Vorgeblättert

Leseprobe zu Claudia Pineiro: Ein Kommunist in Unterhosen. Teil 3

30.06.2014.
Die Tage am Schwimmbecken verliefen immer gleich, es war ganz einfach: Nach dem Mittagessen fanden wir uns im Club ein, duschten, zogen Badekleidung an und versammelten uns dann am Beckenrand, in Erwartung von Poldos Pfeifsignal, das allen, die zur Gruppe der "Kleinen" gehörten - die wir mit dem vierzehnten Geburtstag triumphierend hinter uns ließen -, das Recht erteilte, sich ins Wasser zu begeben. Was Letzteres anging, war dies mein am wenigsten schöner Sommer: Viele meiner Freunde waren inzwischen vierzehn geworden, ich dagegen musste noch bis zum Herbst darauf warten. Der Zufall, der dafür gesorgt hatte, dass manche von uns vor, andere aber erst nach dem Sommer zur Welt gekommen waren, hatte somit eine Trennlinie gezogen. Unverkennbar zeigte sie an, dass wir nicht alle gleich waren, wovon ich bis dahin nichts gemerkt hatte. Von den Ansichten meines Vaters einmal abgesehen. Die ließen sich allerdings mühelos durch Schweigen überspielen, ein Schweigen, das jedoch, anders als bei meinem Vater, nicht durch Ärger - worüber auch immer - ausgelöst wurde, sondern durch das beschämende Gefühl, anders zu sein, nicht dazuzugehören. Dieses Schweigen half mir, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, wenigstens in der Hinsicht gebe es gar keine Trennlinie, und es spiele keine Rolle, dass man bei mir zu Hause die Welt anders sah als bei meinen Freunden. Im Gegenteil, das Einzige, was uns unterschied, war ebendiese Trennung am Schwimmbecken zwischen denen, die bereits vierzehn waren, und denen, die es noch nicht so weit gebracht hatten.
     Und da ich damals noch dreizehn war, durfte ich also auch nur bis halb sechs im Wasser bleiben. Um diese Uhrzeit ertönte erneut Poldos Pfeifsignal, woraufhin wir den "Beckenbereich", wie Poldo sich ausdrückte, umgehend zu verlassen hatten. Fast immer musste Poldo jedoch mehrmals in seine Pfeife blasen, und mindestens einmal lange und durchdringend, wenn er sich nicht sogar gezwungen sah, einem von uns vom Beckenrand aus quasi unmittelbar ins Gesicht zu pfeifen. Schließlich bewirkte sein Halb-sechs-Pfiff, dass jeder sich unverzüglich kopfüber ins Wasser stürzte, einen letzten Abschiedssprung vom Sprungbrett unternahm oder noch ein paar kräftige Schwimmzüge ausführte. Vielleicht zum ersten Mal erlebten wir die Zeitdabei als etwas, was es so lange wie möglich auszukosten galt, im Wissen, dass sie in jedem Fall zu kurz sein würde und schon im nächsten Augenblick unwiderruflich vorbei.
     Nach dem Baden versammelten wir uns auf dem Basketballplatz, um uns trocknen zu lassen. Die Jungen setzten sich in den Schatten der Seitenwand. Wir Mädchen dagegen legten uns in die Sonne. Bäuchlings, das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt, den Kopf in Richtung der Mitte des Kreises, den wir bildeten, sodass wir uns ansehen und uns unterhalten konnten, erinnerten unsere lang hingestreckten feuchten Körper an die Blütenblätter einer Blume. Die Badekappen behielten wir an, es sei denn, es war so unerträglich heiß, dass wir sie brauchten, um Wasser bis zu den grauen Platten zu befördern, die wir damit bespritzten, weil wir uns sonst unmöglich darauf hätten niederlassen können. Davon abgesehen, setzten wir die Kappen aber immer erst ab, wenn wir gingen. Nicht einmal das Halteband lösten wir, was zur Folge hatte, dass sich während des ganzen Sommers von Ohr zu Ohr ein heller Streifen über unsere braun gebrannten Hälse zog. Sosehr sich unsere Köpfe unter den Kappen auch erhitzten - es war immer noch besser, als sich den Jungen mit verstrubbelten Haaren zu zeigen. Es gab zwei Sorten von Kappen, die aus Latex oder die aus Gummi. Die meisten meiner Freundinnen hatten Latex-Kappen. Meine Mutter kaufte jedoch immer die aus Gummi, weil sie länger hielten und billiger waren. Um Latex-Kappen länger benutzen zu können, musste man sie außerdem nach jedem Badetag sorgfältig trocknen lassen und einpudern. Trotzdem wurden sie schon bald klebrig. Einmal legte meine Tante mir zu Weihnachten eine Badekappe ohne Halteband, dafür aber mit bunten Plastikblumen verziert, unter den Baum. "Ein ausländisches Modell", erklärte sie. In dem darauffolgenden Sommer ging ich sorgsamer mit meiner Gummikappe um denn je, mir war klar, dass meine Mutter, falls die Kappe kaputtging, sagen würde, ich solle doch die von meiner Tante aufsetzen. Und ich wusste, dass ich es nicht ertragen könnte, mich mit einer so himmelschreiend anderen Mütze den Blicken meiner Freundinnen auszusetzen.
     Eines Nachmittags, nachdem wie üblich um halb sechs der Schlusspfiff ertönt war, lagen wir wieder einmal auf den Platten des Sportplatzes und unterhielten uns. Irgendwann sagte meine Freundin Mónica: "Das mit dem Denkmal habt ihr doch mitbekommen, oder? Sieht so aus, als ob es klappen könnte." Alle außer mir wussten, wovon sie sprach. "Wieso, waren deine Eltern nicht bei dem Treffen?", fragten die anderen. "Ich weiß nicht", sagte ich, obwohl ich mir sicher war, dass sie nicht daran teilgenommen hatten - sonst hätte ich ja davon gewusst. "Es geht darum, dass unser Fahnendenkmal als Erstes da war", sagte Mónica, "aber dass wir das wissen, nützt nichts, also haben sich ein paar Leute von hier zusammengetan. Sie wollen durchsetzen, dass das auch anerkannt wird." "Von wem denn?", fragte ich. "Von allen", sagte Mónica, "es ist einfach ungerecht, dass immer nur vom Fahnendenkmal von Rosario die Rede ist und nie von unserem, und im Fernsehen sieht man auch jedes Mal bloß die Militärparade vor dem Denkmal von Rosario und nie die von hier, obwohl unser Denkmal viel näher an der Hauptstadt ist und außerdem schon früher da war." Meine Freundinnen nickten, und eine von ihnen, Gachi Bengolea - ihr Vater war nicht bloß der Vorsitzende des Rotary Clubs, sondern stand auch dem gerade erst gegründeten Burzacoer "Fahnendenkmal-Komitee" vor -, sagte, vor allem wolle man erreichen, dass die argentinische Präsidentin am 20. Juni zur Denkmalsfeier zu uns komme und nicht nach Rosario. "Nicht dass wir uns so viel aus Isabelita Perón machen würden - aber wenns kein Brot gibt, muss man eben Kuchen essen, wie wir bei uns zu Hause sagen", erklärte Gachi abschließend. Woraufhin ich überlegte, wie dieser Vergleich wohl bei uns zu Hause ankommen würde.
     Beim Abendessen fragte ich meine Eltern, ob sie schon von diesen Denkmals-Treffen gehört hätten. Meine Mutter wusste Bescheid, mein Vater dagegen nicht. "Dich hätte das sowieso nicht interessiert, deshalb habe ich dir auch nichts davon erzählt", erklärte meine Mutter. "Neulich hat jedenfalls Natalio Bengolea angerufen und gefragt, ob wir Lust haben, bei der Sache mitzumachen." "Als ob sie sonst nichts zu tun hätten", sagte mein Vater. "Sind die etwa noch nicht ausgelastet mit ihrem Rotary Club?" Ich senkte den Blick auf meinen Teller, mir war klar, dass ich auch in diesem Fall, wo es um die Anerkennung des Fahnendenkmals von Burzaco ging, niemandem außerhalb unserer eigenen vier Wände würde erzählen können, was mein Vater von der Sache hielt; schließlich war es nicht zum ersten Mal das genaue Gegenteil dessen, was die Eltern meiner Freundinnen darüber dachten. Es sei denn, ich war nicht die Einzige, die etwas verschwieg - aber wie hätte ich das herausfinden sollen? "Und was soll ich sagen, wenn die anderen fragen, warum
ihr nicht mitmacht?", wagte ich schließlich zu sagen, doch ohne aufzusehen. "Sag, dass ich nicht mitmache, weil das nicht meine Fahne ist", antwortete mein Vater. Womit er in gewisser Hinsicht recht hatte, schließlich war er in Spanien geboren und hatte, obwohl er seit seinem vierten Lebensjahr hier lebte, nie die argentinische Staatsbürgerschaft angenommen. "Und sag auch, dass sie alle offensichtlich zu viel Zeit haben - so viel Zeit hätte ich auch gern", fügte er hinzu, obwohl ihm so klar war wie mir, dass ich diesen Teil der Begründung meinen Freundinnen gegenüber niemals wiederholen würde.
     Es blieb also bei dieser Ausrede: Mein Vater war kein argentinischer Staatsbürger. Ich bediente mich ihrer in dem Sommer, als es um seine Abwesenheit bei den Treffen des Fahnendenkmalkomitees ging. Aber auch später, als die anderen mich nach seinen politischen Ansichten befragten: "Mein Vater geht nicht wählen, er ist Spanier", sagte ich dann. Allerdings wurde damals, und noch für ziemlich lange Zeit, ohnehin nicht gewählt.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages
(Copyright Unionsverlag Zürich)


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