Im Kino

Würdevolle Lächerlichkeit

Die Filmkolumne. Von Kamil Moll
24.01.2024. Getragen von seinem wunderbaren Hauptdarsteller Paul Giamatti erzählt Alexander Payne von einer Gruppe Zurückgelassener in einem amerikanischen Internat der 1970er Jahre. "The Holdovers" evoziert geschickt eine historische Epoche und beweist das gute Händchen seines Regisseurs fürs Dramenkino mit Komödiensensibilität.


Paul Giamatti scheint mir ein Richard Dreyfuss unserer Zeit zu sein: ein Schauspieler mit einer klar wiedererkennbaren, eigenen Comedy-Methodik, dessen Können aber nicht in der überbetonten Manier liegt, sondern in einer gelassenen Alltäglichkeit, einer natürlichen Beiläufigkeit der Gesten und der Mimik - stilisiert, aber casual. In Alexander Paynes "The Holdovers" spielt er Paul Hunham, einen Vertretungslehrer, der ohne Universitätsabschluss seit Dekaden an einem Ostküsten-Internat in New England unterrichtet. Figuren wie ihn gibt es viele in der so schönen wie langen Geschichte von High-School- und Paukerfilmen, aber Giamatti spielt die zunächst durchaus karikaturhaft angelegte Rolle zurückhaltend, mit würdevoller Lächerlichkeit. Rezitiert er vor Schülern Demokrit oder klärt Zufallsbekanntschaften an der Bar über die Übersprünge von Santa Claus auf, weist sein Körper über das bloße Klischee eines pedantischen Pennäler-Zuchtmeisters hinaus: Der Kopf wackelt und schüttelt sich munter beim Sprechen, als würde er einer inneren Melodie folgen, das spöttische Lächeln wirkt eher in sich verfangen als überheblich.

Obwohl der Film an einigen Tagen um das Weihnachtsfest im Jahre 1969 spielt, bildet die Miniaturwelt eines gut situierten Internats kaum den Rahmen zu dramatischen Autoritäts- und Sozialkonflikten. Die, die an diesen Tagen in der Schule bleiben müssen und gemeinsam in der Krankenstation übernachten, weil das der einzige über die Feiertage beheizte Flügel im Gebäude ist, verbindet das Gefühl, zurückgelassen worden zu sein: Schüler, die über Weihnachten nicht zu ihren Familien zurückkehren können, sprichwörtliche holdovers. Auch Hunham, von einem Kollegen überlistet, bleibt als Aufsichtsperson im Internat - und von der sich entwickelnden Beziehung zu einem der Schüler (Dominic Sessa in seiner ersten Filmrolle) erzählt Payne auf eine stilsicher warmherzige Weise, die nur gelegentlich dramaturgisch zu forciert wirkt.



"The Holdovers" blick auf den Übergang in die 70er-Jahre durchaus aus einer nostalgisch weicher gebetteten Perspektive zurück (der Vietnamkrieg spielt beispielsweise nur als das ferne Echo einer Backstory eine Rolle). Dem Look und der Textur der Filme dieser Zeit kommt er freilich so nahe, wie es mit den Mitteln einer kleineren, digital gedrehten Produktion möglich scheint. Anders als Paul Thomas Anderson, dem mit "Licorice Pizza" zuletzt die großformatige Immersion in die 70er selbst gelang, rekonstruiert Payne mit seinem Kameramann Eigil Bryld lediglich die äußeren Marker und ästhetischen Eigenheiten des New-Hollywood-Kinos: eine eher ungesättigte Farbpalette, sparsame künstliche Ausleuchtung, langsame Zooms in das Geschehen hinein, geschmeidig ineinander geblendete Establishing Shots, betont sorgfältige Kamerafahrten. Nur selten, in der Verwendung alter Produktionslogos und der digitalen Imitation von Abnutzungsspuren auf analogem Filmmaterial etwa, hat das den Beigeschmack eines etwas zu wohlfeilen Pastiche.

In allen wesentlichen Motiven und vielen charakterlichen wie äußerlichen Details basiert "The Holdovers", ohne eigene Erwähnung in den Credits, auf Marcel Pagnols "Merlusse" von 1935. Dass der Film Alexander Payne als einen filmgeschichtlich solide bewanderten Mainstream-Klassizisten ausweist, verwundert eher, wenn man auf seine bisherige Filmografie schaut. In Ton und Themenwahl erscheint sein Werk reichlich inkonsistent. Sind die Komödien zu Beginn seiner Karriere ("Citizen Ruth", "Election") bisweilen von einer allzu simplen satirischen Überspanntheit gezeichnet, schielen dramennahere Stoffe wie "About Schmidt" oder "Nebraska" in fernsehhafter Ästhetik und gediegener Travelogue-Dynamik allzu kalkuliert auf die Preisnominierungen ihrer Hauptdarsteller.

Vielleicht war es zuletzt ja das finanzielle Desaster seines einzigen größeren Projekts, des erratischen Blockbuster-Versuchs "Downsizing" von 2017, das den einstigen Indiewood-Liebling Payne zur notwendigen Konsolidierung bewog. Nicht nur in der erneuten Zusammenarbeit mit Giamatti greift er stattdessen auf die Stärken seines bis dahin besten Films "Sideways" zurück: eines charakterzentrierten Dramenkinos mit Komödiensensibilität auf konzentriertem Mid-Budget-Niveau. Möglicherweise ist dieser Rückgriff auch ein Blick nach vorne: Zu einem Zeitpunkt, an dem das den amerikanischen Mainstream dominierende Franchise-Kino der letzten anderthalb Jahrzehnte kommerziell immer weiter ausbrennt, ist "The Holdovers" einer der bislang entschiedensten und gelungensten Versuche einer restaurativen Besinnung auf lange brach liegende Genre-Traditionen, die wieder einen neuen Anfang verheißen könnten.

Kamil Moll

The Holdovers - Regie: Alexander Payne - Darsteller: Paul Giamatti, Da'Vine Randolph, Dominic Sessa, Carrie Preston, Brady Hepner, Ian Dolley - Laufzeit: 133 Minuten.