Im Kino

Alleinherrschaft über den eigenen Körper

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
14.02.2024. Die begleitend zur Berlinale stattfindende Woche der Kritik präsentiert Programme oft als Double Feature. Eines davon steht dieses Jahr unter dem Titel "Hangover". Zu sehen ist der Animationsfilm "Dreams about Putin" von Nastia Korkia, in dem der russische Präsident unter anderem Kuchenform annimmt; und der von Guo Zhenming produzierte chinesische Film "Tedious Days and Nights", in dem dissidente Künstler mithilfe einer radikalen Verweigerungshaltung gegen die Parteilinie opponieren. 


Eine heruntergekommene Trabantensiedlung in der Abenddämmerung. Hier gibt es oberirdisch verlaufende Rohre, vereinzelte Bäume und Laternenlichter, einen verrosteten Spielplatz, verwaiste Parkgaragen und ausgeschlachtete Autowracks. Menschen fehlen gänzlich. Nur ein kleines Mädchen mit pinkem Sportdress und roten Sneakern schaut aus dem Bild heraus, beginnt durchs Areal zu rennen, wir folgen ihm aus aufsichtiger Third-Person-Perspektive. Plötzlich erscheinen riesige, ballonartige Gebilde aus der Erde: Schwebende Köpfe mit dem, das ist schnell klar, aufgedunsenen Gesicht Wladimir Putins. Sie gleiten über dem Grund, manchmal sacken sie in die Erde hinunter oder schneiden links und rechts von sich ohne Widerstand durch Hindernisse wie Plattenbauten und Spielgerät hindurch. Nun beginnt eine Verfolgungsjagd, ein Parkour, bei dem das Mädchen vor den nahenden Köpfen flieht, dabei immer wieder in Straßen abbiegt, die sich als Sackgassen herausstellen. Hinter einem Wohnhaus ist auf einmal die Welt zu Ende. Die Figur springt herunter, wir sausen mit ihr zusammen ins orangefarbene Nichts. Von unten stellt sich die Siedlung als die Kopfoberfläche eines Männerkopfes heraus, dessen Büste nun im luftleeren Raum schwebt.

Das Ganze ist eine anachronistische, zu keinem Zeitpunkt veristisch gestaltete Computeranimation, die aus ihrem Gemachtsein keinen Hehl macht. Die Bewegungen sind ruckelig und künstlich, überall sind die offenen Enden der "Maß" sichtbar - ähnlich wie in einem Jump'n'Run-Videospiel der frühen 2000er. Als technische Grundlage der albtraumhaften Szenerie diente Nastia Korkia die Unreal Engine. Der damit entworfene Albtraum hat, wie im echten Leben, ein alltagswirkliches Fundament. Die Realitätsebene zieht der Ton ein. Abseits des ambientartigen Dröhnen hören wir ein Kind davon berichten, wie ihr Putin im Traum erschien. Es ist einer von vielen Träumen, die nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vom 24.02.2024 auf Social Media auftauchten und die der 40-minütige "Dreams about Putin" in bizarre Welten "übersetzt".

Das Leben im putinistischen Russland als böser Traum: In Polinas Traumprotokoll vom 28.03.2023 bedrängt sie Putin in einem Wohnviertel, sie nimmt Reißaus, doch er verschwindet nicht. Schließlich schneidet sie mit einem Messer durch ihn hindurch, als wäre er Kuchen. Und sein Inneres ist tatsächlich Kuchen. Das wird nicht gezeigt, dafür aber die Pacman-Putin-Köpfe hinzugedichtet. Traum und Visualisierung sind nicht deckungsgleich, das filmische Computerspiel entwickelt ein Eigenleben. Das ist auch in den anderen Traumszenerien von "Dreams about Putin" so, die vom Roten Platz, von Putin infiltrierten Alien-Invasionen und mehr handeln - gemeinsam scheint ihnen, dass sie auf eine Art Traumatherapie abzielen: Die öffentlich im Netz geteilten Monologe als Konfrontation mit den eigenen Schreckensbildern, die fremdprogrammierten Filmbilder des vermeintlich privaten Schreckens als ein Weg, sie durch Absurdität ein stückweit zu "bannen", erträglich zu machen?



Mit einem Trauma müssen auch die Protagonisten in "Tedious Days and Nights", dem dokumentarischen Langfilmdebut von Zhenming Guo (*1980), fertig werden: Die völlig abgehängte Industriestadt Coal Dam im südlichen China ist die Heimat Dekuang Zengs. Hier lebt er nach längerer Abwesenheit wieder mit seiner Frau und den Kindern zusammen, zieht aber zumeist lieber durch herbstgraue, auffällig menschenleere Gassen, frequentiert Karaokebars und illegal betriebene Bordelle, besäuft sich mit seinen Freunden He und Guan in deren Behausungen. Wie er sind auch sie unabhängige Künstler, herumstreifende Poeten. Neben ihrer Alltagslyrik, die sich mit dem Schmutz um sie herum und den heftigen Trieben in ihrem Inneren befasst, sind ihre Lebenswege durch die gemeinsame Erfahrung von Repressalien und biografischen Zäsuren verbunden, die sie als Aktivisten und Sympathisanten der Demokratiebewegung von 1989 erfahren haben. Während die älteren beiden Dichter ihrem Ekel gegenüber den Opferzahlen von Maos Kulturrevolution sowie den allgegenwärtigen Zurichtungen durch die aktuelle Diktatur der Volksrepublik freien Lauf lassen, schneidet Zeng das Thema lieber. Ein Bild seines bisherigen Lebens und seiner Gedanken setzt sich allenfalls peu á peu zusammen. Eine gradlinige Message liegt "Tedious Days and Nights" fern, auch wenn der Film von Menschen handelt, die klar sagen, was sie denken und fühlen, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie in radikaler Opposition zur offiziellen Parteilinie stehen. Vielmehr gibt uns Guos Film Vignetten aus dem Alltag der Männer, die das Extreme suchen, es gerade zelebrieren. Statt im herkömmlichen Sinne politisch aktiv zu sein, ist ihr Widerstand einer der völligen Verweigerung sowie der selbstzerstörerischen "Alleinherrschaft" über den eigenen Körper.

Extreme, traurige Bilder. Im Rausch bricht sich im Privatexil der "trash poets" (wie sie teils in englischsprachigen Kritiken genannt werden) die Wut über die sie umgebende Gesellschaft bahn, die in den mal hermetischen, mal durchkomponierten Bildern kaum je fassbar ist: Ob nun statisch oder handkamerawackelig zeigt die von Guo geführte Kamera uns lieber schummrige Küchen, Flure und Treppenaufgänge, Friseursalons, Bars und monströse, ohne viel Kontext einfach so daliegende Fabrikruinen, die jedem offiziösen Fortschrittspathos spotten. Am ehesten weist noch der Ton auf eine Welt jenseits der Geisterstadt hin. So gibt es Nachrichtenfetzen im Radio, auch Lautsprecherdurchsagen mit rigiden Anti-Covid-Auflagen, die in Coal Dam niemanden zu tangieren scheinen. Eine Parteibekanntmachung im Staatsfernsehen über einen Minister, der wegen Verfehlungen abgesetzt wurde, belegt Zeng mit seinen üblichen martialisch-vulgären Sprüchen. Wenn doch einmal das vielbesungene Kollektiv im Gleichschritt ins Bild kommt - agitatorische Parteilieder schmettern auch Zeng und seine Freunde gern zur Belustigung -, dann in haarsträubendem Kontrast zu den Szenen extremer Privat- und Isoliertheit. Bei einer Massengymnastik im Freien läuft ein Parteilied, in dem es sinngemäß am Ende heißt: Die Partei sorgt für die Emanzipation des Einzelnen. Alles, was uns Guo mit seiner Kamera zeigt, scheint genau das zu bestreiten.



In gewisser Weise ist sie auch die Komplizin von Zeng und seinen Dissidentenfreunden. Denn sie registriert nicht bloß, die Protagonisten interagieren auch mit ihr. Ähnlich wie im zeitgenössischen Dokumentarkino von Jan Soldat (*1984), das Menschen mit gesellschaftlich kaum akzeptierten Fetischen und Sexualpraktiken porträtiert und ihnen die Möglichkeit gibt, sich in ihren Privat- und Schutzräumen vor der Kamera auszuleben, hat das Ganze eine performative Seite. Den Poeten macht es sichtlich Spaß, den Staat vor laufender Kamera (und ohne Rücksicht auf drohende Strafen?) zu schmähen, sich auszuziehen, auch die eigenen Schamhaare mit einem Feuerzeug abzufackeln. Was das eigentlich für ein verdammter Film werde, fragt einer der Drei halblachend, während er aus dem Bild geht. Einer, der die Sehnsucht der Porträtierten nach persönlichem Ausdruck und einem selbstbestimmt lustvollen Leben ernst nimmt, könnte man sagen. Ganz ohne einordnenden Voice-Over und eigene Positionierung legt Guo einen stark politischen Film vor, der ohne die Sympathien seiner widerständigen Figuren, ohne die spürbare gegenseitige Vertrauen, sicher so nicht hätte gemacht werden können. Ich kenne mich zu schlecht aus, um es einschätzen zu können, aber mir kommt es wie ein kleines Wunder vor, dass er im heutigen China überhaupt so unter dem Radar fertiggestellt und nun auf internationaler Festivalbühne gezeigt werden konnte. Ausreisen wurden Guo wohl jüngst bereits verweigert. 

Tilman Schumacher

Dreams About Putin - Belgien, Ungarn 2023 - Regie: Nastia Korkia - Laufzeit: 40 Minuten.

Tedious Days and Nights - China 2023 - Regie: Guo Zhenming - Laufzeit: 110 Minuten.

Die Filme werden am 19.02. in den Hackeschen Höfen Berlin gezeigt. Weitere Informationen zum Programm auf der Website der Woche der Kritik.