Vorgeblättert

Leseprobe zu Jens Steiner: Carambole. Teil 3

08.07.2013.
Es war Renates Mutter. Oben auf dem Trottoir. Sie nestelte an dem blauen Leopardenfoulard auf ihren Schultern und schaute nervös umher, aber die drei Jungen auf Freysingers Wiese bemerkte sie nicht. Dann verschwand sie hinter einer Hausecke. Fred drehte sich auf den Rücken und sah in die Baumkrone hoch.
"Ich sag's euch. Bald ist es so weit."
"Was denn?", fragte Igor.
"Eines Tages! Nicht mehr lange."
"Wie, wo, was, Mann?"
"Vergiss es."
Igor und Manu schauten sich stumm an. Fred kraulte sich im Schritt.
"Na gut, kann ich euch vertrauen?"
Wieder Griff in den Schritt, Räuspern, Rotz hochziehen. Igor und Manu nickten.
"Ich werde sie entführen."
"Wen?", fragte Igor.
"Wen wohl?"
Igor und Manu schauten sich abermals an.
"Wa-warum?", piepste Manu.
"Weil …" Fred schaute um sich, Manu rückte näher an ihn heran. "Weil endlich etwas passieren muss."
"Warum?"
"Weil …" Fred senkte die Stimme, auch Igor rückte näher heran. "Weil es so nicht weitergeht. Mit Nichts-Passieren."
Langes Schweigen.
"Oder sieht sie etwa nicht wie ein Entführungsopfer aus?"
Fred und sein Gewalttheater. Tobende Scharmützel, Karambolagen und maskierte Henker rangelten ständig um die besten Plätze in seinem Hirn. Und doch schien es, als ob dieser Anschlag auf die Moral der Eltern eine neue Grenze überschritten hätte. Fred hatte eine Waffe gefunden, mit der er Angst und Schrecken verbreiten konnte. Jetzt fuchtelte er probeweise damit herum. Igor und Manu hielten die Luft an.
"Ein Versteck hab ich schon", raunte Fred, "Zeitungen habe ich auch gesammelt."
"Wa-warum Zeitungen?", fragte Manu.
"Für die Lösegeldforderung, du Idiot. Buchstaben ausschneiden."
"Ihre Eltern haben kein Geld", wandte Igor ein.
"Die betteln das schon zusammen."
Eine Stimme in Freds Rücken sagte: "Wer bettelt was zusammen?"
Sie blickten hoch.
"Oh, Schorsch, hallo", sagte Igor, "wir betteln, ich meine, wir reden von den Trikots fürs Fußballturnier. Wir brauchen, äh, ja, wir brauchen noch ein bisschen Geld dafür. Fred am meisten, weil er …"
"Schon gut, Jungs." Schorsch zwinkerte. "Und überhaupt, lasst euch gesagt sein: Betteln ist so übel nicht, sofern man die richtigen Gründe dafür hat. Ich habe vor vielen Jahren einen Sommer lang gebettelt. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht weit gekommen damit. Also habe ich umgesattelt auf das Ausräumen von Autos auf Parkplätzen. Derjenige am Bavellapass war der ergiebigste. Im Sommer Dutzende von Ausflüglern, Holländer, Schweizer, Deutsche und so weiter. Was schaut ihr so? Man muss eben über die Runden kommen. Später habe ich mit einem Freund Motorräder geklaut. Wir haben sie umgespritzt, die Seriennummer weggefeilt und auf der anderen Seite der Insel verkauft. Nun ja. Korsika ist klein, viel liegt da nicht drin. Später, das war in den Siebzigern, als ich längst ins Piemont ausgewandert war, gehörte ich zu einer Bande, die Tankstellen überfiel. Das war damals ein politisches Handwerk, müsst ihr wissen. Wir haben vor allem an unsere Bäuche gedacht und nicht schlecht von dem Handwerk gelebt. Eines Tages haben wir einen Manager entführt. Die Sache ging grausam schief, ich haute ab und verließ Italien für immer."
Als Schorsch das Wort "entführt" ausgesprochen hatte, war in Freds Halsröhre der Ansatz eines Adamsapfels pfeilschnell hochgehüpft. Jetzt pendelte er in kleinen Sprüngen hinauf und hinunter.
"Also nochmal", fuhr Schorsch fort, "durchkommen muss jeder irgendwie, das ist logisch. Mit Betteln kommt ihr nicht weit, aber schämen müsst ihr euch nicht dafür. Klar?"
"Ja. Klar."
"Und wenn's nicht reicht für das Trikot, geht ihr Kerls mal in Freysingers Schuppen und nehmt euch eine Säge oder ein paar Schraubzwingen. Der Freysinger braucht die nicht mehr. Und dann geht ihr zu Heinz, ihr wisst schon, und bietet sie ihm an. Er liebt altes Werkzeug. Ein Zehner springt da locker raus. Klar?"
"Ja. Klar."
Und schon zockelte Schorsch ab, auf zur Scheune, zu seinen Katzen. Eine leicht verbogene Gestalt mitten im leeren Dorfnachmittag, fremd wie ein Berber.
Hoch oben in der grün gesprenkelten Markise zwitscherte ein Vogel. Die drei Freunde reckten ihre Köpfe, und es war, als ob die mächtige Baumkrone ihr Denken für einen Augenblick vereinte: Gemeinsam sahen sie zwei korsische Jungbanditen auf einem Motorrad, tief in der Kurve liegend, im Hintergrund Karstfelsen und Sturzbach, sie sahen einen nadelgestreiften Geschäftsmann in einem Kellergewölbe, die randlose Brille schief auf der Nase, hinter ihm eine Reihe von zerknautschten Köpfen in Damenstrümpfen, sie sahen Schorsch, wie er eben noch vor ihnen gestanden hatte, seine Wildnis-Augen und die ganze Einsamkeit darin, und dann sahen sie Renate in ihrem grünen Top, das bei einem bestimmten Licht halb durchsichtig wurde, und sie dachten an alles, was Renate vor ihnen verborgen hielt, und das Leben, das einen großen Bogen um sie machte, und all diese Gedanken wirbelten in ihren Köpfen durcheinander, bis sie plötzlich nichts mehr sahen, nur noch einen gigantischen Windstoß spürten, der alles wegfegte, die Gegenwart und ihre Gesetze, die Wut und den Gram, und in ihren Bäuchen stieg eine Leichtigkeit hoch wie eine Luftblase, und sie schauten sich wortlos an. Drei kirschrote Köpfe, mit plötzlicher Sprachlosigkeit geschlagen.
Frau Becher und ihr vierbeiniger Knäuel tauchten an der Treppe auf, eine Elster tippelte um Freysingers Opel herum, auf dem Trottoir erschien Renates Mutter. Hurtig ging sie vorbei, und auch diesmal bemerkte sie die Jungen nicht. Die Elster flatterte davon, Frau Becher und Hund verloren sich im nahen Horizont.
Manu hob den Kopf. Am Straßenrand sah er das Leopardenfoulard von Renates Mutter liegen. Ein Windstoß stupste es an.
"Die Katzen", sagte er.
"Hä?", antwortete Fred.
"Wie viele sind es? Zehn, zwanzig? Und er füttert sie alle. Jeden Tag."
"Und?", sagte Fred.
Wo bekommt er das Futter? Er hat kein Geld."
"Jemand deckt ihn ein."
"Wer?", fragte Manu.
Fred formte sein Gesicht zu einem Fragezeichen. Igor pustete einen Löwenzahn in hundert winzige Schirme und blickte zum Himmel hoch.
"Hat jemand mal versucht, das herauszufinden?", fragte Manu.
Schweigen.
Über ihnen noch immer das Rauschen der Blätter und an der Treppe schon wieder Frau Becher mit Hund und auf der Straße Leute, die immerzu kamen und gingen. Die drei begannen, sich still zu knuffen. Niemand sah sie.

*

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlages
(Copyright Dörlemann Verlag)


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