungen systemischer Unterdrückung als Mitglieder einer dieser Identitätsgruppen fußt. Als Wissende sind solche Gruppenmitglieder einerseits benachteiligt, da sie gezwungen werden, sich innerhalb eines "dominanten" Herrschaftssystems zu bewegen, das sie außen vor lässt; andererseits ist ihre Kenntnis mehrerer epistemischer Systeme jedoch ein einzigartiger Vorteil. Sie sind wahlweise Opfer "epistemischer Gewalt", wenn ihr Wissen nicht einbezogen oder anerkannt wird, oder "epistemischer Ausbeutung", wenn sie aufgefordert werden, ihr Wissen zu teilen.

Durch diese Veränderungen haben sich die Grenzen zwischen Forschung und Aktivismus allmählich verflüssigt. Früher galt es in der Lehre oder Wissenschaft als Fehler, von einem bestimmten ideologischen Standpunkt aus zu forschen. Von Lehrenden und Wissenschaftlern wurde  erwartet, dass sie sich ihrem Gegenstand so unvoreingenommen wie möglich nähern. Der Anreiz, sich an diese Vorgabe zu halten, bestand darin, anderen Wissenschaftlern die Widerlegung der eigenen Thesen durch Evidenz und Argumentation zu erschweren. Ihr Bemühen um Objektivität schien besonders erfolgreich, wenn Studenten nicht wussten, welche politischen oder ideologischen Positionen ihre Lehrer vertraten.

In der Social-Justice-Forschung wird anders gelehrt. Mittlerweile gilt die Lehre als politischer Akt, und es gibt nur eine richtige Politik: Identitätspolitik, wie sie von der Social-Justice-Bewegung und der angewandten postmodernen Theorie propagiert wird. In einer Vielzahl von Fächern, die von den Gender Studies bis zur Englischen Literatur reichen, ist es mittlerweile gang und gäbe, zunächst einen Theorie- oder ideologischen Standpunkt einzunehmen und das Material dann durch diese Brille hindurch zu sichten, ohne auch nur den Versuch zu machen, abweichende Positionen zur Kenntnis zu nehmen. Wissenschaftler dürfen sich ganz unverhohlen zu Aktivisten erklären und Aktivismus in Kursen lehren, die von vorneherein von Studenten fordern, die ideologischen Grundüberzeugungen der Social-Justice-Bewegung als gegeben vorauszusetzen und Texte zu verfassen, die deren Ansichten unterstützen. (33)

Ein besonders infamer Aufsatz, der 2016 in Géneros: Multidisciplinary Journal of Gender Studies erschien, verglich die Women's Studies in diesem Zusammenhang ernsthaft in positiver Absicht mit AIDS und Ebola: Sie sollten den Feminismus wie ein Virus verbreiten, das unser Immunsystem lahmlegt, und dabei zu Aktivisten mutierte Studenten als Spreader benutzen. (34) So überraschend oder beunruhigend diese Veränderungen auch sein mögen: Sie haben sich keineswegs im Geheimen vollzogen. Die Agenda war von Anfang an offen und unmissverständlich. (...)


=================
Anmerkungen:
1 Dabei lautet die erste Regel: Sei niemals langweilig.
2 Heute vertreten viele Akademiker die Position, die Postmoderne sei tot und jene Theorie, die uns heute beschäftige, habe nichts mit der Postmoderne zu tun. Dieses Argument beruht auf einem puristischen Ansatz, der den Postmodernismus mit der dekonstruktiven Phase gleichsetzt und von der darauffolgenden Theorie differenziert, die postmodernistische Konzepte übernommen hat. Diese Unterscheidung nehmen insbesondere diejenigen vor, die Postmoderne und die heutige identitätsbasierte Social-Justice-Forschung voneinander unterscheiden wollen, oder, umgekehrt, diejenigen, die Social-Justice-Forschung vom Makel der Postmoderne befreien möchten. Wissenschaftler, die den Postmodernismus wertschätzen, weisen darauf hin, dass Identitätspolitik, die auf konsistenten Identitätskategorien und objektiv realen Machtsystemen und Privilegien beruht, mit einer postmodernistischen Konzeption der Welt nicht vereinbar ist. Anhänger der Social-Justice-Forschung behaupten hingegen, dass die dekonstruktive und ziellose Postmoderne und die weißen Männer, auf die sie zurückginge, aus Sicht der zeitgenössischen Theorie, die eine bessere Welt erschaffen will, unmoralisch ist. Fairerweise wollen wir hier im Hinblick auf diese Einwände einräumen, dass die Zahl der Missverständnisse im Hinblick darauf, was Postmodernismus bedeutet und was nicht, Legion ist. Besonders verbreitet ist die Verschmelzung von Postmodernismus und Marxismus, der sogenannte kulturelle Marxismus oder postmoderne Neo-Marxismus. Obwohl es komplizierte Verbindungen zwischen Marxismus und Postmodernismus, der ihn dekonstruierte, gibt, ist die Behauptung, die angewandte Postmoderne greife marxistische Vorstellungen von Unterdrückern und Unterdrückten auf und wende sie auf andere Identitätskategorien wie etwa ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität an, dennoch stark vereinfachend und vordergründig. Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, gehört der Marxismus zwar zu jenen Metanarrativen, die postmoderne Theoretiker verwarfen, die kritischen Methoden, die entstanden waren, um den marxistischen Aktivismus zu fördern, wurden jedoch beibehalten und erweitert. Im nächsten Kapitel zeigen wir, dass die Nachkommen der Marxisten – die materialistischen Wissenschaftler – weiterhin sehr andere Arbeitsweisen als die Postmodernisten anwenden und deren Nachkommen äußerst kritisch gegenüberstehen. Siehe hierzu: Matthew McManus, On Marxism, Post-Modernism und "Cultural Marxism", in: Merion West, 18. Mai 2018, merionwest.com/2018/05/18/on-marxism-post-modernism-and-cultural-marxism/.
3 S. etwa: Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York: Routledge, 2015.
4 Erinnern wir uns daran, dass die Kritische Theorie ausdrücklich darauf abzielte, Fehlentwicklungen der westlichen Industriegesellschaft aufzuzeigen und soziale Veränderungen durch engagierten Aktivismus zu ermöglichen. In diesem Sinne ist der angewandte Postmodernismus eine Fusion von Postmoderne und den Derivaten der Kritischen Theorie, die sich im Lauf der Jahrzehnte in diversen Formen des Aktivismus der Neuen Linken entwickelt hatten. Diese waren, im Unterschied zum postmodernen Theoriespiel, während der Sechziger- und Siebzigerjahre praxisorientiert und militant.
5 McHale. The Cambridge Introduction to Postmodernism, S. 48.
6 Ebenda, S. 97.
7 Mark Horowitz, Anthony Haynor und Kenneth Kickham, Sociology's Sacred Victims and the Politics of Knowledge: Moral Foundations Theory and Disciplinary Controversies, in: The American Sociologist 49, Nr. 4 (2018): S. 459 – 495.
8 Jonathan Gottschall, Literature, Science and the New Humanities, New York:
Palgrave Macmillan, 2008, S. 5.
9 Evolution, Literature, and Film: A Reader, hrsg. v. Brian Boyd, Joseph Carroll,
und Jonathan Gottschall, New York: Columbia University Press, 2010, S. 2.
10 McHale, Introduction, S. 172.
11 René Descartes, Abhandlung über die Methode, richtig zu denken, http://www.zeno.org/Philosophie/M/Descartes,+Ren%C3 %A9/Abhandlung+%C3 %BCber+die+Methode,+richtig+zu+denken+und+Wahrheit+in+den+Wissen-
schaften+zu+suchen.

(…)

31 Andrew Jolivétte, Research Justice: Methodologies for Social Change, Bristol, UK : Policy Press, 2015.
32 Miranda Fricker, Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford: Oxford University Press, 2007; Kristie Dotson, "Conceptualizing Epistemic Oppression", in: Social Epistemology 28, Nr. 2 (2014); Nora Berenstain,
"Epistemic Exploitation", in: Ergo, Open Access Journal of Philosophy 3, Nr. 22 (2016); Gayatri Chakravorty Spivak, "Can the Subaltern Speak?", in: Marxism and the Interpretation of Culture, hrsg. v. Cary Nelson und Lawrence Grossberg, Chicago: University of Illinois Press, 1988.
33 Der vielleicht spektakulärste Fall wurde von FIRE (Foundation for Individual
Rights in Education) an der Universität von Columbia in South Carolina untersucht. Dort forderten Seminarregeln die Studenten auf, "anzuerkennen, dass Rassismus, Benachteiligung auf Grund sozialer Herkunft, Sexismus, Heterosexismus sowie andere Formen institutionalisierter Unterdrückung existieren", und sich dazu bereit zu erklären, gegen diese und die Mythen und Stereotypen, die sie aufrechterhielten, zu kämpfen. Schließlich wehrte sich eine Studentin dagegen, dass man ihr vorschrieb, die ideologischen Überzeugungen ihres Lehrers zu übernehmen, und FIRE legte Widerspruch gegen diese Aufforderung ein. (Siehe Barbara Applebaum, Being White, Being Good: White Complicity, White Moral Responsibility, and Social Justice Pedagogy, Lanham: Lexington Books, 2010, S. 103.) Während fraglos Vorurteile bestehen, die es unbedingt aufzudecken gilt, sind diese Seminarregeln aus zwei Gründen besorgniserregend: Es ist zum einen verstörend, dass Studenten sich schriftlich zu einer Überzeugung verpflichten und aktiv für diese eintreten sollen; die Forderung, Mythen und Stereotypen zu dechiffrieren und zu bekämpfen, beruht zum anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einer subjektiven (und ideologischen) Definition dessen, was mythisch oder stereotyp ist.


Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlags

Informationen zu Buch und Autoren hier