Im Kino

Alles neu, alles ein Problem

Die Filmkolumne. Von Kamil Moll
13.09.2023. Ist Dany Boon ein Molière für unsere Zeit? In seiner neuen Komödie "Voll ins Leben" erweist er sich abermals als ein gewitzter Beobachter zwischenmenschlicher Unterschiede - selbst wenn sie von einem Leben im Club Med einerseits und in Paris andererseits geprägt sind.


Da ist dieser Typ, Tridan (Dany Boon), der sitzt neben dem Uber-Fahrer auf dem Beifahrersitz und beugt sich ständig nach hinten, um mit den Fahrgästen zu reden. Einem jungen Pärchen, frisch zusammen, erzählt er von seiner lebenslangen Liebe: Sie heißt Violette, und er ist seit 42 Jahren irrsinnig in sie verliebt. Wie das gehe, jemanden so lange so stark zu lieben, fragt das Pärchen. Nun, sagt Tridan, "wir haben uns seit 42 Jahren nicht gesehen. Das ist das Geheimnis."

Tridan ist jemand, für den es schon die Versuchsanordnung einer Komödie braucht. Geboren wurde er in einem Club Méditerranée in Mexiko, wo er, da seine Eltern dort arbeiteten, sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Als Inbegriff des einstmals populären Kluburlaubs sind die französischen Club Meds heutzutage die Überreste einer eher bizarren Art der vollumfänglichen Entspannungsreise: touristische, abgeschottete All-inclusive-Ferienanlagen mit den heimeligen Strukturen eines Dorfes, in dem die Angestellten "nette Organisatoren" und die Feriengäste "nette Mitglieder" genannt werden und das Bezahlen mit Geldscheinen durch ein eigenes Tauschsystem via Perlen ersetzt wurde. Über den befremdenden Besuch in diesen Miniaturwelten drehte bereits Anfang der 80er-Jahre der Regisseur Patrice Leconte eine Reihe von Komödien ("Les Bronzés"). In seiner neuesten Regiearbeit "Voll ins Leben" interessiert sich Dany Boon hingegen dafür, wie auch die aberwitzigsten Strukturen für jemanden, der keine anderen kennt, den Blick auf die Welt bestimmen können. Außerhalb des Klubs versteht die von Boon gespielte Hauptfigur nichts. Selbst sein Name, im Französischen ausgesprochen wie "trident", also Dreizack, verweist auf das jahrzehntelange Symbol des Klubs.

"In deinem Alter geht man nicht mehr fort": Mit Anfang 50 erinnert sich Tridan immer noch an ein Mädchen, in das er sich mit acht Jahren verliebt und das er seitdem nie wieder gesehen hat, obwohl sie damals gemeinsam einen launigen Fluchtversuch aus dem Club Med unternahmen. Barfuß, in Leinenhose und "Aloha Riviera"-Hawaii-Hemd gekleidet, beschließt er, zum ersten Mal das Resort zu verlassen und nach Paris aufzubrechen, um Violette zu finden. Dort ist alles neu, alles ein Problem. Selbst das Prinzip von Schuhen, die nach vorne hin schmaler werden, obwohl die Kontur von Füßen an dieser Stelle breiter wird, begreift Tridan nicht. In der alten Pariser Wohnung seines Vaters trifft er überraschend auf seinen Halbbruder Louis (gespielt von Kad Merad, einem im Duo mit Boon mehrfach erprobten Komödianten). Dieser befürchtet, als unehelicher, nicht anerkannter Sohn seine Unterkunft an Tridan zu verlieren und entwickelt einen Plan, der diesen wieder zurück in den Club Med befördern soll: Roxane (Charlotte Gainsbourg) soll Violette mimen und Tridan schließlich aufgrund unüberbrückbarer kultureller Differenzen fallen lassen.



Wurde der populärkomödiantische Culture Clash seines erfolgreichsten Films "Willkommen bei den Scht'is" hierzulande von der Filmkritik noch eher als schematisch und nur allzu leicht überwindbar belächelt, so offenbart sich Dany Boon, betrachtet man seine mittlerweile drei Jahrzehnte umfassende Regiekarriere genauer, in Wirklichkeit als ein präziser und gewitzter Beobachter zwischenmenschlicher Unterschiede, denen er in immer wieder neuen Variationen und handwerklich makellosen Drehbuchkonstruktionen nachspürt. Seine Hauptfiguren sind oftmals Selbstbetrüger, denen es mehr Mühe bereitet, sich ihren Täuschungen zu stellen, als ihr Umfeld in groteske Spinnereien zu verstricken: ein geiziger Krediteintreiber, den eine heimliche Investition in den Ruin treibt, ein hypochondrischer Fotograf einer medizinischen Onlineenzyklopädie, der zum eingebildeten Revolutionsführer wird - und am publikumswirksamsten im ersten "Sch'tis"-Film: ein in den Norden Frankreichs strafversetzter Postbeamter, der für seine Frau buchstäblich ein Potemkinsches Dorf voller besoffener Waffennarren errichtet, um ihre Vorbehalte gegen die Gegend nicht entkräften zu müssen. Die muntere Figurentypisierung, die in ihrem erstaunlich nuancierten Umfang geradezu den Stücken Molières entlehnt scheint, lässt insbesondere den Einfluss Claude Berris und Francis Vebers erkennen, zwei der besten und erfolgreichsten Routiniers aus der Hochphase des populären, französischen Komödienkinos. Das Derbe und Zarte, das Brachiale und Sentimentale gehen dabei so gekonnt zusammen wie im Schaffen Adam Sandlers (der die Wesensverwandtschaft längst erkannt und Boon in den letzten Jahren in Nebenrollen seiner Produktionen besetzt hat).

Identität ist bei Dany Boon stets auch gemacht und kann bewusst gewählt werden. Und in der Liebe gilt sie bei "Voll ins Leben" gar nicht. Mit spürbarem Elan und Neugierde spielt Charlotte Gainsbourg ihre gedoppelte Rolle und harmoniert mit Boon auf eine so widersprüchliche wie letztlich einleuchtende Weise - stets eine Voraussetzung für das Gelingen noch der konstruiertesten romantischen Komödie. Die Annäherung der beiden entwickelt sich dabei nicht als unaussprechliches Rätsel, sondern entlang der konkreten Erkenntnis und Akzeptanz von Unterschieden - "Jeder sieht mit seinem Blick und seiner Sensibilität". In der rührseligsten, also schönsten Szene des Films zeigt Roxane Trigan im Musée d'Orsay ein Gemälde von Manet. Er kennt es genau, allerdings fehlte ihm bislang ein Ausschnitt, da er das Bild einmal als Puzzle zusammengesetzt hatte und ein Teil verloren gegangen war. Aus einem ursprünglich unverständlichen Geheimnis wandelt sich die Beziehung zwischen Trigan und Roxane zu einer Herausforderung, die möglicherweise darin liegen wird, sich die nächsten 42 Jahre täglich zu sehen.

Kamil Moll

Voll ins Leben - La vie pour de vrai - Frankreich 2023 - Regie: Dany Boon - Darsteller: Dany Boon, Kad Merad, Charlotte Gainsbourg, Maxime Gasteuil - Laufzeit: 110 Minuten.