Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Die Belasteten. Teil 2

28.02.2013.
Henry K. und Louise S. - Tote ohne Namen

Es reicht nicht, auf der einen Seite die vielen Opfer zu beklagen und auf der anderen rund 500 Nazitäter als gewissenlose Ideologen, Bösewichte oder Mörder im weißen Kittel zu verteufeln. Auf Dauer bedeutsam, vielleicht lehrreich bleibt die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, nach jener Vielzahl von Menschen, die zwischen den unmittelbaren Mördern und den Ermordeten standen. Deshalb entschied ich mich für den mehrdeutigen Buchtitel »Die Belasteten«. Das Wort deutet nicht auf die Mörder, sondern auf die Ermordeten. Es führt zum »erblich« oder »psychisch Belasteten« und zu dessen »belasteter Familie«; es enthält Anklänge an Begriffe wie »Lästige«, »Ballastexistenzen« und »Soziallasten «, aber auch an Menschen, die jemandem »zur Last fallen« oder - heutzutage überwiegend umgekehrt formuliert - »niemandem zur Last fallen möchten«. Der Titel »Die Belasteten« umfasst die Ermordeten, aber auch die »Lebenslast« der Angehörigen und das damit verschwisterte Bedürfnis nach »Entlastung«, nach individueller und kollektiver »Befreiung von einer Last«.

Aus dem Umkreis meiner Familie weiß ich von zwei gegensätzlichen Geschichten, die mit den Euthanasiemorden zusammenhängen. Die eine handelt von Martha Ebding, geboren 1906, gestorben 1957 in den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Sie litt an schweren, ihr Wesen verändernden epileptischen Anfällen. Ihren Nichten erschien sie als »schmale, graugekleidete, düstere, unheimliche Gestalt«. Sie war in den Korker Anstalten untergebracht. Die Schwestern dort warnten die Verwandten rechtzeitig vor den Abtransporten, und ihr Bruder, Pfarrer Friedrich Ebding, reagierte sofort, nahm sie aus der Anstalt und brachte sie später zurück. Ende 1944 schrieb er: »Unsere liebe Martha konnten wir am 22. September 1944 nach Bethel bei Bielefeld bringen. Bethel ist einzig, und wir waren immer wieder froh, Martha so gut untergebracht zu wissen …« Des ungeachtet blieb das Thema Tante Martha nach der familiären Überlieferung »stets tabu«.

Die zweite Geschichte erzählte mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod 2008. Mit aller Absicht kam sie auf ihre verstorbene Freundin Annemarie zu sprechen. Diese habe seinerzeit ihr behindertes Baby in eine Euthanasieanstalt gegeben, auf Druck ihres Ehemanns, und immer sehr darunter gelitten. Ich weiß nicht, ob das Kind ein Mädchen oder Junge war. Es hieß mit Nachnamen Kröcher. Bislang sind meine Nachforschungen gescheitert.

Beide, Tante Martha, die Schwester eines angeheirateten Onkels, und das Kind Kröcher fallen nicht in die Kategorie engere Verwandtschaft. Wählt man nur letzteren Bezugspunkt, dann ist zumindest jeder achte heutige Deutsche oder Österreicher, der älter als 25 ist und dessen familiäre Wurzeln im ehemaligen Reichsgebiet bis 1900 zurückreichen, mit einem Menschen direkt verwandt, der zwischen 1939 und 1945 als »nutzloser Esser« ermordet wurde. Welche - konservativ gewählten - Faktoren führen zu einem solchen Ergebnis? Die 200000 Opfer der Euthanasie starben zwischen 1940 und 1945; sie waren im Durchschnitt 45 Jahre alt. Das heißt, sie waren um 1897 geboren worden. Mithin gehört ein 25-jähriger Nachkomme im Jahr 2012 der vierten Generation an. Aus dessen Sicht wurde ein Urgroßverwandter ermordet.

Nehmen wir ein konstruiertes Beispiel. Ich nenne den fiktiven 1897 geborenen Vorfahren Wilhelm und schreibe diesem drei Geschwister zu. Alle vier bilden die erste Generation. Diese Generation brachte es auf durchschnittlich 2,1 Kinder. Der unschöne sta tistische Fachbegriff heißt Kohortenfertilität. Demnach besteht die zweite, durchschnittlich 1927 geborene Generation aus 8,4 Personen. Deren durchschnittliche Nachkommenschaft betrug ebenfalls 2,1, also 18 weitere Nachkommen von Wilhelm. Die durchschnittliche Nachkommenschaft der dritten, um 1957 geborenen Generation sank auf 1,4 Kinder. Um1987 wurden demnach 25 Urenkel, Urgroßnichten und -neffen Wilhelms geboren. Ich unterstelle, dass die Angehörigen der vierten und dritten Generationen noch leben, desgleichen noch zwei aus der zweiten, um 1927 geborenen Generation, und dass die 25-Jährigen der vierten Generation im Jahr 2012 noch keine Kinder hatten. Zu dieser Zeit lebten demnach 45 direkte Nachkommen des Euthanasieopfers Wilhelm. Geht man von 200000 Menschen aus, die diesen Morden zum Opfer fielen, dann sind diese mit rund zehn Millionen heute lebenden (nicht später zugewanderten) Deutschen (und Österreichern) in gerader Linie verwandt.

Das Ergebnis der vorsichtig kalkulierten Modellrechnung vervielfachte sich sofort, würde man nicht nur Wilhelms drei Geschwister, sondern auch noch dessen um 1896 gleichfalls geborenen zehn Cousinen und Cousins einbeziehen und, wie im Fall der ausnahmsweise geretteten Tante Martha, die angeheirateten Familienmitglieder. Bis heute sprechen die wenigsten Familien über die verschwundenen Verwandten, oft sind sie schon lange vergessen. Inzwischen geben viele psychiatrische Kliniken Auskünfte aus ihren alten Akten, andere Informationen sind in öffentlichen Archiven zugänglich. Dort, wo einst Gaskammern standen, erstellen und ergänzen die Mitarbeiter der Gedenkstätten Hadamar, Bernburg, Pirna-Sonnenstein, Grafeneck und Hartheim Datenbanken mit den Namen der Toten. Solche Namen werden bereits in Büchern auch für einzelne, oft katholische Anstalten sorgfältig verzeichnet. Stellvertretend sei die beeindruckende Dokumentation von Herbert Immenkötter genannt: »Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisierung und Euthanasie im Dominikus- Ringeisen-Werk Ursberg«. Auch auf der Internetseite www. gedenkstaettesteinhof.at findet man die Namen und Lebensdaten von 789 Kindern, die zwischen 1941 und 1945 in der Abteilung Am Spiegelgrund der Wiener psychiatrischen Klinik Am Steinhof ermordet wurden, darunter auch Kinder aus Deutschland.

Zu einer derart schlichten, jedoch klaren Form, den Opfern Respekt und Anerkennung zu zollen, konnte sich der Präsident des deutschen Bundesarchivs bis Ende 2012 noch nicht entschließen. Die Namen und Geburtsdaten von 30076 Menschen, die in der ersten Phase der Morde, also bis August 1941, in Gaskammern starben, kann man auf der Webseite www.iaapa.org.il/46024/Claims# german nachsehen. (Vorsicht, die alphabetische Reihenfolge wird nicht immer exakt eingehalten.) Die Krankenakten zu den in dieser Datei aufgeführten Namen verwahrt das Bundesarchiv im Bestand R 179. Wie eine Sprecherin des Archivs mitteilte, stellte Hagai Aviel aus Tel Aviv die Daten illegal ins Netz. Doch könne ein Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz, diese Daten zu entfernen, nicht umgesetzt werden, weil es kein Rechtshilfeabkommen mit Israel gebe. Der Staat Israel hat dafür viele gute Gründe. Auf der genannten Internetseite erläutert Aviel, warum er ein deutsches Gesetz wegen höherrangiger Rechtsgüter breche. (Dieselbe Erklärung auf Deutsch: www.psychiatrie-erfahrene.de / explanation.html.)

Ich empfehle, die Piraterie Aviels um ihrer Legitimität willen nachträglich zu legalisieren. Das heißt, die Daten der Toten offiziell ins Netz zu stellen und laufend zu ergänzen. Dann könnten interessierte Familien, Historiker und Heimatforscher Unterlagen und Fotos beisteuern, die ebenfalls mit der Datei zu verbinden wären. So würde mit der Zeit ein sich frei entwickelndes Denkmal für die Toten entstehen. Doch wahrt der Präsident des Bundesarchivs noch Zurückhaltung und teilt mit, die »kompletten persönlichen Angaben « der ermordeten Kranken könnten nur dann veröffentlicht werden, sofern die nächsten Verwandten zustimmten. Das zu erfragen sei jedoch verwaltungstechnisch unmöglich. Eine solche in Deutschland keinesfalls allgemeine Haltung zwingt zum Einspruch (...) Schließlich bleiben die Ermordeten Personen eigenen Rechts. Sie sind Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie wurden getötet, weil sie als »leere Menschenhülsen«, als »Wesen auf niedrigster tierischer Stufe« galten. Sie sollten möglichst spurlos verschwinden. Ihr Tod wurde von Standesbeamten mit falschen Angaben beurkundet, die Todesursache von Ärzten gefälscht. Es gilt, die Würde der am Ende nurmehr mit Nummern gezeichneten, vorsätzlich entpersönlichten, vergasten und verbrannten Menschen wiederherzustellen. Sie sollen nicht länger von Amts wegen totgeschwiegen werden. Dazu gehört zuallererst die öffentliche Nennung ihrer Namen. Das steht den Toten als individuelles Grundrecht zu, unabhängig davon, was ihre Nachfahren dazu meinen könnten.

Teil 3