Vorgeblättert

Leseprobe zu Ruska Jorjoliani: Du bist in einer Luft mit mir. Teil 1

16.07.2018.
I.
Erste Schreie

Über Kirills Anfänge erzählte man sich, seine Mutter Schoschanna Sokratowna, ein nicht besonders gesprächiges, jüdisches junges Mädchen, habe, als sie ihrem Mann, dem frischgebackenen Geisteswissenschaftler Dimitri Gawrilowitsch anvertraute, dass sie abzutreiben gedenke ("Oh Dima, es gibt keinen anderen Ausweg"), auf das schief in den Angeln hängende Fenster gestarrt und sich dabei in den zierlichen Arm gekniffen. Ihr Dima soll daraufhin "Wie bitte?" gerufen und der Hand seiner Ehefrau, die von ihrer Haut nicht abließ, mit einem entschlossenen Klaps Einhalt geboten haben. "Und wenn er als Dichter geboren wird?"
     Was meine Geburt betraf, erzählte man nur von einem Fetzen Papier, den meine Mutter Alina Petrowna, eine abergläubische Bäuerin aus dem Kuban, während der Entbindung fest in der Hand gehalten haben soll. Vor der Ankunft des Arztes hatte sie sich noch zum Schreibtisch meines Vaters Viktor Bulatowitsch geschleppt, hatte den schweren Bauch darauf abgesetzt wie eine Einkaufstasche, dann eine Seite aus einem dort liegenden Notizbuch herausgerissen und mit einem stumpfen Bleistift geschrieben: Lieber Gott, mach, dass er nicht wird wie sein Vater, dieser Mörder.
     Später kam "dieser Mörder" nach Hause, ein junger Ingenieur, der geschworen hätte, in seinem Leben vielleicht höchstens einmal eine Wachtel getötet zu haben. Als er die erschöpft auf dem Bett ausgestreckte Wöchnerin sah, zuckte er zusammen. Ob vor Freude oder aus Verzweiflung, erfuhr man nie genau. Doch als er dann seine Lippen an die Stirn der Frau führte - noch bevor er mich in den Arm nahm, dieses runzlige, in alte Laken gewickelte Wesen, das aussah wie eine rosafarbene Wurzelknolle -, erblickte er den blauen Papierfetzen auf der Bettdecke und wusste sofort, woher der stammte.
     Das Notizbuch bedeutete meinem Vater viel. Er brauchte es, um darin alle seine großartigen Projekte aufzuschreiben. Nie verzieh er seiner Frau diese leichtfertige Tat. Nie fragte er nach, wozu sie den Papierfetzen benötigt hatte. Er brummte irgendetwas und warf sich, ohne die alten Filzstiefel auszuziehen, auf das Bett.


II.
Der Traum

In fast jedem russischen Roman gibt es ein Kapitel über einen mal mehr, mal weniger sonderbaren, mal mehr, mal weniger warnenden Traum, und normalerweise ist das der langweiligste Teil. Wappnet euch also mit Geduld und seid bereit, den Preis für eure Liebe zur prätentiösen russischen Literatur zu zahlen.
     In meinem jüngsten Traum war ich, zwischen Phasen der Schlaflosigkeit, unterwegs zu einem unbekannten Ziel. Ich erreichte einen mir zunächst fremden Ort, aber nach einer Weile wurde mir klar, dass es sich um die Stadt G. im Gouvernement V. handelte, obwohl ich da nie gewesen war. Auf einer Anhöhe erahnte ich im Gegenlicht ein paar lädierte Schaukeln, die ich im ersten Augenblick mit ausgedienten Galgen verwechselt hatte. Als ich weiter ging, flatterte nach kaum zwei Schritten eine graue, fahrige Gestalt an mir vorbei wie eine der verrückten Frauen, die man auf Gemälden von Bruegel findet. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, murmelte sie etwas von Pilzen und eilte atemlos davon. Dann erschien ein seltsamer, völlig zerlumpter Mönch mit einem dicken Kater auf dem Arm. Er musterte mich mit so geweiteten Augen, dass es mir vorkam, als wären sie mir näher als sein restliches Gesicht, als würde ich sie durch zwei Vergrößerungsgläser sehen.
     "Grüß dich, Geselle", sprach ich ihn an, wie Baba Jaga im Märchen. "Suchst du das Abenteuer oder fliehst du das Unheil?"
     "Du Dummkopf von Buchstabenhüter!", sagte er unverblümt.
     "Bitte?"
     "Du hast richtig gehört."
     Seine Stimme klang so hölzern, als hätte ein blu tiger Anfänger von Schreiner sie mit dem Hobel be arbeitet.
     "Das sagst ausgerechnet du, ein Bewohner von Glupow!"
     "Oh nein, Jüngelchen", sagte er kopfschüttelnd, "du darfst doch den Namen der Stadt nicht nennen, erinnerst du dich nicht?" Er streichelte den Kater. "Ein wahrer Schriftsteller tut das nicht."
     Da hätten wir wieder einmal den üblichen dubiosen Geistlichen der russischen Literatur, dachte ich und sagte: "Was weißt du schon von wahren Schriftstellern?"
     "Was ich von wahren Schriftstellern weiß?" Er senkte den Kopf und betrachtete den honigsüß blinzelnden Kater. "Genug, um mir im Klaren darüber zu sein, dass du keiner bist."
     "Mag sein", antwortete ich, "dafür kann ich ausnahmslos alle Gedichte von Puschkin auswendig. Ich bin fähig, meinen Namen verkehrt herum in meiner normalen Handschrift zu schreiben. Ich kann dir die Distanz zwischen Glupow und Miroslaw in Millimetern sagen. Und wenn mir der Hut aus dem Zug fliegt, werfe ich auch meinen Kopf hinterher was sollte der Finder schon mit einem Hut ohne Kopf anfangen?"
     Er lachte.
     "Kannst du zufällig auch Tote zum Leben erwecken?"
     "Wie meinst du das?"
     "Du weißt genau, wie ich das meine", sagte er spöttisch. "Aber wann wirst du endlich einsehen, dass du nicht mehr wert bist als ein Friedhofshund, der ab und zu einen Knochen ausgräbt?"
     Ich fürchtete, der Traum könnte abbrechen. Meine Nerven waren gespannt wie die Saiten einer Balalaika, an deren einem Ende der Schlaf, am anderen der Wachzustand zerrte, und ich hoffte, dass der Schlaf die Oberhand behalten würde, damit ich diesem Idioten noch eine Ohrfeige verpassen konnte. Aber ich sah ihn nicht mehr, weder ihn, noch den Kater, ich hörte ihn nur noch lachen, sich kaputtlachen, mit der kratzigen Stimme eines greisen Radiosprechers, die in einem alten Transistorradio hallt, leiser wird und schließlich ganz verstummt.


III.
Brief Nr. 1

     Lieber Kirill,
     ich schreibe Dir so, mon cher ami, wie Dir Puschkin, Dein geliebter Puschkin, geschrieben hätte.
     Ich hoffe, "der reinsten Schönheit Genie" habe Dich noch nicht verlassen, in jener nebligen Stadt. Sei stark, lieber Bruder, wo Dir doch der graue Niedergang der großen Ideale erspart geblieben ist. Die Vision der Horizonte, für die die mildtätige russische Seele seit den Dekabristen brannte, ist verblasst. Auch wenn man von An fang an einen großen Unterschied zwischen unseren Dekabristen und euren Bolschewiken erahnte. Traurig ist bekanntlich unser Schicksal, jedoch wollen wir die S egel der Hoffnung nicht streichen, Du meine unver gleichliche Seele. Widerstehe dem dunklen Sturm einer Übergangszeit, wie sie dem Wesen aller Epochen inne wohnt. Widerstehe, aufrechter Mann, den Windböen, die Dich zuerst zu beugen und dann zu brechen suchen. Keh re ungebrochen aus dem gefürchteten Sibirien zurück. Du willst ebenso wenig sterben wie ich, das weiß ich. Du willst denken und leiden. Komm also zurück. Lass es nicht zu, dass der Sonnenuntergang sein Abschieds lächeln auch an Dich richtet.                     
     Immer Dein Alexander


Kommentar zu Brief Nr. 1

An jenem Oktobertag (siehe Bild) versprachen Kirill und ich uns gegenseitig, dass wir künftig unsere Lieblingsdichter, Puschkin und Lermontow, in allem nachahmen würden: im Sprechen, im Schreiben, in der Kleidung.
     "Je le promets, mon cher ami", sagte ich feierlich, nahm einen rissigen Ast und stützte mich darauf wie auf einen Spazierstock.
     Kirill trat schmunzelnd zu mir.
     "Der Graf hätte uns vielleicht für doof gehalten."
     Graf war der Titel, den unsere naive Bruderschaft Kirills Vater verliehen hatte dem glücklosen Literaten Dimitri Gawrilowitsch.
     "Quatsch, der Graf hielt große Stücke auf Puschkin", sagte ich und reichte ihm meinen behelfsmäßigen Spazierstock. "Probieren Sie den mal aus, Monsieur!"
     Kaum hatte er sich in Pose geworfen, wobei er damit eher an einen Krüppel als an einen romantischen Dichter erinnerte, fiel ihm das schaumige Exkrement eines nicht näher identifizierten gefiederten Wesens auf den Kopf. Er fuhr sich über das Haar, führte die Hand dicht vor die Augen, bis sie fast seine Nasenspitze berührte (er war so kurzsichtig, dass er eine Tupolew nicht von einem Vogel unterscheiden konnte), und zog eine angewiderte Grimasse. Ich rief: "Mesdames et Messieurs, hiermit präsentiere ich Ihnen den großen russischen Dichter Kirill Dimitrijewitsch Exkrementow!"

Leseprobe 2. Teil