Im Kino

Ziemlich unromantisch

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
06.12.2023. Von einem Leben in Freiheit träumt ein Paar, das aus der Großstadt in die spanische Provinz zieht. Aber die Dorfbewohner machen den beiden das Leben zur Hölle. Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" ist ein hochgradig kontrollierter Thriller, der im Konkreten zu sich selbst kommt.


"Wir wehren uns." - "Aber wir kamen nicht hierher, um Krieg zu führen." Während Olga (Marina Fois) dies ihrem Mann Antoine (Denis Ménochet) erwidert, können wir nur Schemen ausmachen, so dunkel ist diese Einstellung in der Mitte des Films. Die Worte wirken umso stärker, aus ihnen ist kämpferische Zuversicht, aber auch Erschöpfung herauszuhören. Die beiden liegen gemeinsam im Bett, eine Nahaufnahme zeigt die Umrisse ihrer an die Decke starrenden Gesichter. Im Flüsterton lassen sie den Tag Revue passieren, der wieder einmal vom Konflikt mit den Antas, ihren Nachbarn, geprägt war. Olga macht sich Sorgen, da Antoine mittlerweile Xan Anta (Luis Zahera) und dessen wegen eines Unfalls geistig zurückgebliebenen Bruder Lorenzo (Diego Anido) mit versteckter Kamera filmt, um später vor Gericht beweisen zu können, wie sehr sie von ihnen angefeindet werden. Das französische Auswandererpaar will in der Wahlheimat einfach nur ein ruhiges Leben im Einklang mit der Natur führen. Aber dazu kommt es nicht. Der Grundtenor des Dorfes, in dem sie die Anderssprechenden und -denkenden sind: Mit welchem Recht können Fremde behaupten, das hier sei ihre Heimat? Was wollen sie an einem Ort, von dem sich das Gros der Einheimischen jeden Tag wegträumt? Dass Antoine, der mit seinem Ersparten den Biobauern spiele, im früheren Leben ausgerechnet Lehrer in der Großstadt war, bringt die Gemeinschaft der spanischen Bergeinöde erst recht gegen ihn auf: Ein Intellektueller gehöre (wie damals schon in Sam Peckinpahs Thriller "Straw Dogs", 1971) nicht ins Dorf.


Wie in der vom Naturrhythmus mitdiktierten Dramaturgie des klassischen Westerns sind im - wenn man so will - Heimatdrama von "Wie wilde Tiere" die Abendstunden die Zeit des Nachdenkens über all das, was der Tag an Herausforderungen brachte. Der Tag wiederum ist für die Aktion da. Wenn das Paar sich nicht gerade mit den beiden feindseligen Brüdern auseinandersetzen muss, züchten sie in sanftem Naturlicht Tomaten, renovieren aufgekaufte Gutshäuser, die verwaist in der tristen Umgebung herumstehen, und bieten älteren Damen scherzend ihre Waren auf dem Gemüsemarkt an. Dort begegnet die Bevölkerung den beiden freundlich, in ihrem unmittelbaren Umfeld sind sie jedoch von Tag zu Tag isolierter. Das schlägt uns bereits in der ersten Szene entgegen, in der Antoine als Fremdkörper der Dorfkneipe eingeführt wird. Mit seinen traurig-glasigen Augen fokussiert er Xan, von dem er sich eine Hasstirade nur deshalb anhören muss, weil er beim Herausgehen das übliche "Adios" vergessen habe. Antoine ist ein Hüne, aber nichts liegt ihm ferner, als Gewalt anzuwenden. Ein paar Mal bricht es später aus ihm heraus. Schreie der Verzweiflung. Aus den verbalen Anfeindungen, in denen sich weniger Rassismus als der diffuse Hass auf all das ausdrückt, was er als Städter verkörpert, wird bald handfester Terror. Mehr und mehr setzt sich so beim Auswandererpaar wie auch bei uns die Ahnung durch, dass es tatsächlich um Leben und Tod gehen könnte.



Es ließe sich ironisch nennen, wenn "Wie wilde Tiere" nicht so ein kontrollierter, ernster Film wäre: Die Bergleute feinden das Paar nicht deshalb an, weil sie - wie schon häufig erzählt - den Fortschritt ins Hinterland bringen, sondern weil sie den Fortschritt, oder das, was die Einheimischen dafür halten, verhindern. Denn ausgerechnet Antoine stimmte einem Windparkgroßprojekt und damit der Entschädigungszahlung des norwegischen Großkonzerns nicht zu, von der sich die Dörfler das Ende ihrer Misere erhofften. Einmal wird Antoine wie hypnotisiert zu Füßen einer Windradanlage stehen, die bereits auf einem anderen Gebirgskamm thront. Die monströse Soundkulisse kündigt es an: Das wäre das Ende seines Traums vom, wie er es nennt, freien Leben. Die Naturschönheit, die er sucht, sehen die Einheimischen schon lange nicht mehr. Während die schroffe Berglandschaft für ihn ein Sehnsuchtsort ist, bedeutet sie für die abgehängten Bauern den alltäglichen Ausdruck eines fremdbestimmten Lebens, das darin besteht, Tier und Boden das Nötigste abzutrotzen. Rodrigo Sorogoyens Film entscheidet sich für keine der beiden Perspektiven. Er ist für einen Film, der so stark vom Verhältnis von Mensch und Natur handelt, ziemlich unromantisch geworden. Bei aller Gefahr, die von den Antas-Brüdern und ihren Gleichgesinnten ausgeht, wird ihre Erschöpfung für ein Leben, das nur im Überleben besteht, doch fühlbar.

Sowieso ist "Wie wilde Tiere" viel mehr am Konkreten, das heißt an der eng abgesteckten Geschichte mit ihren glaubhaften Gesichtern und Emotionen als an abstrakten Aussagen interessiert. Trotz der Konflikte, die um Stadt und Land, Individuum und Gemeinschaft, Bauern- und Bürgertum, Hass und Liebe kreisen, ist Sorogoyens Film keine Parabel. Der Regisseur interessiert sich vielmehr dafür, wie und warum die Figuren zusammenstehen, wie ihre Vergangenheit erzählt werden kann, ohne sie direkt zu zeigen. Auch dafür, wie die Sonne auf Tomatensträucher fällt, Kastanien gepult werden, die Jahreszeiten wechseln. Dabei schert er kaum je aus seiner Form aus, alles ist behutsam in Szene gesetzt. Uneitles, vielleicht darin oft etwas zu abgeklärtes Kino; ein Slowburn-Thriller, ohne jede Spur von Exzentrik oder Exzess. Spannend ist die Abfolge immergleicher Waldwege, Kneipensaufereien und Gemüsefelder aber schon: In den Scopebildern landschaftlicher Weiten und körperlicher Arbeit schwingt konstant die Bedrohung mit, als wäre sie am Horizont bereits sichtbar. Olivier Arsons (zurecht prämierter) Score antizipiert mit Dröhnen und Trommeln den Terror, dem sich Antoine und Olga ausgesetzt sehen. Das ist alles sehr gradlinig, oder aber: angenehm unmetaphorisch. Nur das hyperstilisierte Intro weicht davon ab: Slow-Mo-Aufnahmen von muskulösen Männern, wie sie majestätische Wildpferde zu Streicherdissonanz auf einer Waldlichtung umschlingen, sie so ihrer Freiheit berauben. Einer der Muskelberge nimmt ein Pferd regelrecht in den Würgegriff, um es zu Boden zu drücken. Das ist ein Motiv im Detailausschnitt, das später noch einmal in abgewandelter Form auftaucht, ein Bild, das einen so schnell nicht mehr loslässt. Das erneute Würgen ist der Kipppunkt, an dem der Film noch einmal eine andere Richtung einschlägt. Das hat man angesichts solcher Stringenz gar nicht mehr für möglich gehalten.

Tilman Schumacher

Wie wilde Tiere - Spanien 2022 - OT: As bestas - Regie: Rodrigo Sorogoyen - Darsteller: Marina Foïs, Denis Ménochet, Luis Zahera, Diego Anido, Marie Colomb - Laufzeit: 137 Minuten.