Vorgeblättert

Leseprobe zu Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten. Teil 2

10.03.2014.
Wenige Stunden später saß sie in sich zusammengesunken auf einer Bank im Stadtpark, unweit des Altenheims in der Hermina-Straße, wo sie wohnte. Man hatte sie wieder davongescheucht. Aus der Klinik in der Amerikanischen Straße und auch aus dem Hospiz daneben. In Letzterem teilte man ihr mit, dass nicht sie diejenigen zu sein pflegen, die für etwas zahlen, sondern man zahlt ihnen, und dass die, die bei ihnen sind, eher eine Ente von guter Qualität benötigten als eine neue Niere. Eine unglaubliche Einstellung, empörte sie sich, und dann wundern sie sich, dass die Juden so unbeliebt sind. Die Wohnung auf dem Schwabenberg hat Ernő, ihr erster Mann, seinerzeit deswegen wiederbekommen, weil er zugestimmt hat, dem Industrieministerium Ratschläge zu erteilen. Sie hat ihm zwar gesagt, wenn man bedenkt, dass sie die Maschinenfabrik und dazu noch die andere Hälfte der Villa einkassiert haben, könnte man sich auch woanders niederlassen und müsste sich auf kein Techtelmechtel mit denen einlassen, aber nein, er wollte sein eigenes wiederhaben, er hing daran und sagte immer nur, dass, gemessen daran, was sie alles weggenommen haben, dies hier das Minimum sei, und wenn überhaupt, dann seien es die, die ihm verpflichtet sind, und sie können ihm den nassen Buckel runterrutschen, und wenn Margó das nicht gefalle, er sage das nicht gerne, dann hätte sie ihn halt nicht heiraten sollen. Dabei mochte es Margó nicht, auf dem Berg zu wohnen, jeder Gang zum nächsten Geschäft kam einem kleinen Ausflug gleich, man traf auf der Straße keine Bekannten, man konnte nicht vor Geschäften oder an der Ecke stehen und tratschen, und sie dachte voller Neid an ihre Freundinnen aus der Leopoldstadt, drüben, in Pest, denen das, sozusagen, eine natürliche Gegebenheit war. Ernő hingegen war unbeugsam und sagte kurz angebunden nur so viel, wenn es sonst nichts ist, solle sie eben die frische Luft genießen. Na, davon hatte sie dann eine so reine Lunge wie die Spitze des Montblanc, zieht man das Eingeatmete von Ernős Stinkstengel ab (ob dann der Infarkt, an dem er starb, nun von diesen kam oder es die allgemeine Aufregung war, die ein Ende mit ihm machte, wir werden es nie wissen), und das wollten sie nun mit einer lockeren Bewegung auf den Misthaufen werfen, indem sie sagten, dass sie es bedauerten, aber "Sie sind leider ein wenig zu betagt", warum sagen sie nicht gleich, dass sie so alt sei wie das Raumschiff Orion, und sie möge weiter im All kreisen bis zur Wiederauferstehung von Großungarn.
Ende Oktober, sie saß im Stadtpark auf einer Bank und starrte vor sich hin. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es jetzt weitergehen sollte. Vereitelt der brillante Plan. Zumindest sah es sehr danach aus. - Niedlicher Hund. Ihrer? - Als hörte sie die Worte, die offenbar an sie gerichtet waren, durch einen Vorhang. Sie hob den Blick. Aus einem jungen, sehr mageren Gesicht schaute sie ein brennendes, fiebrig wirkendes Augenpaar an. In eine der Augenbrauen des Mädchens waren zwei leere Ringe gehängt, von denen ihr nur einfiel, dass sie aussahen, als wäre der Vorhang, der dazu gehört, gerade in der Wäsche. Mehr noch, nachdem sie sie genauer in Augenschein genommen hatte, sah sie, dass auch in beiden Ohren mehrere von den Dingern steckten. Ihre Hand war ein wenig schmuddelig, die Nägel abgeknabbert bis zum Anschlag. Bei diesem feuchtkalten Wetter trug sie nur eine Jeansjacke, die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt. Auf einen Unterarm war ein Monogrammund ein Datum tätowiert. Es dauerte eine Weile, bis sie den Mund zu einer Antwort öffnete. Sie war es nicht gewöhnt, dass Leute dieses Alters sie ansprachen. In der Poliklinik - angeblich sagte man nicht mehr so, aber ihr kam es immer noch so auf die Zunge - führte sie von Zeit zu Zeit gute Gespräche mit den anderen Leuten ihres Alters, meist ging sie auch nur deswegen überhaupt dahin, damit sie auch mal mit jemand anderem Worte wechseln konnte, nicht immer nur mit den Kretins aus dem Heim, die sie nicht mehr ertragen konnte. Dieses Mädchen aber mochte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Die ungewohnte Situation belebte sie ein wenig.
Ja, der ist meiner. Mögen Sie Hunde?
Ja, besonders so kleine. Ein Foxterrier, oder? Wie heißt er?
Jolie.
Ah, vornehm, französisch. Früher hatte ich auch mal einen Hund.
Was ist aus ihm geworden?
Vom Auto überfahren.
O wie schade. Der Ärmste. Wie hieß er?
Möschen. Ein Glatthaardackel.
Margó fühlte sich ein wenig unangenehm berührt. Sie war auch kein Kind von Traurigkeit, aber dieses Mädchen war zu jung, um so frivol zu sein. Das war ihr nicht recht. Dem Feri, ihrem zweiten Mann, sagte sie auch immer, er solle nicht so reden. Nur in der letzten Nacht, als sie die Nachricht von ihrem Sohn erhielten, hat sie ihn gewähren lassen. Da war es schon egal, denn in der Stunde hat auch für sie derjenige zu existieren aufgehört, den ihr Mann da lästerte. Plötzlich tat ihr das abgerissene Mädchen leid.
Woran soll Sie diese Tätowierung an Ihrem Arm erinnern?
An einen Typen. Eine alte Sache. War eine blöde Idee, es hinschreiben zu lassen. Ich war noch sehr jung.
Heute sind Sie auch nicht gerade alt. Stellen Sie sich vor, ich hab auch so was.
Was? Einen Typen?
Margó krempelte den Arm ihres Mantels hoch, um ihren Unterarm zu zeigen.
Was ist das denn? Auch eine alte Sache. Ich war auch sehr jung. Ein Souvenir.
Ah bon.
Sie sprechen doch nicht etwa Französisch?
Das ist mehr oder weniger alles, was noch da ist. Ich hab mal Französisch studiert.
Und dann?
Und dann musste ich arbeiten gehen. Brauchte die Kohle.
Sie Ärmste. Haben Ihre Eltern Sie denn nicht unterstützt?
Na ja, das, wofür ich das Geld gebraucht habe, haben sie nicht unterstützt.
Margó schwieg diskret. Sie erinnerte sich, dass es auch ihr Sohn nicht mochte, wenn sie ihn nach Sachen ausquetschte, über die er nicht gerne redete. Über die Frauengeschichten zum Beispiel. Und wie viel er verdiente. Wenn du Geld brauchst, sag Bescheid, ich geb dir welches. Den Rest lass meine Sorge sein. Er war ein geschickter Junge, den anderen immer einen Schritt voraus. Er kleidete sich so schick, er trug immer die teuersten Marken.
Und Sie? Haben Sie Familie?
Margó schwieg eine Weile. Sie merkte, wie ihr Puls schneller schlug.
Ich habe einen Sohn. Er würde gut zu Ihnen passen.
Wirklich? Haben Sie ein Foto von ihm?
Margó öffnete ihr Ridikül und holte ein Foto hervor, das in einem breitrandigen Plastiketui für Monatskarten steckte.
Das Mädchen pfiff anerkennend.
Nicht schlecht.
Was habe ich gesagt?
Der hat vielleicht coole Klamotten. Der Anzug ist Minimum ein Armani. Wenn ich so einen Kerl hätte, hätte ich keine einzige Sorge mehr. Und er ist sogar gutaussehend. Ich bin schon jetzt verknallt.
Mit einem Mal vergaß Margó ihren Ärger. Mit einem lange nicht mehr gekannten Glücksgefühl saß sie mit diesem fremden Mädchen auf der Bank und überlegte, wie sie ihr Zusammensein noch verlängern konnte. Es wurde immer kälter.
Ich wohne nicht weit von hier, in der Hermina-Straße, würden Sie mich begleiten?
Warum nicht? Ich habe sowieso nichts zu tun. Darf ich Jolie führen? Ich habe so lange keine Leinemehr in der Hand gehabt.
Margó lächelte. Als sie am Tor des Heims standen, kam ihr eine Idee. Sie hatte noch nie jemanden hierher eingeladen, noch nicht einmal Bekannte, geschweige denn Unbekannte. Obwohl, die, die sie hätten einladen können, waren meist sowieso schon tot.
Ist Ihnen nicht kalt, wollen Sie vielleicht hereinkommen auf einen Tee?
Doch, sehr gerne. Besonders, wenn Sie noch ein wenig Rum dazu hätten.
Drinnen trug Margó das Mädchen wie eine Siegestrophäe über den Flur. Soll doch die Gréti der Schlag treffen. Jetzt hat sie nicht nur einen Hund, sondern auch noch eine Besucherin. Das soll ihr die alte Spinatwachtel mal nachmachen. Bei ihrem Wohnbereich angekommen, öffnete sie die Tür und entschuldigte sich für die etwas, wie sie sagte, chaotischen Zustände. Das Mädchen winkte ab, ach was, sie denke wohl doch nicht, dass sie so etwas störe. Aber als sie weiter hineinkam und sich umschaute, war sie dann doch sichtlich überrascht.
Werfen Sie nie was weg?
Ich bring's nicht übers Herz. Man kann nie wissen. Aber was wirklich wertvoll war, habe ich schon alles verkauft. Das hier ist nur noch die eiserne Reserve.
Sie warf ihren Mantel auf einen Stuhl und ging in die Teeküche, um Wasser aufzusetzen. Wenigstens würde sie diesen Raum auch mal seiner Funktion gemäß benutzen, bis jetzt hatte sie ihn nur vollgepackt. Konservenbüchsen, Kefirbecher, Plastiktüten, benutzte Staubsaugerbeutel, Zeitungen, Einmachgläser, und über allem thronte siegesstolz ein ausgestopfter Papagei. Von hier aus rief sie ins Zimmer zurück.
Was hier noch Wert hat, ist alles von meinem Sohn. Der Anzug auch, der auf dem Foto. Was haben Sie gesagt, was für eine Marke ist das?
Aber wieso sind die Sachen Ihres Sohnes bei Ihnen?
… Er zieht um .… Solange bewahre ich sie für ihn auf.
Wenige Minuten später kam sie schon ins Zimmer zurück mit zwei dampfenden Teetassen in der Hand.
Stellen Sie sich vor, ich habe sogar ein bisschen richtigen Teerum gefunden. Was haben Sie gesagt, wie heißen Sie?
Sie sah sich im leeren Zimmer um. Ihre Sätze hingen in der Luft wie schlaff gewordene Luftballons. Die Spiegeltür des braunen Schrankes und die Eingangstür sperrangelweit offen. Sie ging auf den Flur hinaus, immer noch mit den beiden dampfenden Bechern in der Hand. Vom Gemeinschaftsraum her kam, auf ihren Stock mit dem silbernen Kopf gestützt, ausgerechnet die Gréti auf sie zugeschlurft.
Hast du dir jetzt sogar eine Haushälterin besorgt, rief sie von weitem, ihren Satz mit einem kratzigen kleinen Lacher beschließend.
Wo ist sie hin?, fragte Margó . Sie hatte einen Kloß im Hals.
Wohin, wohin. Wohin du sie geschickt hast. Sie hat gesagt, du hast sie gebeten, einen Anzug in die Reinigung zu bringen. Willst du jetzt auch noch die Sachen deines Sohnes verscherbeln? Margólein, ich sage dir, das nimmt kein gutes Ende. Wenn deine Tochter nach Hause kommt, wird sie dir dafür die Leviten lesen. Aber den Tee nehme ich gerne an, danke.
Und damit nahm ihr Gréti eine der Teetassen aus der Hand und verschwand hinter der Tür gegenüber.

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