Vorgeblättert

Dragan Velikic: Lichter der Berührung. Teil 3

07.02.2005.
Obwohl in vorgerücktem Alter (dessen Reichweite Tibor in seinen Wiener Jahren ermessen lernte), folgte Martha Cop­peans jedem seiner Worte, und als er Sabatka (Subotica) erwähnte, lächelte sie bitter, mit dem Reflex der unverbesserlichen Monarchistin.

Am Flughafen von Pula auf den Nachtlinienbus nach Porec wartend, hatte er Rita kennen gelernt. Pula war die Stadt, in der Martha geboren war, am ersten Tag des Jahres 1886.

Nachdem er Frau Gauß hinausbegleitet hatte, fand sich Tibor in einer Leere. Bis zum nächsten Patienten blieben ihm vierzig Minuten. Er trat ans Fenster, das auf die düstere Ungargasse hinausging, eine Straße mit dunklen Fassaden, durch die sich Straßenbahnschienen schlängelten. Rita und Tibor hatten Wohnung und Praxis in der Ungargasse vor acht Jahren gekauft. Am Fenster stehend, glitt Tibor, wie über eine Klaviatur, über die Reihe seiner weißen und schwarzen Wiener Jahre. An diesem Abend sollte sein Freund Andrej mit seiner Frau aus Belgrad anreisen. Andrej hatte Belgrad wegen des Kriegs in Jugoslawien verlassen und arbeitete schon seit einem Jahr in Wien, anfangs schwarz bei Tibor, später fand er mit seiner Hilfe eine schlecht bezahlte Arbeit in einer Gemeinschaftspraxis. Nach einem Jahr der Trennung zeigte sich Andrejs Frau Olga entschlossen, ebenfalls nach Wien zu kommen. Die Zuneigung Tibors zu Andrej war nicht nur eine freundschaftliche. Es war eine Zuneigung per Analogie. Er sah in Andrej sich selbst, zugegeben zu glücklicherer Zeit, damals, als sein Leben in Wien begonnen hatte. Er beneidete den sechs Jahre jüngeren Andrej einzig um Olgas Jahre. Sie war fast zwei Jahrzehnte jünger als Rita.

Abends um halb acht verließ Tibor die Wohnung, er fuhr mit dem Lift in die Garage, dann mit dem Auto in Richtung Hietzing. Er fuhr langsam und genoss das Lichtermeer einer Stadt, wie er es in seiner Jugend nicht gekannt hatte. Während er so mit seinem Wagen durch das abendliche Gewühl der Wiener Straßen glitt, war seine Anwesenheit nur eine feine Linie in der dichten Partitur.

Tausende Zeichen von kürzerer und längerer Dauer bildeten quirlend und lärmend die Symphonie dieser Stadt. Jede Notierung barg die feingliedrige Architektur der Komposition. Als Tibor den Ring verließ, beschleunigte er die Fahrt. In der Brust fühlte er einen wunderbaren Schwung, im Glauben, er lebe mit siebenundvierzig noch immer den Prolog ­seines Lebens.

Mit allen Sinnen nahm er das Pulsieren des Ameisenhaufens in sich auf. Er sah die Verschwörergesichter um den Tisch ver­sammelt, auf dem die Karten gelegt waren, sah die Menschen, wie sie, müde vom Arbeitstag, auf dem Heimweg in der Kneipe ein Bier tranken. Jemand widmete sich hinter den Vorhängen seinem Tagebuch, jemand der Liebe. Eine Ver­gan­genheit gibt es nicht, dachte Tibor. Nur eine Kette von Ereignissen, die kein Ende nehmen, Mückenschwärme in der Dämmerung über dem Wasser.

5.

Er entstieg dem schwülen Juninachmittag in der Uniform des Stationsvorstehers und verließ langsamen Schritts den Schatten des Bahnhofgebäudes von Kelebia. Als er sich dem Bahnsteig näherte, erkannte Olga den schmalen Schnurrbart auf dem länglichen, faltendurchzogenen Gesicht. Zwei rahmenlose, kreisrunde Gläser wiederholten die Brillenform, die ein obligatorisches Requisit der von ihr geliebten Schriftsteller waren. So eine Brille trug Fernando, wenn er am Schreibpult stand und in seinen Versen der Vielfalt seiner Identitäten einen Zufluchtsort schuf: Ricardo Reis, Alvaro de Campos, Alberto Caeiro ? Jeder von ihnen besaß sein unverkennbares Gift, und jedes leerte am Pult Fernando Pessoa bis auf den Grund. Mit dem Herannahen des Abends pflegte er seine Schritte auf die Rua dos Douradores zu lenken, um wie eine Spinne die Einsamen einzufangen, vor den Auslagen der kleinen Geschäfte, in den Cafes der Unterstadt, in den überfüllten Straßenbahnen zum Benfik.

Eine solche Brille vergrößerte auch Konstantins Welt, die durchglühten Straßen Alexandriens, die Stadt, deren Umkreis er niemals verlassen würde. Er tauchte immer tiefer ein in die dunklen Winkel, die der Abend in verführerischen Farben auflöste, fing das rätselhafte Lächeln der Jünglinge auf, deren Teint seine Brust schwellen ließ. Als Gegengabe schuf er ihnen in seinen Versen ein unvergängliches Grab. Der Einsame mit dem kaiserlichen Namen Konstantin bewegte sich wie ein Schatten, und gleichgültig gegenüber Ehre und Ruhm, schliff er Verse, die dauerhafter waren als die Paläste seiner Heimatstadt.

Ebensolche Brillengläser besaß auch Pavle auf der Fotografie mit der Gymnasiastenmütze, vom Ende des Krieges. Vierzig Jahre später werden auf der Terrasse des Restaurants in Starnberg die dunklen Gläser einer Sonnenbrille das Zucken seiner Augenlider verbergen, während Olga aus dem Gedächtnis die Buchtitel ihrer Bibliothek zitiert: Handbuch für Magier, Die Geheimnisse der Pyramiden, Das Bildnis des Dorian Gray, Der Reisende vom Bahnhof Astapovo, Die Chronik meines Lebens ?

Eine dickleibige Frau zog einen Wagen über den Bahnsteig und bot den Reisenden gekühltes Bier und Säfte an. Als sie Olgas Fenster erreichte, blieb sie stehen, um dem Mann und der Frau, deren Aussehen sich von dem der gewöhnlichen Reisenden im Avala unterschied, einen prüfenden Blick zu schen­ken. Dann wankte sie weiter den Bahnsteig entlang.

Der Stationsvorsteher begutachtete die Komposition oran­ge­farbener Waggons. Ein kurzer Pfiff blieb in Olgas Ohr ­zu­rück, als sich der Zug bereits ruckend aus dem Bahnhof löste. Aus ihrem Gesichtskreis verschwanden die ungarischen Zöll­ner, die Frau mit ihrem Wagen, die verödete Veranda des Bahnhofsgebäudes von Kelebia, nur das längliche Gesicht des Stationsvorstehers hing noch für eine Weile über dem grauen, ausgedörrten Gras.

Sie waren allein im Abteil. Andrej las in einem Lehrbuch und wiederholte flüsternd die markierten Stellen.

Die Gestalt des Stationsvorstehers lenkte Olgas Gedanken auf den Büchervorrat, den sie mitgenommen hatte. Mit dem Verlassen Belgrads war das Gleichgewicht ihrer Bibliothek empfindlich gestört worden. Auf dem Grund zweier großer Koffer reisten Manuskripte, Wörterbücher und Notizen. Wäh­rend sie durch das Waggonfenster auf die ungarische Tiefebene sah, nahm sie Abschied von den Räumen ihres Arbeitszimmers. Sie bezwang die Monotonie der Fahrt, indem sie in Gedanken die Buchtitel aufreihte, wie sie in den Regalen gestanden hatten.

Als die Dämmerung einsetzte, näherte sich Olga der Stadt, in der vor langer Zeit Onkel Pavle gelebt hatte. Sie fuhr mitten hinein in die Tiefe jenes einsilbigen Worts, das ihr seit der Kindheit im Ohr klang, das geheimnisvoll widerhallte und sie jetzt mit der Kraft eines Magnets in einen Strudel zog, als sei ihr diese Stadt seit jenem Augenblick vorbestimmt, in dem sie ihren Namen aus dem Mund der Mutter vernommen hatte.

Nach einem Jahr der Trennung warf sie auch noch den letzten Ballast ab und befreite ihren Ballon von den Fesseln der Erde. Hinter ihr blieb mit Stapeln von Büchern und klaren, vom Schirm der Tischlampe gezogenen Konturen ihr Zimmer zurück. Die Zeit des Atemholens in ihrer Ehe war vorbei.

Als Andrej vor mehr als zwei Jahren von der Möglichkeit sprach, nach Wien umzusiedeln, da er die lange Belgrader Dämmerung voraussah, hatte Olga jeden Gedanken daran ausgeschlagen, gerade in dieser Stadt das Abenteuer des Exils zu beginnen. Wie aus einem Brunnen stiegen die Szenerien aus Pavles Erzählungen auf. Doch die immer hoffnungslosere Situation in Belgrad hatte Olgas Widerstand gebrochen. Missverständnisse an ihrem Arbeitsplatz in der Zentralbibliothek drängten sie an das Ufer, an dem Andrej bereits eine neue Existenz aufbaute. Da man nach österreichischem Recht für eine zahnärztliche Privatpraxis zusätzlich ein abgeschlossenes Studium der Allgemeinmedizin benötigte - in Österreich ist die Stomatologie nur eine Spezialdisziplin der Medizin -, wurde Andrej mit vierzig Jahren wieder Student.

Das Jahr der Trennung war für beide ein wichtiges Experiment. Die stillschweigende Entzweiung, auf der Olga insistierte, im Glauben, ihre Ehe habe sich einfach verbraucht, hatte sich bei jeder Begegnung in Belgrad oder Wien in Eruptionen von Zärtlichkeit und Leidenschaft aufgelöst.

Andrej legte sein Buch zur Seite, als der Zug in Budapest einfuhr. Das abendliche Lichtermeer der ungarischen Hauptstadt zog seine Blicke an. Durch ihre Straßen glitten gelbe Trams.

Als sie unter dem gläsernen Dach des Bahnhofs Keleti einfuhren, fragte Andrej, ob Olga wisse, wie man die Lichter auf den Start- und Landebahnen der Flughäfen nennt.

Olga schüttelte den Kopf.

"Lichter der Berührung", sagte Andrej.


Mit freundlicher Genehmigung des Ullstein-Verlages

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