Vorgeblättert

Kangni Alem: Cola Cola Jazz, Teil 1

08.03.2004.
Kapitel 11: Heloise & Parisette: Ruppiges Theater
(Seiten 187 - 208)

Am Eingang zum Restaurant drängten sich die Leute. Stau. Eine lange Reihe Liebhaber von Fleisch- und Wurstwaren, gegrillten Innereien und mariniertem Schweinefleisch, in großen, dampfenden Töpfen. Die Dame Mado waltete im Freien ihres Amtes, mit dem Rücken an die Umzäunung des Maquis* gelehnt, eine geblümte Schürze mit roter Borte, ein bisschen Spucke - nicht schlimm, so schafft sie sich seit fast zehn Jahren eine feste Kundschaft - und immer das auf die Dauer etwas einfältig gewordene breite Lächeln, das sie wie eine Balletttänzerin auf den Lippen trug. Um uns herum stopften die Leute sich den Bauch voll. Das Fleisch, zart, heiß und fast kross, dazu ein helles Bier mit sahnigem Schaum, alles verschwand tief, abgrundtief in ihren Eingeweiden und entzog sich somit den prüfenden Blicken der Ernährungswissenschaftler des Welternährungsprogramms, die der Meinung waren, dass es eben diesem Fleisch an Proteinen mangelte und dass es alles erdenklich Schlechte einschließlich gefährlicher Mikroben enthielt.
"Die sind selbst die Schweinigel. Iss nur, Schwester, das ist mal etwas anderes als die Nahrung der Weißen!"
Mit ihren Fingern, die feingliedrig und lang waren, fast wie die Finger eines Mannequins, rollte Parisette Kügelchen aus Maniokmehl. Das heiße Fleisch verbrannte mir die Kehle. Unser Nachbar verschlang seine Portion wie ein ausgehungerter Maquisard. Vor sich auf den Tisch hatte er ein Transistorradio gestellt. Radio TiBrava sendete die Nachrichten aus dem Inland. Nichts von Interesse, nicht einmal eine kleine Syphilis Yamatokes für den hohlen Zahn. Also wirklich, es war ein Land mit einem todlangweiligen Rundfunk!
Zu meiner großen Enttäuschung kam Sosthene nicht zu unserer Verabredung. Schade, ich hätte ihn gern noch einmal wiedergesehen.
Nach dem Essen haben wir einen Spaziergang durch die Straßen der Unterstadt gemacht. Die Leute, an denen wir vorbeischlenderten, hörten nicht auf, mich anzustarren, mich anzulächeln, als wäre ich jemand aus ihrer Bekanntschaft, eine weit entfernte Verwandte, die zu ihnen gekommen war, um ihrer Eitelkeit noch gerade rechtzeitig neuen Glanz zu verleihen. Eine Händlerin, bei der wir uns mit Bananen versorgten, wollte mir einen Kapaun als Willkommensgeschenk überreichen. Womit hatte ich diese Großzügigkeit verdient? Mit meiner beiläufigen Bemerkung (wenigstens glaubte ich das) über die schönen Federn des Viehs. Sie sind zu gutmütig, die Leute hier. Von einer Freundlichkeit, dass es dir den Atem verschlägt, dass du es nicht wagst, nach dem Weg zu fragen: Sie bieten dir ihre Wohnstätten und Ehemänner an, nur um sich dafür zu entschuldigen, dass sie die Auskunft nicht geben können, die du von ihnen erbittest.
Dort, wo die Hauptverkehrstraße der Stadt einen Bogen macht - dieselbe, die zum Fluss hinabführt und die, an ihrer rechten und linken Seite, in so bunt gemischter Reihenfolge wie nur möglich staatliche Behörden, ein paar libanesische Geschäfte sowie die verstaubten Räumlichkeiten der Gendarmerie beherbergt -, dort stießen wir unverhofft auf Sam das Mirakel. Er saß auf der Terrasse von "Zone Vier". So hieß, nach meinem Geschmack etwas zu mafiamäßig, eine ganz normale Pizzeria, die von einem französischen Paar betrieben wurde, das aus der Bocage Vendee stammte. Dies zumindest meine Vermutung.
"Sam, was machst du hier?"
Der arme Sam. Er saß in der prallen Sonne wie ein ungezogenes Kind, das man in die Ecke gestellt hatte; vor ihm eine aufgetaute Pizza, hastig in der Mikrowelle aufgewärmt. Ein Horror. Das Tomatenmark war furztrocken und der Teig hart wie Leder, genau wie die Zwiebelringe und der Mozzarella. Und als Krönung obendrauf noch zwei verschrumpelte Oliven, die wie Eselsköttel aussahen. Parisette zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm.
"Mein armer Sam, was machst du hier? Und wo ist Sosthene?"
Sam deutete mit dem Kopf ins Innere der Pizzeria. In einer Ecke des klimatisierten Raums sahen wir einen bestens gelaunten Sosthene mit Monsieur François am Tisch sitzen. Sie widmeten sich dem Verzehr einer mit Hummer- und Avocadostücken verzierten Salatplatte.
"Es ist doch wohl nicht möglich", fauchte Parisette. "Sie haben gewagt, dir das anzutun? Aber das ist Apartheid. Das kann man nicht einfach so hinnehmen!"
Was dann passierte, darüber zerriss man sich noch Monate später die Mäuler in der kleinen französischen Gemeinschaft, die untätig in dem Kaff herumsaß und, wie es schien, Anstoß daran nahm, dass eine Negerin die Frechheit besessen hatte, einen der Ihren anzugreifen, selbst wenn viele insgeheim keine übermäßige Sympathie für besagten Monsieur François hegten, den Intriganten, Rüpel, Spezialisten für Judasküsse und was weiß ich noch alles. Meine Schwester kannte Monsieur François nur aus meinen Erzählungen. Was Sosthene anging, so hatte sie Zeit gehabt, sich ein Bild von ihm zu machen. Nun sah es so aus, als bestätigte sich ausgerechnet ihre erste Intuition. Und wie sie mir später erklärte, hatte sie vor allem sein doppeltes Spiel empört, weniger die Hautfarbe und der gesellschaftliche Status seines weißen Liebhabers.
Noch in der gleichen Sekunde, in der wir die garstige Tat entdeckten, holte Parisette zu der einzig angemessenen Antwort aus. Sie ergriff das Messer, das auf dem Tisch lag, schnitt die Pizza in zwei gleiche Teile und warf sie quer durch den Raum hinüber zu den beiden Turteltäuberichen. Und päng! Und platsch! Eine Pizzahälfte Sosthene in die Schnauze und die andere Tata Yoyo aufs Maul! Ehe sie noch begriffen hatten, was auf sie zugeflogen kam. Ich schrie jedes Mal "yes!" Die zu Hilfe eilende Wirtin sah sich seitens Parisette, die fuchsteufelswild war, der Gefahr einer gebrochenen Magenwand ausgesetzt. Sie trat also den Rückzug an und holte ihren Gefährten, einen Kraftprotz, der Karatebewegungen ins Leere simulierte, mehr um seine Kunden zu beruhigen, als meine gefährliche Schwester das Fürchten zu lehren. Wie ein Senator, gemessenen Schritts verließ sie das Lokal und schleuderte das Messer auf den Bürgersteig. Dann hielt sie ein Motorradtaxi an, das gerade vorbeikam. Wir schwangen uns zu zweit auf die Maschine, und ausgelassen wie zwei freche Gören sind wir losgefahren zurück nach Maccarthy Hill.
                                                        *
Als wir an jenem Abend bei Harry O. eintrafen, lief die Fete bereits auf vollen Touren. Wir passierten das Eingangstor und gelangten durch einen langen Gang, der in einen rautenförmigen, gänzlich mit Rasen bewachsenen Hof mündete, in das Innere der Residenz. Auf eine Pappe, die an der Wand der Eingangsschleuse hing, hatte eine geschickte Hand "Vorsicht, frisch gestrichen" gemalt.
Ein sportlicher Vierzigjähriger, der sich in einen beige-grauen Anzug gezwängt hatte, der Herr des Hauses, sowie seine Ehegattin, eine junge Frau im Chanelkostüm, mit ausladendem Busen und ausgeprägten Hüften, begrüßten die Gäste am Ende des Korridors.
"Willkommen, willkommen, seien Sie willkommen! Danke, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind", sprach uns die Frau an.
"Treten Sie ein, treten Sie ein!", forderte uns der Ehemann auf, bat dann aber einen jungen Mann, er möge sich um uns kümmern. "Ich leiste Ihnen gleich Gesellschaft. Bring die jungen Damen herein, ich komme sofort."
Der junge Mann trat zu uns. Ungefähr dreißig Jahr alt, sehr helle Haut, erinnerte er mich (die Dreadlocks allerdings weniger) an den Albino bei der roten Ampel, den ich dabei beobachtet hatte, wie er seine geheimnisvollen Schutzverträge meistbietend versteigerte, an eben dem Abend, als ich in TiBrava angekommen war. Er bedeutete uns, ihm zu folgen, und führte uns an einen Tisch, der etwas abseits von der Mehrzahl der Gäste stand. Dort saßen bereits drei Paare. Die Männer sahen aus wie Handelsvertreter, die nach einem harten Tag mit lauter Gewaltmärschen am Ende ihrer Kräfte waren, während ihre Begleiterinnen - undurchschaubare Geishas, die in bunten Bubus steckten - uns aus den Augenwinkeln beobachteten und unser Eindringen in ihren intimen Kreis offenbar entschieden missbilligten. Einer der Vertreter, ein pausbäckiger, feister Mann, jonglierte dauernd mit seinen drei Handys herum, die er ostentativ vor sich auf den Tisch gelegt hatte, als erwartete er jede Sekunde den Anruf, der den Krieg in Liberia ein für alle Mal beendete und die Flüchtlinge von Tewu House in ihre Heimat zurückschickte.
Etwas von uns entfernt standen oder saßen Gäste in Grüppchen unter den Bäumen und lachten aus vollem Halse. Ein merkwürdiges Bild. Die Männer rauchten, gingen gut gelaunt von einer Runde zur anderen und begrüßten einander. Die Frauen hingegen zierten sich in ihren Sesseln. Die Gläser in der Hand, saßen sie steif wie Porzellanfiguren da, wie kostbare Museumsstücke, wie die Sabinerinnen antiker Zeiten, die auf eine Entführung warten. An den Bäumen hingen fluoreszierende Glühbirnen und ließen das Herumgeprotze mit Klunkern und übertriebenem Make-up noch unwirklicher erscheinen. Alle teuren Markenschuhe: Arche, Weston, Church, Sebago, Bowen, Lobb, Fenestrier, Paraboot; ebenso Armani-Anzüge der neuesten Kollektion, neueste ? o, la la, die Blindgänger! Die gottverdammten Blindgänger!
Auffällig war die Diskrepanz zwischen der Leichtigkeit, mit welcher die Männer plauderten, und dem Schweigen, der geradezu empörenden Zurückhaltung ihrer Begleiterinnen oder Mätressen. Kleinbürger mit bourgeoisen Tendenzen, ausgesprochen mittelständische Intelligenz, Neureiche, denen Luxus mehr am Herzen lag als Waffen für den Widerstand. Und der Machismo im Festgewand. So sind hier die Leute, heißt es im Chanson von Jacques Brel, wenn sie schrecklich viel reden, wollen sie sich schrecklich wichtig machen. Bluff, Gelehrsamkeit im Sonderangebot. Das zahlt sich aus, das zahlt sich aus. Die erfolglosen Studienjahre an der Uni, in den Pausen Sandwichs mit Ölsardinen hinunterwürgen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist, dann die Siesta im heißen Audimax, das sich einen Schlafsaal verwandelt, wo Radau, Fürze und die von den Achselhöhlen aufsteigenden Gerüche einen schalen Nachgeschmack von Inkonsequenz hinterlassen. All das formt die Jugend, kann sie aber auch in die Orientierungslosigkeit stoßen, oder eine unendliche Bedeutungslosigkeit, die sich für immer auf ihre Seele legt, bringt sie dabei um den Verstand.
"Oha, was ist das hier für ein Zirkus?", flüsterte ich Parisette ins Ohr.     
"Weitaus komischer als ein Zirkus", antwortete sie. "Willkommen bei den Intelligenzbestien TiBravas. Bei den eingebildeten Typen, die sich für den Nabel der Welt halten."
"Ja, aber die Welt hat keinen Nabel, wie Che sagte."
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* so heißen in Westafrika kleine Restaurants oder auch Straßenkneipen

Teil 2
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